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2. Das Herz der Straße

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Die Nacht hatte den August auf April heruntergekühlt. Das störte Hella nicht, tropische Hitze konnte sie ohnehin nicht ausstehen. Als sie am Dienstagmorgen um 8.28 Uhr im Kommissariat ihren Dienst antrat, störte sie etwas anderes: Es gab Arbeit, aber einer hatte sich bereits vor ihr bedient.

»Tom hatte gerade in der Gegend zu tun, als die Meldung einging, Hella, und da habe ich ihn losgeschickt, damit möglichst schnell jemand den Tatort sichert. Das soll keineswegs bedeuten, dass …«

Hella spürte, wie sich ihre Härchen auf den Unterarmen aufstellten. Sie war hier zwar neu, aber nicht erst seit gestern bei der Polizei.

»Tom hat die Lage im Griff, darauf kannst du dich verlassen. Ich sag ihm Bescheid, dass du gleich da bist.«

Sie mied es, Senge in die Augen zu sehen, nahm ihm stumm die Schlüssel zu ihrem Einsatzwagen aus der Hand. »Ich darf doch, oder wollen Sie mir zuerst noch das Ausparken beibringen?«, wollte sie fragen. Aber die Psychologin in ihrem Hinterkopf verhinderte das rechtzeitig. Außerdem sollte sie so schnell wie möglich los, um nicht noch mehr Zeit verstreichen zu lassen. Als Leitende Ermittlerin musste sie von Anfang an alle Fäden in der Hand halten.

Senge gab ihr nur wenige Fakten mit auf den Weg. Offenbar war ein Sprayer auf gewaltsame Weise zu Tode gekommen. Der Fundort der Leiche befand sich in der Weststadt. Eine Gegend mit langweiligen Mietskasernen, wie Hella von früher wusste. Häuserwände fand man dort allerdings genug. Nach weniger als fünfzehn Minuten stand sie vor einem der unzähligen vierstöckigen Bauten mit schmutzig grauer Fassade, der sich von den benachbarten nur durch die Hausnummer unterschied. Durch die ganze Siedlung zogen sich sonnenverbrannte Rasenflächen, die feucht im blassen Morgenlicht schimmerten. Auf dem Fußgängerweg vor dem Haus mit der Nummer acht drängten sich die Anwohner mit gezückten Smartphones, jederzeit bereit, alles mit dem Rest der Welt zu teilen, was sie mit der Linse einfingen. In den meisten Fenstern hingen Gaffer, obwohl es zur Straße hin nichts zu sehen gab, denn der Fundort der Leiche befand sich vor der fensterlosen Nordseite.

Tom und die Streife hatten den Tatort notdürftig abgesperrt und hielten die Leute auf Abstand. Die KTU war noch nicht vor Ort. Der Tote lag zusammengekauert unter einem halb fertigen Bild inmitten von Farbdosen und einer schwarzen Strumpfmaske, die Tom ihm vom Gesicht gezogen hatte. Die Hände des Toten steckten in Latexhandschuhen. Offensichtlich war er darauf bedacht gewesen, keine Spuren zu hinterlassen und nicht mit den Farben in Berührung zu kommen, um sich nicht zu verraten. Die Hose war allerdings voller Flecken.

»Mit einem spitzen Gegenstand erstochen, soweit ersichtlich, aber von der Waffe haben wir bisher keine Spur«, erklärte Tom. »So leid einem der Kerl auch tun kann, jedenfalls hat er seine letzte Fassade ruiniert. Es war nur eine Frage der Zeit, wann einer der Brüder die Quittung bekommen würde. Allein was es kostet, die Fassaden von den sogenannten Kunstwerken zu reinigen. Vielleicht hat ihn der Hausbesitzer erwischt, und dem ist dann …«

»Das Messer aus der Tasche gesprungen … So könnte es gewesen sein. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nichts ausschließen.« Hella beugte sich über die gekrümmte Leiche. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Die Tat musste vor Stunden passiert sein. Genaueres würde sie von der Gerichtsmedizin erfahren.

