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4. Die Gesichter des Bernhard J.

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Am Mittwoch, dem zweiten Tag der Ermittlungen, fuhr Hella noch vor der allgemeinen Besprechung im Kommissariat in die Gerichtsmedizin, wo sie Dr. Weinreb um 7.10 Uhr am Seziertisch antraf. Sie schien bestens gelaunt, so wie die Schlager aus den Fünfzigern, die im Hintergrund trällerten.

»Mancher Kollege findet die Beschallung in dem Zusammenhang makaber, aber mir geht die Arbeit so leichter von der Hand, verstehen Sie?« Sie war den sechzig näher als den fünfzig und wirkte durch ihre aufgeschossene Gestalt und das schmale, lange Gesicht Ehrfurcht gebietend wie eine Hohepriesterin vor ihrem Altar. »Der Bericht ist fertig, Frau Budde, zumindest auf dem Memo. Oder wollen Sie den Toten noch einmal sehen? Die Zeitungen machen einen ziemlichen Hype um den Mann. Seine Bilder sind jetzt wahrscheinlich mehr wert als die Fassaden, auf die er sie gesprüht hat.« Ein spöttischer, fast maskuliner Lacher folgte.

»Das mag sein«, erwiderte Hella und fügte als Antwort auf die Frage hinzu: »Ja, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern noch einen Blick auf den Toten werfen.«

Die Gerichtsmedizinerin entfernte sich mit langen Schritten in den Nebenraum, der offenbar ein Kühlraum war, und schob dann den zugedeckten Leichnam auf einem Rollwagen aus Edelstahl herein.

»Wissen Sie, was ich nicht so recht verstehe?«, fragte die Ärztin.

»Wie sollte ich? Sie haben die Befunde …«

»Allerdings. Ich zeige Ihnen, was ich meine …« Mit einer einzigen Armbewegung zog sie die Abdeckung vom Oberkörper des Ermordeten und legte ihn bis zur Lende frei. Hella stockte der Atem. Auch wenn sie Routine im Anblick von Leichen hatte, die Schamlosigkeit des Todes schockierte immer wieder neu.

»Sehen Sie genau hin, und Sie werden nichts sehen. Nicht ein Hämatom, nicht die kleinste Verletzung, die auf einen Kampf hinweisen könnte, auch keine Abwehrspuren. Außer diesem einen Stich in den Rücken, der mitten ins Herz ging, ist sein Körper völlig unversehrt … Ein Jammer, dass es diesen bemerkenswerten Mann getroffen hat. Gerade jetzt, wo ich anfange, ihn zu bewundern.«

Hella ging es ähnlich, aber sie konzentrierte sich auf die Details. »Können Sie mir etwas über die Tatwaffe sagen?«

»Ein scharfer, spitzer Gegenstand mit geriffelter, recht breiter Klinge. Für mein Dafürhalten eine Art Fahrtenmesser, wie es früher die Jungen hatten, vielleicht auch heute noch.«

»Nur ein Stich mitten ins Herz, präzise ausgeführt«, wiederholte Hella. Das Werk eines Profis, eines Auftragsmörders – mit einem Fahrtenmesser?

»Ein von oben geführter Stoß, dem Eintrittswinkel nach zu urteilen«, ergänzte die Gerichtsmedizinerin. »Der Täter hat etwa die Größe seines Opfers, so viel kann ich noch sagen. Gibt es bereits Spuren?«

»Noch nicht«, antwortete Hella, »bislang wissen wir nur, wer der Tote ist. Ich danke Ihnen jedenfalls so weit.«

»Der Bericht liegt spätestens mittags auf Senges Schreibtisch«, sagte Dr. Weinreb und deckte den Toten wieder zu.

