Читать книгу Wenn Löwen weinen - Mick Schulz - Страница 5
Prolog
ОглавлениеFast eine Stunde hatte er diesmal gebraucht. Die Leuchtziffern seiner Armbanduhr zeigten drei Minuten vor halb fünf. Auf der Kurt-Schumacher-Straße begann sich der Verkehr zu regen, die ersten Sattelschlepper überquerten die Oker. Doch bis zu ihm war die Morgendämmerung noch nicht gedrungen. Schwarz wie im Höllenschlund war es hier unten. Selbst das schreiende Pink durchbrach nicht diese Dunkelheit, die ihn zwang, sich fast ausschließlich an seiner inneren Vorstellung zu orientieren. Dicht neben ihm standen die Farbdosen aufgereiht. Jede hatte ihren Platz, er fand sie blind und konnte sie mit ein paar Handgriffen verstauen, wenn Gefahr drohte.
Natürlich hatte er den Ort bei Tageslicht inspiziert, sogar mehrmals. Er wusste genau, wo er ansetzen musste, um die Wand Zug um Zug zu erobern, sein Thema unmissverständlich und unverwechselbar auf die Fläche zu bannen. Wie im Fieber arbeitete er. Er liebte den Geruch des Lacks aus den Sprühdosen, er stachelte ihn an, nicht weniger als die Erwartung auf die nächste Schlagzeile. Der Moment, wenn er am Morgen danach die Zeitung aufschlagen und lesen würde: »Straßenherz hat wieder zugeschlagen«. Das war mehr als ein Kribbeln, das war wie ein Orgasmus …
Rascheln ganz in der Nähe. Er hatte die Taschenlampe im Anschlag, für den äußersten Fall steckte auch eine Dose Pfefferspray in seiner Gesäßtasche. Hier unter der Brücke trieb sich allerhand Gesindel herum. Meistens waren es aber Ratten, Katzen und Füchse auf ihren nächtlichen Touren. Er vermied es, die Lampe zu benutzen, ein noch so kurzer Flash könnte ihn verraten. Sein Risiko war gestiegen. Seit geraumer Zeit hatte er das Gefühl, dass man ihm auf der Spur war, als schaute ihm jemand bei der Arbeit über die Schultern. Vielleicht waren es nur die Nerven. Vielleicht hielt er dem Druck nicht mehr stand. Wenn sie ihn aufspürten, dann wäre nicht nur das Geheimnis seiner Identität entzaubert, dann wäre er seinen gut dotierten Posten los und seine Zukunft ruiniert.
Das Rascheln drang aus den Sträuchern am Ufer der Oker zu ihm herüber, ein paar Schritte von ihm entfernt. Er hielt den Atem an, seine rechte Hand umschloss fest die Taschenlampe. Was folgte, war ein klägliches Piepsen, begleitet von einem leisen Knurren. Er starrte in die Finsternis, konnte nichts erkennen, aber offenbar war der nächtliche Beutezug eines Jägers erfolgreich ausgegangen.
Während über ihm dröhnend ein schwerer Sattelschlepper in Richtung Kennedy-Platz rollte, entspannte er. Der beißende Geruch von Urin stieg ihm wieder in die Nase, und erneut kroch ein Schauer über seinen Rücken. Doch er durfte sich nicht ablenken lassen. Er war noch nicht fertig, musste sich konzentrieren. Es fehlte nicht mehr viel, dann war dieses düstere Loch ein Kunstwerk. Er entschied sich für Rot, flammendes Rot brachte die klamme, stinkende Betonwand zum Glühen …
Ein Knacken im Unterholz, ganz nah. Ohne zu überlegen, schaltete er die Taschenlampe an. Der Lichtstrahl traf auf ein Gesicht. Er sah zwei große, lauernde Augen und griff sofort an seine Gesäßtasche. Wo war die Dose mit dem Pfefferspray?