»Kennt jemand den Toten? Wer hat die Leiche gefunden und wann? Papiere? Geldbörse, Autoschlüssel?«, fragte sie.

Tom schüttelte den Kopf. »In seiner Kleidung war nichts zu finden. Nur die Farbdosen und eine Dose Pfefferspray in der Gesäßtasche. Aber die ist nicht zum Einsatz gekommen. Wahrscheinlich ist er überrascht worden.«

»Oder er kannte den Täter.«

»Ja, oder er kannte den Täter«, echote Tom. »Der Zeitungsjunge hat gegen sechs etwas Verdächtiges gesehen, sich aber zuerst nicht getraut nachzuschauen. Die Streife alarmierte er erst eine Viertelstunde später. Senge hat mich losgeschickt, weil Sie noch nicht da waren …«

»Sie hätten mich abholen können«, erwiderte Hella.

»Ich wohne nicht weit von hier, und ich dachte, dass jemand so schnell wie möglich den Tatort sichern sollte.«

Ein akzeptabler Grund. Also hielt sie besser den Mund. Außerdem waren die Kollegen der KTU soeben eingetroffen und begannen mit der großräumigen Absperrung des Tatortes. Jemand tippte ihr auf die Schulter.

»Darf ich vorstellen«, sagte Senge, »unser Neuzugang Kriminalhauptkommissarin Budde, Staatsanwalt Klapproth.« Das Eindrucksvollste an dem Staatsanwalt war sein Schnäuzer, dessen zwei Enden wie die Hörner eines Stiers in die Höhe stachen.

»Willkommen«, sagte Klapproth. »Endlich eine Frau, die den Männerladen aufmischt. Ich mag starke und resolute Frauen.« Er scannte sie von oben bis unten, worauf er ihr ungeniert zuzwinkerte.

Warum liefen ihr keine normalen Männer über den Weg? Entweder zimmerten sie Intrigen oder fielen mit anzüglichen Blicken über sie her, dachte Hella. Im Gegensatz zu Senge und Tom Seipold würde ihr der Staatsanwalt allerdings nur selten über den Weg laufen.

Die Leiche wurde entfernt, und nachdem die Lage des Körpers bei Auffindung markiert und alle nötigen Untersuchungen durchgeführt worden waren, fotografierte ein KTU-Mitarbeiter die besprühte Fassade von allen Seiten. Das weit aufgerissene Maul eines Hais kam auf den Betrachter zu, erschreckend naturalistisch. Der Körper war nur angedeutet.

»Dazu ist er offenbar nicht mehr gekommen … Von hinten erstochen, ein feiges Verbrechen«, wandte sich der Kollege von der KTU an Hella, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen. »Nicht einen müden Cent haben die Kollegen bei ihm gefunden. Raubmord? Wer raubt schon einen Sprayer aus? Da ist nichts zu holen, genauso wenig wie bei den Leuten, die hier leben. Soviel ich weiß, hat die Wohnungsgesellschaft wieder einmal die Mieten erhöht. Vielleicht hat das Graffiti damit zu tun, soll einen Miethai darstellen oder so ähnlich. Erinnert mich an …«

»Straßenherz?«, dachte Hella laut. Das Elefantenbild auf der Titelseite des Werbeblättchens fiel ihr ein. »Aber hat er nicht erst vor ein paar Tagen …?«

»Der ist unberechenbar. Manchmal hört und sieht man fast ein Jahr nichts von ihm, dann ist er plötzlich wieder da mit einer Reihe spektakulärer Bilder. Er stellt sich immer auf die Seite der Schwachen, wissen Sie. Deshalb nennen ihn die Leute Straßenherz.« Er ging auf die Wand zu und fuhr mit der Hand fast liebevoll über den Kopf des Riesenfisches. »Vielleicht ist es sein letztes … Irgendwann musste er ja auffliegen. Er hatte sich ja nicht nur Freunde gemacht. Vor zwei Jahren wurde sogar eine Belohnung für denjenigen ausgesetzt, der seine Identität aufdeckt. – So, das wär’s. Das Material steht Ihnen in knapp einer Stunde zur Verfügung. Schönen Tag noch.« Er schob seine Kamera ins Futteral und machte seinen Kollegen ein Zeichen.