Die ersten Worte des Kriminalrats passten eher zu einer Morgenandacht als zu einer Lagebesprechung. Er erwarte von jedem, dass er sich seiner Verantwortung bewusst sei und vollen Einsatz zeige, schließlich handele es sich um eine Ikone der Region. Jelinski sei mehr als ein Museumsdirektor und Straßenkünstler gewesen, ein Kulturmagnet, der …

Zuerst konnte es Senge nicht schnell genug gehen und jetzt verschwendete er ihrer aller wertvolle Zeit, dachte Hella. Endlich ließ er es gut sein und übergab ihr das Wort.

»Ich komme soeben aus der Gerichtsmedizin. Der Bericht ist fast fertig, folgende Erkenntnisse sind spruchreif: Die Leiche weist keine Spuren eines Kampfes auf, der Tod wurde durch einen einzigen Stich von hinten mit einem Messer direkt ins Herz herbeigeführt. Über die Klinge ist zu sagen, dass sie gezackt war wie die eines Fahrtenmessers …«

»Was vermuten lässt, dass er vom Täter überrascht worden ist. Wahrscheinlich hat er ihn nicht einmal gehört«, fuhr ihr Tom Seipold ins Wort. »Sonst hätte er sich gewehrt und es wären unweigerlich Spuren entstanden. Der Mörder muss sich angeschlichen haben. Vielleicht ein Killer, der auf Jelinski angesetzt war?«

»Sehr gut, Tom. Die Spur sollten wir unbedingt verfolgen«, platzte Senge heraus, nahm sich aber sofort zurück. »Natürlich nur, wenn Hella einverstanden ist.«

»Ein Ansatz, der verfolgt werden sollte, danke, Tom«, bestätigte Hella, ohne den Kriminalrat eines Blickes zu würdigen. »Bislang ist auch nicht auszuschließen, dass Jelinski in dunkle Geschäfte verwickelt war, und bitte bring doch in Erfahrung, wie es um seine Finanzen stand.«

Sie sollten ihr Teamwork haben, auch wenn Hella anderer Ansicht war. Wenn jemand Jelinski hätte beseitigen wollen, dann eher auf weniger aufsehenerregende Art und Weise. Hätte der Täter beide Identitäten gekannt, wäre er unauffälliger vorgegangen oder hätte es wie einen Unfall aussehen lassen. Sie ging auch nicht davon aus, dass die Tötung geplant war. Andererseits durfte nicht die geringste Spur vernachlässigt werden, das verlangte die solide Polizeiarbeit von ihnen, und der Druck von außen war viel zu groß, sich auch nur den kleinsten Fehler zu erlauben.

»Konnten Sie bereits Personen ermitteln, die mit Jelinski noch alte Rechnungen offen hatten, Tom?«

»Eigentlich alle, die er als Straßenherz durch den Kakao gezogen hat. Den ehemaligen Oberbürgermeister, den Kulturdezernenten, den Sozialbeauftragten, eine Speditionsfirma, auf deren Transporter er ein Graffiti mit Flüchtlingen gesprüht hatte, obwohl die mit den Toten in dem Kühlwagen in Österreich absolut nichts zu tun hatte. Die Aktion habe der Firma damals sehr geschadet, doch die Sache sei ausgestanden, hat der Chef mir am Telefon gesagt. Er stehe aber jederzeit für eine Befragung zur Verfügung.«

»Sehr gut, gehen Sie bitte den Spuren weiter nach. Auch die anderen Herrschaften sind als Zeugen offiziell zu befragen. Noch etwas: Gibt es eine Stellungnahme von der Wohnungsgesellschaft in der Weststadt, und was könnte es mit dem Haifischbild auf sich haben?«

»Ich konnte noch niemanden erreichen. Aber ich bleibe dran.«

»Danke, Tom«, erwiderte Hella. Sie fühlte sich gut dabei, den Kollegen so sehr zu beschäftigen, dass er ihr nicht in die Quere kommen konnte oder einen Grund zur Beschwerde hatte. »Und was hat Kollege Fischbach ermittelt?«

