Читать книгу Wenn Löwen weinen - Mick Schulz - Страница 6
1. Ansichtssache
ОглавлениеDer Kriminalrat hieß Senge und wartete unten vor der Haustür auf sie. Eine freundliche Geste, wenn einen der Chef mit dem Wagen abholte. Insoweit fing der Tag, ihr erster bei der Mordkommission Braunschweig, gut an. Während sie den letzten Schluck Kaffee aus ihrer grünen Jumbotasse trank, blieb Hellas Blick an den sonnigen Balkonen von gegenüber hängen. Sie hatte die Schattenseite erwischt. Wahrscheinlich hatten die zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad mit knarzenden Böden und ramponierten Jugendstil-Fliesen vor allem deshalb auf sie gewartet. Was tröstete, war die Lage. Vom östlichen Ring aus ließ sich das Kommissariat Mitte gut erreichen, der Stadtpark lag fußläufig, und man hatte Ruhe vom Lärm der Hauptstraßen.
Fünf Minuten über die Zeit, ihre Handflächen fühlten sich feucht an. »Kopf hoch, Mädel!« So oder ähnlich hätte ihr Vater ihr jetzt Mut gemacht. In dem Moment vermisste sie ihn unbeschreiblich, ihren Dad, wie sie ihn genannt hatte, seit sie sechzehn war. Damals fand sie alles Deutsche »spießig« und alles Amerikanische »cool«, bis sie Billy kennenlernte und mit ihm in eine Ehe hineinschlidderte, die überhaupt nicht cool gewesen war …
Ein schrilles Geräusch schraubte sich in ihre Ohrmuscheln. Ob sie sich irgendwann an die Türklingel gewöhnen würde? Senge schien jedenfalls Sehnsucht nach ihr zu haben. Vor dem Garderobenspiegel fuhr sie sich noch einmal durchs Haar. Beim Friseur nebenan hatte sie sich Strähnchen für den ersten Tag machen lassen.
Gegenüber auf der anderen Straßenseite stand ein Einsatzfahrzeug der neuesten Baureihe. Aus dem geöffneten Fahrerfenster blickte sie jemand an, dessen Gesicht sie von Fotos aus dem Internet her kannte. Bislang hatten sie nur telefoniert. Wie der erste Eindruck von ihr ausgefallen war, konnte sie dem stoischen Grinsen nicht entnehmen. Aber sie würde es gleich herauszufinden. Als sie die Straße überquert hatte, sprach sie den Kriminalrat durchs Fenster an.
»Ich hoffe, der Anblick entspricht der Aktenlage. Melde mich zum Dienst, Chef. Name: Helena Budde, Alter: achtunddreißig, Größe: ein Meter einundsechzig, Gewicht …«
»Halt! Lassen Sie mich doch auch einmal«, stoppte er sie schmunzelnd. »Was sind schon Zahlen? Alles Ansichtssache.« Könnte es sein, dass sich der Mann einen Rest Taktgefühl bewahrt hatte? Nicht einfach in dem Beruf. Oder er hatte bereits gewusst, dass ihr Gewicht nicht mehr ganz zur Größe passte …
»Jetzt steigen Sie schon ein, die Kollegen haben heute noch anderes zu tun, als die Neue zu beschnuppern«, sagte er gut gelaunt. Vom Beifahrersitz aus gesehen entsprach sein Profil dem eines Hungerhakens, und er roch nach abgestandenem Zigarettenqualm. Jedenfalls war Hella fürs Erste erleichtert. Offensichtlich waren sie beide auf Droge. Er auf Nikotin und sie auf Nugat.
»Haben Sie sich gut eingelebt?«, fragte er, während er den Wagen wendete und in Richtung Innenstadt fuhr. »Aber was sage ich. Sie sind ja von hier, Braunschweig ist Ihre gute Stube.«
Ja, die Löwenstadt war ihre Heimat, ihre ganze Kindheit und einen Teil der Ausbildung hatte sie in dieser Stadt verbracht. Doch seitdem ihr Vater tot war, hatte sie keine Familie mehr. Selbst die zahlreiche griechische Verwandtschaft ihrer Mutter war mittlerweile in alle Himmelsrichtungen zerstreut.