»Ebenso, und besten Dank für die Infos«, erwiderte Hella. Dann rief sie nach Tom. Der Unmut darüber, dass er ab heute ihre Anweisungen befolgen sollte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Fällt Ihnen etwas auf, wenn Sie das Bild betrachten?«, fragte sie ihn.

»Nein, bin ja kein Kunstsachverständiger.«

»Schade, den könnten wir jetzt gut gebrauchen.«

»Deswegen haben Sie mich doch nicht gerufen …«

»Nein, natürlich nicht. Bitte befragen Sie alle Mieter in diesem Haus und auch die der benachbarten, ob ihnen etwas Verdächtiges – ein lauter Streit oder Ähnliches – aufgefallen ist. Gehen Sie allen Hinweisen nach, die uns helfen könnten, den Tathergang zu klären und die Identität des Opfers festzustellen.«

»Was meinen Sie, was ich seit über zwei Stunden tue?«

»Gut so. Rufen Sie mich an, wenn es Neuigkeiten gibt. Ich habe volles Vertrauen in Sie, Tom.«

»Und Sie?«

»Machen Sie sich um mich keine Sorgen, für mich bleibt genug zu tun.«

Er zog wortlos ab. Ob er jemals akzeptieren würde, dass er die Nummer zwei war? Erst dann konnte es zwischen ihnen funktionieren, dachte Hella, worauf sie sich in ihren Einsatzwagen setzte und sich vom Navi wieder auf den Ring dirigieren ließ. Schließlich warteten auf dem Kommissariat noch andere Kollegen auf Arbeit.

Zurück in der Münzstraße begab sich Hella auf direktem Weg zu Senge.

»Der Kriminalrat erwartet Sie«, sagte die Sekretärin, als handelte es sich um eine Dienstaufsichtsbeschwerde.

»Wie kann er das, wo ich mich doch gar nicht angekündigt habe?«, erwiderte sie gut gelaunt. Doch dem rhabarbersauren Gesicht der Sekretärin zu entnehmen, fehlte dieser offenbar jeglicher Sinn für Ironie. Roswitha Stengler – wenn das Namensschild, das am Monitor ihres Computers klebte, nicht log – griff zum Telefon. Da stand Senge bereits in der Tür und dirigierte Hella in sein Büro.

»Musste das sein?« Er bot ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch an.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Tom hat mich angerufen, du würdest mit ihm umspringen, als sei er dein Leibeigener. Wir sind hier ein Team, Hella, und die anderen sind nun einmal länger hier als du. Tom hat in der Zeit, in der deine Stelle unbesetzt war, die Leitung der Fälle übernommen. Wir sind ihm dankbar dafür. Es gibt keinen Grund, ihn wie …«

Senge duzte sie plötzlich, das klang familiärer, machte die Situation aber nicht einfacher. Also daher wehte der Wind. »Vor Ort waren nur er und ich, Ludger. Also habe ich ihm die Befragung der Leute übertragen. Das ist Routinearbeit, wenn auch viel davon abhängt, und gerade Tom wird sie gut machen, weil er so viel Erfahrung hat.«

»Das ist es nicht, Hella, der Ton ist es. Der Ton macht die Musik.«

Sie spürte den Stau in ihrem Hals. Aber Senge war noch nicht fertig.

»Nicht alles funktioniert gleich reibungslos, da muss man eben Fingerspitzengefühl beweisen …«

Das sogenannte Feeling fehlte ihr also auch. Der zweite Tag im Dienst und ihre Aussichten auf eine kollegiale Zusammenarbeit waren erschreckend geschrumpft.

»Vielleicht ist es das, was du zuerst hier lernen musst. Wir alle müssen lernen, jeden Tag.«

Eigentlich konnte sie das nicht auf sich sitzen lassen. – Aber dann sah sie in die verzweifelten Augen des Kriminalrats und dachte an ihren Vater, ihren Dad, wenn ihn die Sorgen fast erdrückten …

Sie schwiegen eine Weile.