Nachdem er sich ausführlich geräuspert hatte, zog Kai Fischbach einen Spickzettel aus der rechten Hosentasche. »Ich habe drei Firmen angerufen, die Fassadenmalerei gewerblich anbieten. Einer der Geschäftsführer war selbst einmal im Underground unterwegs, ist aber mittlerweile seit Jahren ganz legal in dem Job tätig. Er hat mir einen Namen gegeben, will aber am Ende nicht als Spitzel dastehen …«

»Kein Problem, wer nichts mit dem Delikt zu tun hat und sich kooperativ zeigt, hat nichts zu befürchten. Dann also los!«, beendete Hella die Besprechung.

Der verabredete Treffpunkt stellte sich als ziemlich schmieriges Bistro in der Nähe der Hagenbrücke heraus. Sie erkannten ihren Mann an dem Pferdeschwanz und den mit Tattoofarbe geschwärzten Oberarmen. Er frühstückte an einem der Tische in Fensternähe. Sie setzten sich zu ihm.

»Nennen Sie mich Indigo-Jay«, stellte sich der sehnige Fünfziger vor, als Hella fragte, wie sie ihn anreden sollten. Er schlürfte laut seinen Kaffee und wischte sich dann mit der Rechten über den Mund. Seine Hände waren muskulös, breite Finger mit angestoßenen, schwarz umrandeten Fingernägeln. »Ich arbeite in einer Großgärtnerei und als Aushilfe auf dem Hauptfriedhof, falls Sie das interessiert. Aber machen Sie sich keine falschen Hoffnungen. Ich werde niemanden verpfeifen. Mit dem Mord habe ich nichts zu tun. Wenn ich meinem alten Kumpel nicht noch etwas schuldig gewesen wäre, dann …«

»Schon gut, schon gut«, beruhigte ihn Fischbach. »Wir brauchen nur ein paar Informationen.«

»Was können Sie uns über Straßenherz sagen? Kannten Sie ihn?«, kam Hella gleich auf den Punkt.

»Niemand in der Szene kannte ihn, soviel ich weiß. Niemand hat je sein Gesicht gesehen. Ansonsten wäre er längst aufgeflogen. Ist doch logisch, oder?«

»Aber vielleicht läuft man sich über den Weg auf der Suche nach den besten Plätzen …«

Indigo-Jay sah Hella kurz in die Augen, warf dann den Kopf nach rechts und starrte versteinert aus dem Fenster. »Ich verstehe nicht, was die alle an diesem Straßenherz finden. Jedes Mal dieser Hype, wenn wieder einmal eines seiner simplen Abziehbilder irgendwo aufgetaucht war. Einfach nur billig. Mit echter Straßenkunst hat das nichts zu tun.«

»Klingt fast, als wären Sie neidisch auf ihn gewesen?«

Indigo-Jay riss seinen Blick vom Fenster los und reckte seinen Oberkörper ein Stück vor, sodass Hella seine Alkoholfahne durch den Kaffeedunst hindurch riechen konnte.

»Hab ich mir doch gedacht, dass ihr nur darauf wartet, einem das Wort im Mund herumzudrehen«, knurrte er.

»Noch einmal. Was können Sie über Straßenherz sagen? Sind Sie ihm jemals begegnet oder kennen Sie jemanden, der wusste, wer er war?«

Der Mann mit dem Pferdeschwanz schien mit sich zu hadern, ob er weiter mit ihnen reden sollte. Aber dann: »Ich bin nur noch selten aktiv, kenne aber die guten Plätze. Manchmal bin ich nachts unterwegs, allein um das Feeling zu spüren. Das Feeling ist alles. Aber davon haben Sie ja keine Ahnung.« Er nahm einen großen Schluck aus der Tasse, bevor er fortfuhr: »Eines Nachts bin ich sozusagen über ihn gestolpert und konnte ihn bei der Arbeit beobachten …«

»Hat es Ihnen nicht in den Fingern gejuckt, herauszufinden, wer er war?«, fragte Fischbach.