Das Kommissariat Mitte befand sich in der Münzstraße. Den dunklen Bau kannte Hella schon seit ihrer Kindheit. Man erwartete sie bereits. Im Konferenzraum 231 herrschte bleierne Stille, als sie erschienen. Die bohrenden Blicke der Kollegen wechselten zwischen erstaunt bis mitleidig. Das war zu erwarten gewesen. Warum hatte sie nur gedacht, dass es anders sein könnte? Irgendwie freundlicher? Sie ärgerte sich, das Geld für diese blöden Strähnchen ausgegeben zu haben. Als ob das einen Unterschied gemacht hätte.
»… und wie ihr alle wisst, ist Frau Budde die Tochter unseres hochgeschätzten und viel zu früh verstorbenen Kriminaloberrats Henning Budde, mit dem auch ich zusammenarbeiten durfte …«
Stöhnte da jemand leise? Der ältere Kollege rollte tödlich gelangweilt mit den Augen. Den erhofften Vorteil, die Tochter eines Ehemaligen zu sein, konnte sie sich also auch abschminken.
»Vielen Dank für die freundliche Begrüßung, Kollegen, ich setze auf eine gute Zusammenarbeit und eröffne den kleinen Imbiss. Greift zu«, hörte sie sich sagen. Lauwarmer Applaus, dann zerstreute sich das Team. Den Teil der Tagesordnung hatte sie also überstanden, dabei war der nächste kein bisschen leichter: Sie musste tatenlos mit ansehen, wie die Platte mit den Mettbrötchen im Handumdrehen leer geräumt wurde.
»Wollen Sie nicht auch?«
»Nein, danke, ich habe gut gefrühstückt«, log sie und riss sich los von dem verstörenden Anblick.
»Aber einen Kaffee werden Sie trinken?« Der Kollege, der das fragte, sah blendend aus und lächelte unbefangen.
»Gern«, erwiderte sie.
»Nein, bitte, bleiben Sie, wo Sie sind. Ich hole Ihnen einen. Milch und Zucker?«
Sie nickte.
»Mein Name ist Tom, Tom Seipold«, stellte er sich vor, als er zurückkam und ihr den Kaffee reichte. »Wir werden im Doppel zusammenarbeiten. Sicher hat Senge Ihnen das bereits gesagt, oder?«
»Nein«, erwiderte sie, »aber er wird es bestimmt noch tun.«
»Ich arbeite Sie gern ein, schließlich kenne ich mich aus, bin über zehn Jahre hier. Da lernt man, worauf es ankommt.«
Ein freundliches Angebot, wenn da nicht ein gewisser Unterton gewesen wäre, den sie nur allzu gut kannte. »An welchem Fall arbeiten Sie aktuell?«, entgegnete sie.
»Mord an einer Rentnerin in Wenden, vermutlich war es der Sohn. Tat und Motiv ergeben ein ziemlich klassisches Bild.«
»Und weil Sie Erfahrung haben, wissen Sie natürlich, dass sich die sogenannten klassischen Fälle oft genug als Überraschungseier herausstellen. Mir ist es mehrmals so gegangen.« Er sollte ruhig wissen, dass sie kein Kindermädchen brauchte, sondern eine kurze, präzise Einarbeitung. Schließlich sollte sie die Ermittlungen leiten. Und anscheinend hatte er verstanden, was sie meinte, denn er wurde plötzlich ziemlich wortkarg. »Na, dann bis später«, verabschiedete er sich auch schon, »auf gute Zusammenarbeit.«
Das hoffte sie auch, dachte Hella.