»Ich leite also nach wie vor die Ermittlungen in dem Fall und setze meine Leute so ein, wie ich es für richtig halte?«, fragte sie dann und schaute von unten zu ihm hinauf.

Senge seufzte. »Natürlich, Hella.«

»Dann soll Tom weiterhin die Befragungen durchführen. Wir kennen immer noch nicht die Identität des Toten. Das, was auf der Fassade zu sehen ist, erinnert irgendwie an Straßenherz. Fragt sich nur, wer wirklich dahintersteckt.«

»Die von der Gerichtsmedizin haben mir einigermaßen gute Aufnahmen auf mein Smartphone geschickt …«

Ach nein, und warum hatte sie die nicht längst?

Senge ahnte wohl, was sie sagen wollte. »Ich hatte gerade vor, sie dir zu mailen, Hella, aber da warst du bereits hier …«

»Mein Fingerspitzengefühl sagt mir, dass ich jetzt besser schweigen sollte …«

»Ein bisschen mehr Vertrauen könnte auch nicht schaden«, erwiderte er und bedeutete ihr mit einem Wink, dass für ihn die Unterredung beendet war.

»Ich bin der Kai«, sagte Fischbach und kaute ungerührt weiter an seinem Salami-Baguette. »Dass ich mittlerweile zum Inventar gehöre, hat man Ihnen sicher bereits verraten.«

»Freut mich, Kai. Ich weiß Erfahrung und Zuverlässigkeit zu schätzen«, hörte sich Hella sagen. Das klang verdammt nach einem Satz aus dem Lehrbuch für Mitarbeiterführung. Zweifellos Senges Einfluss.

»Ich kannte Ihren Vater. Wir haben fast dreizehn Jahre zusammengearbeitet. Am Anfang waren wir nicht gerade die besten Freunde, aber mit der Zeit …«

Jedenfalls zeigte der Kollege nicht gleich die Zähne. »Ich brauche Ihre Hilfe, Kai. Es geht um den Tod des Sprayers in der Weststadt. Seine Identität ist noch nicht geklärt. Werfen Sie einen Blick in Ihren Postkasten. Ich habe Ihnen Fotos des Toten aus der Gerichtsmedizin zugemailt. Checken Sie die aktuellen Vermisstenzugänge, und wenn das keine Ergebnisse bringt, senden Sie die besten Fotos an die Medien: Internet, Landesfunk, Regionalfernsehen und so weiter. Wir brauchen eine lückenlose Fahndung auf allen Ebenen. Sie sind mein Mann der Stunde …«

»Aber in einer Stunde werde ich das kaum …« Seine Begeisterung schien sich in Grenzen zu halten.

»Sie schaffen das, Kai. Ich brauche übrigens auch jemanden, der sich in der Street-Art-Szene auskennt.«

Fischbachs Augen erhellten sich. »Damals, wissen Sie, als ich noch mit Kollege Brumby auf Streife war, da sind uns beinahe zwei dieser Schmierfinken in die Falle gegangen. Wir hatten sie eingekreist, aber in der Dunkelheit … Bei der Verfolgung ist Hannes, also der Kollege Brumby, über eine Mülltonne gestolpert und hat sich den Steiß angeknackst, lag danach drei Wochen im Krankenhaus …«

Das klang nicht gerade Erfolg versprechend, aber sie musste jeden verfügbaren Mitarbeiter einbinden. »Haben Sie eine Idee, wie wir mit der Szene Kontakt aufnehmen könnten?«

»Was die machen, ist nicht immer legal, deshalb ist keiner scharf darauf, es mit der Polizei zu tun zu haben.«

»Aber es ist eine Chance herauszufinden, wer der Tote ist. Sie müssen mir helfen.«

Sie ahnte, dass Fischbach ein Frauenversteher war. Und er reagierte prompt: »Wir könnten es anders versuchen, Hella. Es gibt ja nicht nur den Underground. Einige machen das ganz seriös und beruflich. Aber die wissen natürlich voneinander. Vielleicht findet sich auch etwas im Internet …«