»Ich wusste erst am nächsten Morgen, wem ich da begegnet war, als alle Zeitungen sein neuestes Kunstwerk anpriesen. Der Mann trug natürlich Maske. Ich konnte ihn nicht erkennen.«

»Sie haben sich also Ihrem Kollegen nicht weiter genähert?«, setzte Hella nach.

»Nein, offenbar spürte er auch, dass er beobachtet wurde. Jedenfalls sprang er plötzlich auf, drehte sich mit gezücktem Messer um sich selbst, als würde er einen Angriff erwarten. Er brauchte eine ganze Weile, bis er wieder runterkam. Ich selbst wollte auch keinen Ärger und hab mich aus dem Staub gemacht.«

Mehr war aus Indigo-Jay nicht herauszuholen, er blieb bei dem, was er anfangs gesagt hatte, und schwieg sich über die Kollegen aus. Als Alibi für die Tatnacht gab er an, seinen schwer kranken Onkel in Bad Wilhelmshöhe besucht und dort übernachtet zu haben. Er war also nicht in der Stadt gewesen, als Jelinski starb.

»Was wir überprüfen werden«, sagte Kai.

»Gehöre ich jetzt zu den Verdächtigen, oder was?«, bekamen sie noch von Indigo-Jay zu hören, bevor sich Hella verabschiedete: »Ab jetzt sind Sie Zeuge, und als solcher halten Sie sich bitte zur Verfügung.«

»Warum sollte ein Kollege von Straßenherz ihn hinterrücks erstechen?«, fragte Hella mehr sich als Kai Fischbach, der neben ihr her trottete.

»Neid ist ganz klar ein starkes Motiv«, erwiderte er.

»Ich habe ja nicht ausgeschlossen, dass jemand an seiner Stelle ins Rampenlicht rücken wollte. Aber Neid zwischen Künstlern ist das Normalste auf der Welt, und es fehlt jeder Anhaltspunkt. Außerdem war sein Stil einmalig, und das Original ist nun einmal unersetzlich. Wenn man Indigo-Jay glauben darf, dann hat er ihn so ziemlich als Einziger gesehen, und das auch nur maskiert.«

»Er war einfach zu perfekt, dieser Bernhard Jelinski«, murmelte Fischbach.

»In einem Fall hat uns die Aussage von Indigo-Jay jedenfalls weitergebracht«, sagte sie. »Du meinst, dass er mit seinem eigenen Messer erstochen wurde?« Kai hatte anscheinend aufgepasst.

»So weit können wir noch nicht gehen, Kai. Sagen wir besser: Offenbar war er im Besitz eines Messers. Soviel wir wissen, ist am Tatort jedoch kein Messer gefunden worden. Es kann sein eigenes gewesen sein oder auch nicht. Dass es das nicht war, dafür spricht, dass der Täter es ihm hätte entwenden müssen. Aber es existieren keinerlei Spuren eines Kampfes. Andererseits hätte dann sein eigenes Messer gefunden werden müssen …«

»Er könnte es ausgerechnet in dieser Nacht zu Hause vergessen haben.«

»So perfekt, wie er war?«

»Oder er hatte es unvorsichtig, für den Mörder leicht erreichbar, abgelegt.«

»Das könnte heißen, dass er keine Angst vor ihm hatte, ihn vielleicht kannte …« Hella zog ihr Handy aus der Jackentasche und rief die Nummer der KTU auf. Vom Kollegen am anderen Ende ließ sie sich dann aus dem Bericht vom Vortag zitieren.

»Sie haben definitiv kein Messer gefunden, das der Beschreibung des Tatwerkzeugs entspricht, weder am Tatort und in der näheren Umgebung noch in Jelinskis Wohnung, auch nicht im Gartenhaus und in seinen Räumen im Museum.«

»Das heißt, dass die KTU das Messer entweder übersehen oder der Täter es mitgenommen hat«, ergänzte Fischbach.