»Sie können es sicher kaum erwarten, Ihr Büro zu beziehen«, meinte Senge. Der leere hohe Gang hallte wie alle Behördenflure. An der Tür prangte bereits ihr Name: »Kriminalhauptkommissarin Helena Budde«. Ein ausgesprochen heller Raum. Dieses Büro schien mehr Sonne abzubekommen als ihre Wohnung, wie die ausgedörrte Botanik auf der Fensterbank bestätigte.
»Meins ist gleich nebenan«, sagte der Kriminalrat und grinste. Sie wusste nicht, ob sie das gut oder eher weniger gut finden sollte. Fürs Erste diente es jedenfalls der Orientierung. Die Einrichtung überraschte nicht weiter. Das Foto einer Männermannschaft hing goldgerahmt rechts neben der Tür.
»Unsere Fußballelf«, präsentierte Senge stolz.
Und wo war die Frauenmannschaft?, wollte Hella fragen, verkniff es sich aber, als ihr das einsame Foto auf der Schreibtischplatte ins Auge fiel: Ein Polizist in Uniform hielt ein Kind an der Hand, ein pummeliges Mädchen mit Ponyschnitt.
»Es gehörte zu den Sachen Ihres Vaters, ich wollte es nicht …«
Sie konnte sich nicht daran erinnern, bei welcher Gelegenheit der Schnappschuss gemacht worden war, aber ihrem Dad hatte das Foto offenbar am Herz gelegen. Hätte er es sonst an seinem Dienstplatz aufgestellt? Seine Stimme klang wieder in ihren Ohren. Einmal, vor einem nicht ungefährlichen Einsatz, hatte er sie in die Arme genommen und hochgehoben, während er mit Mutter sprach: »Mach dir keine Sorgen, Kathyna, mir passiert schon nichts. Unsere Prinzessin bringt mir Glück.« Das bewahrheitete sich. Bei Einsätzen hatte er nicht ein Mal einen Kratzer abbekommen, aber dann vor nicht ganz zwei Jahren, drei Wochen vor der Pensionierung, kippte er in der kleinen Küche seiner Wohnung in Stöckheim einfach um und war sofort tot …
»Danke, das ist in Ordnung«, erwiderte sie. Der Blick aus dem Fenster ging auf den Vorplatz des Kommissariats, so groß wie ein Kasernenhof. »Mir scheint allerdings, dass mein Vater es nicht bei allen Kollegen zur Legende gebracht hat.« Sie drehte sich plötzlich auf dem Absatz um und schaute Senge direkt in die Augen.
Er zuckte mit den Schultern. »Nun … wissen Sie … Ich war lange Jahre sein Assistent, habe viel bei ihm gelernt. Jeder hat natürlich seine eigenen Erfahrungen mit ihm gemacht … Ist alles Ansichtssache.«
»Schon gut … Wollten Sie mir nicht noch etwas Dienstliches mitteilen?«
»Ja, ja, natürlich. Ich habe Ihnen Tom Seipold zur Seite gestellt, er kennt sich aus …«
»Und weiß, worauf es ankommt?« Sie schmunzelte.
»Genau. Ich sehe, Sie sind bereits im Bild. Wenn Sie weitere Fragen haben, beantworte ich sie gern. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Sein Zeigefinger wies auf das Büro nebenan.
»Eine Frage noch: Hatte sich auch jemand aus dem Team auf meine Stelle beworben?«
»Wir sind froh, dass Sie hier sind, Hella, Ihr Ruf als erstklassige Ermittlerin geht Ihnen voraus, und wir wollen alle im Team mitspielen. Das ist aber nur möglich, wenn …« Offenbar fühlte er sich in die Enge getrieben, sonst würde er kaum den Chef herauskehren.
»Wenn wir mit offenen Karten spielen?«, ergänzte sie vielleicht etwas zu scharf.