»Dann mal los!«

»Das hat Ihr Vater auch immer gesagt.«

»Ich bin jederzeit erreichbar. Und bitte, tu mir einen Gefallen, Kai. Nenn die Straßenkünstler in meiner Gegenwart nie wieder Schmierfinken.«

Seit über einer Stunde keine Rückmeldung. Auch von Tom keine Nachricht. Hella saß an ihrem Schreibtisch, vor sich die Galerie der gesammelten Werke von Straßenherz, soweit sie das Internet hergab. Was der Mitarbeiter der Spurensicherung darüber erzählt hatte, ging ihr im Kopf herum. Von Kunst verstand sie nicht viel, aber sie wusste, dass jeder Maler von Format einen persönlichen Stil hatte, und die Art, wie dieser Straßenherz seine Botschaften darstellte, passte auch zu dem Graffiti in der Weststadt. Für sie bestand kaum noch Zweifel, dass es sich um ihn handelte. Offenbar hatte ihn einer seiner Feinde aufgespürt. Der »Miethai« auf der Hauswand hätte ihm zumindest neue beschert …

Solange seine Identität unklar blieb, war alles Spekulation, und Hella hatte kaum Anhaltspunkte. Die Tat konnte geplant, aber auch das Ergebnis einer zufälligen nächtlichen Begegnung sein: jugendliche Schläger, die ein Opfer suchten, oder einer dieser Gewalttäter, die von gleich auf jetzt einfach durchknallten. Sie griff zu ihrem Handy, um Tom anzurufen, als das Display aufleuchtete.

»Hella Budde.«

»Dr. Weinreb hier, Gerichtsmedizin. Sind Sie die neue Kommissarin?«

»Ja«, antwortete Hella der tiefen weiblichen Stimme, im Hintergrund klirrte Besteck wie in einer Restaurantküche.

»Vor mir auf dem Tisch liegt der Leichnam des Mannes, den Ihre Leute in der Weststadt aufgefunden haben: circa achtundvierzig Jahre alt, eins siebenundsiebzig groß, bringt knapp dreiundachtzig Kilo auf die Waage. Identität unbekannt …«

»Gibt es bereits Befunde?«, unterbrach Hella.

»Sie haben Humor, ich fange gerade an. Aber unabhängig von der Obduktion kann ich Ihnen einen Tipp geben: Ich glaube, den Mann zu kennen. Aus dem Kunstverein. Der Tote hat starke Ähnlichkeit mit Bernhard Jelinski, dem Direktor vom Herzog Anton Ulrich-Museum. Ich bin mir allerdings nicht sicher, denn ich komme nur selten unter Leute und schwänze regelmäßig die Jahreshauptversammlungen …«

»Danke Ihnen …«

»Viel Glück. Ich melde mich, wenn der Bericht fertig ist.«

Dr. Weinreb hatte aufgelegt, als sich Fischbach am Dienstapparat meldete.

»Wir haben den ersten Hinweis. Der Mann ist angeblich vorgestern auf einem Rummelplatz in Rüningen gesehen worden …«

»Sehr gut, Kai, weitermachen!« Schließlich konnte auch eine Gerichtsmedizinerin irren. Solange nicht unumstößlich feststand, dass der Straßenmaler, den Hella für Straßenherz hielt, in seinem bürgerlichen Leben Museumsdirektor war, würde sie Fischbach nicht zurückpfeifen. Wo blieben nur die Nachrichten von Tom?

Ein Vergleich der Fotos aus der Gerichtsmedizin mit denen im Internet, die Jelinski in der Öffentlichkeit und als Leiter des Museums zeigten, ergab eine starke Ähnlichkeit. Der nächste Schritt war, zu überprüfen, ob es sich um einen Zufall handelte. Die Jelinskis standen sogar im Telefonbuch – mit Adresse. Noble Gegend. An der Herzogin-Elisabeth-Straße gegenüber vom Prinzenpark reihten sich die alten Gründerzeitvillen aneinander. Hohe Sonnenfenster, glänzendes Parkett, stuckverzierte Decken …