Außerdem war es selbst für die beste Polizei einfach unmöglich, alle Einwohner der Stadt gleichzeitig zu filzen und die Oker bis zum Harz auszupumpen. »Soweit für heute Morgen«, sagte Hella. »Ich denke allerdings, wir sollten uns mit dem, was Indigo-Jay gesagt hat, nicht zufriedengeben. Was hältst du davon, in der Szene weiterzugraben?«

Der wenig begeisterte Ausdruck auf Kais Gesicht verriet, dass er sofort verstanden hatte, was sie meinte. Ihm drohte ein Vormittag mit Telefonaten und Recherche am Computer. Auf Hella wartete eine Zeugenbefragung, die sie ohne männliche Begleitung für Erfolg versprechender hielt. Sie setzte Kai am Kommissariat ab und fuhr weiter in Richtung Prinzenpark.

Trotz geklärter Identität blieb Bernhard Jelinski ein Mysterium. Wenn sie seinen Mörder finden wollte, musste sie herausfinden, was den Menschen ausgemacht hatte, seine Stärken, seine Schwächen. Den Künstler konnte Hella nicht beurteilen, diesbezüglich würde sie seine Mitarbeiter befragen und auch darüber, was sie von ihm als Museumsdirektor hielten. Die Person jedoch, die ihm privat vermutlich am Nächsten gestanden hatte, war seine Ehefrau Désirée.

Halb elf, die Sonne stach vom Himmel, als Hella ihren Wagen vor dem alten Prachtbau in der Herzogin-Elisabeth-Straße parkte. Die schwere Haustür ließ sich nach dem Summton ganz leicht öffnen. Zur Wohnung im zweiten Stock versperrte ihr allerdings die Haushälterin den Weg. »Die Frau Professor ist für niemanden zu sprechen, sie muss sich auf ihren Sommerkurs vorbereiten.«

»Lass dich von nichts und niemandem aufhalten, wenn es darum geht, einen Mord aufzuklären. Aber du musst nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, sonst machst du dir unnötig Feinde.« Die Stimme in ihrem Ohr klang wie die von ihrem Dad. In solchen Augenblicken vermisste sie ihren Vater sehr. »Es dauert nur einen Moment. Ich brauche wichtige Informationen von Frau Dr. Jelinski.«

»Ich sagte Ihnen doch, dass die Frau Professor …«

Wie wohl ihr Vater in dieser Situation reagiert hätte? Es musste einen Mittelweg geben. »Ich kann sehr lästig werden und viel Ärger machen«, erwiderte sie und setzte ihr gütigstes Lächeln auf. – Siehe da, wie durch ein Wunder brach das Eis. Er hatte ja so recht: Es kam immer auf den richtigen Ton an.

Durch das Blätterdach der alten Linde hinter dem Haus rieselte ein angenehm kühler Luftzug. Die Professorin hatte es sich in einem Liegestuhl im Schatten bequem gemacht und las. Weitere Bücher und ihr aufgeklapptes Laptop lagen auf dem schmiedeeisernen Gartentisch, um den ein paar Klappstühle standen.

Als sie Hella erkannte, unterbrach Désirée Jelinski die Lektüre. Sie war sichtlich nicht angetan von ihrem Erscheinen, rang sich aber ein Lächeln ab. »Eine deutsche Kommissarin findet immer einen Weg«, folgte die unüberhörbar ironisch gemeinte Begrüßung. Sie streckte Hella einen langen, sehnigen Arm mit schmaler weißer Hand entgegen und bot ihr Platz an. Auf einem der Stühle lag die aufgeschlagene Braunschweiger Zeitung. Wie nicht anders zu erwarten, füllte die Story um Straßenherz die ganze erste Seite.

»Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass ich mich hier nicht nur deshalb aufhalte, weil es im Schatten so angenehm kühl ist …«

»Natürlich.«

»Seit sieben Uhr klingelt fast ununterbrochen das Telefon. Jeder will etwas über Bernhard wissen, Interviews soll ich geben und so weiter … Deshalb habe ich Irma gesagt, dass ich für niemanden zu sprechen bin.« Sie wischte die krebsrote Haarsträhne aus ihrem zerknittert wirkenden Gesicht, vermutlich hatte sie kaum geschlafen.

»Ich bewundere Sie, dass Sie bereits wieder arbeiten, nach dem Schock von gestern.« Ein Versuch, Zugang zu dieser stolzen Frau zu finden, ohne ihren Widerspruchsgeist zu reizen oder ihr zu nahe zu treten.

»Ach, wissen Sie: Die Arbeit bleibt, auch wenn er mich verlassen hat.« In dem Tonfall klang der Satz allerdings weniger traurig als bitter. Als hätte sich ihr Mann bereits lange zuvor von ihr getrennt.

»Sie werden verstehen, dass ich versuche, mir ein Bild von Ihrem gemeinsamen Leben zu machen. Nur auf diese Weise finde ich Anhaltspunkte, die mir helfen, das Tötungsdelikt aufzuklären. Das hat nichts mit Verdacht oder Anschuldigung zu tun. Das ist meine Arbeit als Ermittlerin«, sagte Hella.

Die Witwe sah sie verblüfft an, offenbar hatte sie nicht erwartet, dass sich die Polizei die Zeit nehmen würde, ihre Arbeit zu erklären, und es schien ihr zu imponieren. »Was möchten Sie denn wissen?«, gab sie grünes Licht.

»Sie werden zugeben, dass es verwundert, wenn ausgerechnet Sie als die Person, die Ihrem Mann am Nächsten stand, nichts von seinem Doppelleben wusste. Er musste doch viele Stunden nachts unterwegs gewesen sein. Roch er nicht nach Farbe oder Lack nach diesen Touren?«

»Nein, ich habe nie etwas bemerkt. Vielleicht weil ich keinen Grund hatte, etwas Derartiges zu vermuten. Ich wollte auch nicht …« Sie stockte.

»Sie meinen, es hat Sie nicht interessiert, was Ihr Mann mit seiner Freizeit anfing?«

»Vielleicht …«, erwiderte Désirée Jelinski kühl.

»Hatten Sie ein gemeinsames Schlafzimmer?«

Den Unmut über die indiskrete Frage hatte die Witwe schnell beiseitegewischt, aber sie wirkte zunehmend nervös. Offenbar fühlte sie sich eingekreist und ihr wurde mehr und mehr bewusst, dass jede Antwort genau abgewogen wurde.

»Nein, aber das heißt noch nicht … Viele Ehepaare schlafen aus unterschiedlichen Gründen getrennt.«

»Es bedeutet nur, dass Sie kaum wissen konnten, ob Ihr Mann nachts in seinem Bett schlief oder nicht.« Das bestätigte die Aussage von Désirée Jelinski. Ihre Aufgeregtheit legte sich wieder.

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Sechsundzwanzig Jahre.«

»Waren Sie glücklich in dieser Ehe?« Die Frage rückte näher an die heran, die sich in den meisten Fällen im Zusammenhang mit langjährigen Ehen aufdrängte: Wer ging fremd?

»Ja, das waren wir«, antwortete die Witwe ohne lange Überlegung.