Senge seufzte. »Genau so, aber deshalb muss ich mit Ihnen am ersten Tag nicht über meine Personalpolitik reden.«
»Wenn Sie nicht wollen, ist das okay für mich, danke jedenfalls für den freundlichen Empfang, ich weiß das zu schätzen.« Sie versuchte, versöhnlich zu klingen, aber Senge hatte sich abgewandt und ging wortlos aus dem Raum. Auch wenn der Herr Kriminalrat eine ziemlich dünne Haut hatte, war Hella fest entschlossen, mit ihm einen neuen Anfang zu machen.
Den Nachmittag verbrachte sie mit Tom Seipold im Außendienst und nahm an zwei Zeugenbefragungen teil, die seinen aktuellen Fall betrafen. Dass Tom ihr gegenüber nicht unvoreingenommen war, hatte sie bereits beim Imbiss gespürt, und der abschätzige Blick, den er ihr zwischenzeitlich zuwarf, wenn er meinte, sie wäre abgelenkt, eignete sich auch nicht gerade als vertrauensbildende Maßnahme. Als er sie gegen achtzehn Uhr vor ihrer Haustür absetzte, fragte sie: »Meinen Sie, dass Sie darüber hinwegkommen können?«
»Was soll das heißen?«
»Sie haben sich auch auf meine Stelle beworben, stimmt’s?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Für mich ist das kein Problem, wenn Sie keins daraus machen.«
Er versuchte die Fassung zu wahren, aber sein hochrotes Gesicht verriet ihn.
»Ich konnte es mir zusammenreimen. Wer der neuen Teamleitung beim Kennenlernen unter die Nase reibt, dass sie noch viel lernen muss, der …«
»Moment, das habe ich nie behauptet.«
»Das nicht, ist aber so angekommen … Bis morgen.«
Als sie die Haustür aufschloss, glaubte sie noch, dass der Tag für sie einigermaßen gelaufen war, aber bereits im Treppenhaus war es damit aus. Sie wollte es doch besser machen. Gelassen bleiben. Nicht mehr so überreagieren, wenn sich irgendwer oder irgendwas gegen sie richtete, das hatte ihr die Polizeipsychologin eingetrichtert. In Braunschweig wollte sie ihren inneren Frieden finden, und dann das: Nicht einmal acht Stunden im Dienst, und sie hatte sich bereits mit zwei Kollegen angelegt …
Im Hausflur war es so dunkel wie in einem Dachsbau. Hella drückte den Lichtschalter und lief auf den Stapel Zeitungen zu, der am Fuß der Holztreppe lag. Den Aufmacher konnte sie geradeso lesen. »Straßenherz at his best«, darunter das halbseitige Foto einer bemalten Fassade. Sie blieb stehen, griff sich eins der Blätter und starrte auf einen Elefanten, der dicke blutrote Tränen weinte.
»Sind Sie nicht die Neue aus dem dritten Stock? Ich bin Frau Voglmaier und wohne gleich nebenan«, krähte eine abgemagerte Siebzigerin, die plötzlich hinter ihr stand und ihr ein eiskaltes Händchen anbot.
»Angenehm, Budde, Kriminalhauptkommissarin«, gab Hella zurück. Sie hatte die Hände nicht gezählt, die sie an dem Tag bereits geschüttelt hatte.
Frau Voglmaier musterte sie mit großen Augen. »Sie sind von der Polizei?«, entfuhr es ihr ungläubig. Aus dem freundlichen wurde ein eher verlegenes Lächeln. »Na, da kann uns in diesem Haus ja nichts mehr passieren.« Auf einmal schien sie es eilig zu haben. »Dann werden wir uns jetzt öfter sehen. Entschuldigen Sie, aber ich muss los. Einen schönen Abend wünsche ich.«
Mit dem sicheren Gefühl, dass auch die Bekanntschaft mit dieser Frau zu keiner wahren Freundschaft führen würde, wandte sich Hella wieder dem Treppenhaus zu. Die einzig wahren Freunde warteten im dritten Stock auf sie: ihre weiche Couch und der volle Kühlschrank.