Hella ließ es zweimal durchklingeln, ohne Erfolg. Auf dem Anrufbeantworter bat sie um Rückruf, hielt es aber keine zehn Minuten untätig aus. Jelinskis Frau hieß Désirée, und wenn die Infos stimmten, die Hella mit ein paar Klicks aus dem Internet zog, dann arbeitete sie als Professorin für Kunstwissenschaft an der hiesigen Hochschule. Zwei Anrufe später brachte ihr die Sekretärin in der Verwaltung der Hochschule zur Kenntnis, dass die Frau Professor gerade eine Vorlesung halte und nicht zu sprechen sei. Bei einem Tötungsdelikt gab es keine Extratouren, dachte Hella und beschloss, der Dame persönlich einen Besuch abzustatten.

Die Vorlesung war offenbar gerade beendet, alle Studierenden strebten gleichzeitig dem Ausgang zu. Hella betrat den Raum, als sich die Professorin nur noch im Gespräch mit einem jungen Mann befand, athletisch gebaut, mit einem gewissen verwegenen Lächeln – bei dem Anblick durchfuhr es Hella. Der Typ Mann, der einmal das Gesetz der Schwerkraft in ihrem Leben ausgehebelt hatte und nie mehr eine Rolle darin spielen durfte. Aber die Erinnerung an Billy wurde sie einfach nicht los.

»Jelinski, kann ich etwas für Sie tun?« Allein die Erscheinung der Frau zog Aufmerksamkeit auf sich, ihr modisches Outfit zusammen mit der krebsroten Haarsträhne über der Stirn erweckten einen selbstbewussten Eindruck. Ihre tadellose Figur ließ auf den ersten Blick glauben, dass die Professorin selbst zu den Studierenden gehörte. Erst beim zweiten Hinsehen verriet sich, dass sie die fünfzig überschritten hatte. Auch lag in ihrem Blick etwas Erfahrenes, vielleicht auch Müdes, das Reife voraussetzte.

»Budde, Kriminalhauptkommissarin«, erwiderte Hella.

»Kommissarin? – Ist etwas passiert?«

»Leider ja, wir haben eine Leiche gefunden.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

»Das wissen wir noch nicht. Alles, was wir wissen, ist, dass es sich um einen Straßenmaler, einen Street-Art-Künstler handelt.« Wenn Désirée Jelinski etwas Neugier gezeigt hatte, entspannte sie jetzt völlig.

»Entschuldigen Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Inwiefern betrifft das mich?«

»Gegenfrage: Haben Sie Ihren Mann heute Morgen bereits gesehen?«

»Sie meinen, es könnte … mein Mann … ein Straßenmaler? – Ausgeschlossen!«

Klang da etwa akademische Borniertheit an?

»Möchten Sie meine Frage beantworten? Wir haben gute Gründe …« Anscheinend imponierte Hellas bestimmter Tonfall der Professorin.

»Also gut: Am Montag, wenn die Museen geschlossen haben, halten wir gewöhnlich ein ausführliches gemeinsames Frühstück ab. Das kann bis nach elf dauern. Wir erzählen uns dann, was die vergangene Woche so gebracht hat. Ansonsten begegnen wir uns allerdings kaum beim Frühstück. Mein Mann ist Frühaufsteher, wissen Sie. Heute habe ich ihn noch nicht gesehen. Manchmal übernachtet er auch bei Freunden und frühstückt dort.«

»Wo könnte er sich jetzt aufhalten?«

Geduld schien nicht die Stärke der Professorin zu sein. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, seufzte und griff nach ihrer Handtasche, die noch auf dem Tisch lag. Doch diese Frage musste sie noch beantworten, dachte Hella, bevor sie die nächste Stufe zündete.