Bitte erspare mir das gleiche Spiel wie in der Gerichtsmedizin, dachte Hella. Den Gedanken hatte Désirée Jelinski offenbar von ihrem Gesicht abgelesen. Sie schluckte, und ihr Teint verfärbte sich rosa. »Am Anfang hatten wir wunderbare Jahre«, begann sie, und dass sie die Erinnerung nicht kaltließ, bewies das leise Zittern in ihrer Stimme. »Wir lernten uns auf einer Museumstagung kennen und verhielten uns anfangs wie Hund und Katze. Er hatte bei Diskussionen eine arrogante Art an sich, die mich abstieß, andererseits auch wieder anzog. Ein auftrumpfend selbstbewusster, fesselnder Redner, der nicht nur hohles Geschwätz von sich gab, sondern die Tiefe mancher Kunstwerke in Worte fassen konnte wie kein Zweiter …«

»Sie haben ihn bewundert?«

»Ja, das kann man sagen. Wir zogen uns gegenseitig an und wohnten in derselben Stadt …«

»Worauf Sie sich näherkamen und schließlich heirateten und beide Karriere machten?«

»Wie Sie sagen. Bernhard war nicht nur fachlich hervorragend, er war auch ein unvergleichlicher Kommunikator und knüpfte Kontakte in alle Kreise. Das hat ihm schließlich seine erste Assistentenstelle in München beschert, und er schaffte es, sich immer weiter nach vorn zu arbeiten. Dadurch half er auch mir.«

»Und wie stand es um Ihre privaten Pläne, Familie und so weiter?«

»Wir hatten damals kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn auch ich machte meinen Doktor und war als Hilfswissenschaftlerin voll eingespannt …«

»Dachten Sie nie an Kinder?« Hier zögerte die Professorin mit ihrer Antwort.

»Doch, doch … aber dann wechselte Bernhard die Stelle und musste sich einarbeiten, und ich kämpfte um meine erste Professur.«

»Blieb neben den ehrgeizigen Plänen überhaupt noch genug Zeit für Ihre Ehe?«

»Ich gebe zu, darüber hätten wir früher nachdenken sollen …« In ihren Gesichtsausdruck mischte sich Bedauern, vielleicht sogar Schuldgefühle.

»Und das hatte Folgen …«

»Wie meinen Sie das?«, schnappte Désirée Jelinski plötzlich. Offenbar hatte es wehgetan. Hella ignorierte die Reaktion und sprach weiter in dem beruhigenden Tonfall: »Wenn man sich selten sieht, kann es zur Entfremdung kommen, das ist nicht ungewöhnlich.« Die Witwe musste selbst abwägen, ob sie mehr Details, vielleicht auch demütigende, preisgab, niemand konnte sie dazu zwingen.

»Sie werden es ohnehin herausfinden«, gab sie schließlich nach. »Ja, er nahm hin und wieder mit, was sich ihm anbot. Die Frauen himmelten ihn an. Er konnte sie sich aussuchen. Beim ersten Mal kam er noch reumütig mit einem Blumenstrauß und schwor mir, dass es ein Ausrutscher gewesen sei …«

»Aber Ihrer Ehe hat das offenbar keinen Abbruch getan. Haben Sie nicht darunter gelitten?«

»Damals schon, aber ich wollte nur ihn, er war mein Mann, meine große Liebe. Irgendwo verstand ich ihn sogar. Wenn man einem Hund immer wieder eine Wurst vor die Schnauze hält, schnappt er früher oder später zu, auch wenn er nicht soll. Außerdem waren wir ein gut eingespieltes Team, und als Museumsdirektor brauchte er mich als Partnerin, die ihre Rolle kannte.«

Irma, die Haushälterin, erschien mit einem Tablett in der Hand und brachte Kaffee und Gebäck, wobei das Geschirr so merkwürdig klapperte, als sie es vor Hella auf den Tisch stellte. Offenbar war Irma nachtragend. Das machte sie in Hellas Augen eher sympathisch. Sie mochte Menschen mit Charakter.

»Doch irgendwann verliert eine solche Ehe ihren Sinn, oder?«, fragte sie, nachdem die Haushälterin sich zurückgezogen hatte.

»Zwischendurch gab es immer wieder schöne Momente. Zugegeben, mit der Zeit wurden sie immer seltener, aber wir hatten viele gemeinsame Interessen und ergänzten uns. Seine Affären dauerten selten länger als ein, zwei Monate. Ich lernte, damit umzugehen.«

Auf einmal klang ihre Stimme kalt, selbstbeherrscht. Anscheinend war sie aus der Erinnerung wieder aufgetaucht. »Es tut mir leid, Frau … Budde, aber ich habe noch einiges zu tun. Wenn Sie für heute keine Fragen mehr haben …«

Hella erhob sich, sie hatte mehr erfahren als erwartet. »Ich danke Ihnen für die Offenheit, aber bitte halten Sie sich weiter zu unserer Verfügung.«

Auf dem Weg in die Altstadt spulte Hella die Befragung in ihrem Kopf noch einmal ab. Désirée Jelinski hatte unter den wechselnden Liebschaften ihres Mannes gelitten, war aber bei ihm geblieben. Angeblich hatte sie gelernt, damit umzugehen, das hieß auch, die Eifersucht zu kontrollieren. Trotzdem fragte sie sich, wie die attraktive Frau es über so viele Jahre ertragen konnte, ständig zurückgesetzt und gedemütigt zu werden von dem Mann, den sie über alles liebte und für den sie immer da war. Ihr Verhalten erklärte sich jedenfalls aus dem, was sie sagte. Désirée Jelinski war gewohnt, dass ihr Mann fremdging, und wollte gar nicht genau wissen, was er mit seiner Freizeit anstellte, um sich selbst nicht mehr als nötig zu verletzen. Selbst dass sie angeblich nichts von der zweiten Identität ihres Mannes als Straßenherz wusste, war nachvollziehbar. Im Nachhinein musste es sie tief getroffen haben zu erfahren, dass sie auch als Vertrauensperson keine Rolle mehr gespielt hatte. Deshalb ihr verstocktes Verhalten in der Gerichtsmedizin.

»Wenn er bei Frauen so viel Erfolg hatte wie in seinem Beruf, dann gab es nicht nur für Désirée Jelinski Gründe zur Eifersucht«, folgerte Kai Fischbach, der wieder an seinem Platz vor dem Bistro am Kohlmarkt saß und den Tauben gelegentlich kleine Stücke seines Thunfisch-Baguettes gönnte.

»Ganz recht, Kai. Was könnte das für uns bedeuten?« Hella schenkte ihm ein aufforderndes Lächeln, während sie überlegte, was sie von der Speisekarte bestellen sollte.

»Und ich dachte, ich könnte heute einmal früher Schluss machen«, erwiderte er, worauf sich Hellas Lächeln augenblicklich in eine strafende Miene verwandelte. »Nur ein Scherz«, beschwichtigte er. »Stehe natürlich uneingeschränkt zur Verfügung, wenn ich von meiner Chefin gebraucht werde.«

»Einen mittleren Salat und ein Mineralwasser medium, bitte«, gab Hella dem Kellner in Auftrag.

»Das muss dir doch nicht gleich den Appetit verschlagen«, erwiderte darauf Kai.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, was ist schon ein Salat? Mittags braucht der Mensch etwas Vernünftiges …«

»Ein Salat ist also unvernünftig?« Sie war gespannt, wie er sich herausreden würde.

»In deinem Fall ja«, überraschte er sie. Der Mann hatte Mut.

»Und welcher Fall ist mein Fall?«

Er schluckte. Jetzt musste er bereits das drohende Damoklesschwert über seinem Haupt spüren. Er zögerte, wollte zurückrudern. »Ich meine … ein mittlerer Salat … Wo doch jeder sieht …«

Jetzt hatte er sich verplappert. »Was sieht jeder?«

Er senkte den Kopf wie vor seinem Scharfrichter – »Dass du Hunger hast …«

Hella sah ihm fest in die Augen. Aber sein schuldbewusster Hundeblick war unwiderstehlich. Sie mussten beide lachen.

Wenn Löwen weinen

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