»Na, im Museum. Soviel ich weiß, bereitet er gerade eine neue Ausstellung vor. In diesen Tagen sollten die Leihgaben aus Zürich angeliefert werden. Ich gebe Ihnen gerne Bernhards Durchwahl. Auf mich wartet ein wichtiger Termin. Eine unaufschiebbare Projektbesprechung.«

Hella blieb, wo sie war. »Bitte rufen Sie in meiner Gegenwart selbst kurz durch, dann ist die Angelegenheit geklärt.«

»Also gut«, klang es beinahe zickig. Offenbar war die Professorin es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach. Sie drückte die eingespeicherte Nummer. Doch es meldete sich niemand. »Hören Sie, Frau … Budde. Auch wenn ich ihn jetzt nicht erreiche. Mein Mann ist Museumsdirektor und kein Straßenmaler.«

Der Zeitpunkt war gekommen. Hella zeigte ihr die Fotos aus der Gerichtsmedizin: das bleiche, aber unversehrte Gesicht des Toten frontal, von oben und von allen Seiten.

Der Blick der Professorin prallte davon ab wie ein Gummiball. »Er ist es nicht. Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt. Und jetzt lassen Sie mich …«

»Es tut mir leid. Ich muss Sie bitten, mich in die Gerichtsmedizin zu begleiten.«

Während der kurzen Fahrt schwiegen sie. Die angespannten Züge der Professorin verrieten ihren äußersten Unmut darüber, dass eine kleine, übergewichtige Polizistin sie so einfach abkommandieren durfte, und er klang noch in dem Klacken ihrer Absätze nach, als sie den Gang zum Obduktionssaal betraten.

Hella wusste, was auf sie zukam, für sie war es nicht das erste Mal. Fast unmerklich würde sich ein mit nichts zu vergleichender Geruch ihrer Atemluft beimischen, der immer intensiver wurde und ein beängstigendes Gefühl hervorrief: der Geruch der Verwesung. Dumpfe Noten von Desinfektionsmitteln, Formaldehyd und menschlichen Ausscheidungen drangen durch die Nase bis ins Gehirn. Als die Wirkung bei Désirée Jelinski eintrat, verlangsamte sie ihren Schritt. Ihr Gesicht verfiel in Sekunden. Sie hielt sich die feingliedrige rechte Hand vor Mund und Nase und vermied es, Hella in die Augen zu sehen.

Sie waren am Ziel. Ein von Edelstahl blinkender, vom Boden bis zur Decke weiß gefliester Raum, der auf den ersten Blick an eine Großküche erinnerte, lag vor ihnen, mehrere Obduktionstische standen in Reihe. Am Ende des Saals unterbrach eine hoch gewachsene Person in grüner Berufskleidung ihre Arbeit.

»Kommissarin Budde?«, hallte es zu ihnen herüber.

»Ja. Ich bringe Ihnen …«

»Frau Jelinski?«

Désirée Jelinski hatte es die Sprache verschlagen.

»Ja«, übernahm Hella.

»Einen Moment, bitte. Bleiben Sie da stehen, wo Sie sind.«

Der Geruch nach Desinfektionsmittel überflutete alle anderen Eindrücke. Als sie vortreten durften, war die Leiche mit einem weißen Tuch bedeckt, ringsherum befanden sich noch blutverschmiertes Schneidewerkzeug und Organschalen.

»Warum haben Sie sich nicht vorher gemeldet?«, murrte die Ärztin. »Wir können schließlich nicht zaubern.« Sie hatte sich an das Kopfende des Tisches begeben und zog jetzt langsam das Tuch von der Leiche.

Hella blieb aus gutem Grund an der Seite der Professorin, schließlich konnte man nie wissen.

»Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, das ist nicht mein Mann«, fuhr die jedoch gleich gereizt auf. »Wir können gehen!« Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte sie los, an den Stahlregalen vorbei in Richtung Ausgang. Dr. Weinreb hielt Hella an der Schulter zurück und drückte ihr etwas Rundes, Hartes in die Hand.

Kurz bevor Désirée Jelinski die Schwingtür erreicht hatte, holte Hella sie ein. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie ganz ruhig und zeigte ihr, was die Ärztin ihr mitgegeben hatte. »Er steckte am Mittelfinger des Toten. Darin ist eine Gravur.«

Der bestürzte Blick der Frau verriet, dass sie begriffen hatte. Den Ehering ihres Mannes mit zitternden Händen umfassend, gab sie ihren inneren Widerstand auf: »Ja, er ist es, Bernhard Jelinski, mein Mann.«

Wenn Löwen weinen

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