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Jugend auf dem Land – Reiten, Feuerwehr und Bushaltestelle?
ОглавлениеEin Gespräch mit Dr. Frank Tillmann, Deutsches Jugendinstitut
Den ländlichen Raum gibt es nicht. Die Lebensbedingungen von Jugendlichen allerorten sind unterschiedlich. Die Frage nach der Benachteiligung durch den ländlichen Raum lässt sich dennoch definitiv mit ja beantworten. Abgesehen von ihren politischen Mitsprachemöglichkeiten, die von ihrer Altersgruppe in der Stadt als gleichermaßen schlecht bewertet werden, fühlen sich Jugendliche in ländlichen Räumen bei verschiedenen Fragen, die ihnen bezüglich ihres Herkunftsortes wichtig sind, benachteiligt.
Wie gestalten junge Menschen ihre Freizeit, was bewegt und beschäftigt sie?
Eine wichtige Entwicklungs aufgab e im Jugendalter ist die Ablösung vom Elternhaus und der Aufbau eigener sozialer Netzwerke. Von Gleichaltrigen natürlich, auch um sich der Erwachsenenwelt zu entziehen. Es geht darum, sich selbst zu finden, Vorlieben, Abneigungen, eigene kulturelle Ausdrucksformen zu entdecken. Die Freizeit ist der Raum, in dem das möglich wird.
Welches Bild von Jugend haben die jungen Menschen selbst?
Sie sehen sich durchaus als benachteiligte Interessengruppe. Sie haben das Gefühl, als Bevölkerungsgruppe nicht ernst genommen zu werden. Sie sehen auch, dass Altersgruppen um Ressourcen konkurrieren und verstehen nicht, warum Seniorenbegegnungsstätten aufgebaut und Jugendclubs geschlossen werden, sie noch dazu an öffentlichen Plätzen nicht geduldet werden. Das verstärkt sich im ländlichen Raum, weil da die Interessengegensätze zwischen den Generationen deutlicher werden angesichts der knappen Ressourcen oder des demografischen Wandels, der in Städten nicht so auffällt, selbst wenn er stattfindet.
Wie erleben junge Menschen das Leben in ländlichen Regionen?
Jugendliche hier sehen sich Vereinzelungstendenzen gegenüber. Wenn sich das Image eines Landkreises verschlechtert, dann sehen auch die Jugendlichen keine Perspektiven mehr für sich. Es kommt zur Abwanderung. Dann finden sie in ihrem Dorf oft keine Gleichaltrigen mehr, die eine wichtige Referenzgruppe für die benannten Entwicklungsaufgaben sind. Oder wenn, dann ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass sie gemeinsame Interessen teilen. Die möglichen Treffpunkte werden immer weniger, Jugendclubs werden geschlossen. Und was die Freizeit betrifft: Sie schrumpft bei Fahrtwegen zwischen Schule und Wohnort von bis zu zwei Stunden täglich und mehr auf ein Minimum zusammen.
Welche Faktoren bezüglich ihrer ländlichen Herkunftsregionen sind Jugendlichen wichtig?
In unserer Studie haben wir in Gruppendiskussionen mit Jugendlichen im Alter von 16 bis 24 Jahren verschiedene Aspekte identifizieren können, beispielsweise die Beschäftigungsperspektive: Welche Einkommensmöglichkeiten habe ich, kann ich meinen Wunschberuf hier ausüben? Dann eine weiterführende Bildung: Welche Anschlüsse habe ich hier an die Schule? Diese beiden Faktoren sind es vor allem, die entscheiden, ob sie ihren Heimatkreis verlassen. Grundsätzlich haben Jugendliche eine hohe Identifikation mit ihrer Herkunftsregion. Wenn, dann gehen sie häufig nur als Zugeständnis an ihre berufsbiografische Entwicklung oder in selteneren Fällen, wenn sie sich Freiheitsgewinne versprechen, weil der höhere Konformitätsdruck ihrer persönlichen Entwicklung im Wege steht.
Wie steht es um Freizeitangebote?
Wir konnten feststellen, dass Mädchen in den von uns untersuchten Landkreisen ein geringeres Angebot vorfinden, das mit Karnevalsvereinen und Reiten noch dazu sehr mit Geschlechterklischees behaftet ist. Den Jungs wird nahegelegt, sich bei der örtlichen Jugendfeuerwehr zu engagieren oder dann später im Schützenverein. Da ist kaum Angebotsvielfalt zu erkennen.
Das Angebot der Jugendarbeit ist natürlich ein wichtiger Faktor. Wir konnten feststellen, dass Mädchen in den von uns untersuchten Landkreisen ein geringeres Angebot vorfinden, das mit Karnevalsvereinen und Reiten noch dazu sehr mit Geschlechterklischees behaftet ist. Den Jungs wird nahegelegt, sich bei der örtlichen Jugendfeuerwehr zu engagieren oder dann später im Schützenverein. Da ist kaum Angebotsvielfalt zu erkennen. Natürlich wollen sich Jugendliche auf dem Land auch mit Gleichaltrigen treffen oder an anderen Orten Freizeitangebote aufsuchen. Weil diese physischen Gesellungsformen wegen der eingeschränkten Mobilität aber nicht so einfach verfügbar sind, ist es umso wichtiger, sich in sozialen Netzwerken zu begegnen und dort virtuelle Räume zu haben. Andere Freizeitmöglichkeiten konfrontieren die Jugendlichen oft mit widersinnigen Bedingungen, wenn sie z.B. in ihr Schulgelände einbrechen bzw. über einen Zaun klettern müssen, um die Sportstätten nach Schulschluss nutzen zu können, obwohl die Schule in vielen ländlichen Orten die letzte öffentliche Institution ist. Oder Öffnungszeiten von Jugendclubs, wenn es sie überhaupt noch gibt: Gerade dann, wenn Jugendliche Zeit haben, nämlich am Wochenende, sind die Jugendfreizeiteinrichtungen in der Regel zu.
Benachteiligung und Vereinzelung – Wie bewältigen Jugendliche das?
Hier wird viel übers Internet kompensiert, durch soziale Netzwerke und Unterhaltungsmedien wie Online-Spiele. Der Breitbandausbau im Land ist aber noch sehr rückständig. Ansonsten organisieren sie sich schon ihre eigene Mobilität, lassen sich von Freunden abholen. Auch nicht motorisierte Mobilität, sprich Fahrrad, ist ganz wichtig.
Welche Möglichkeiten zur Teilhabe und Partizipation werden jungen Menschen in ländlichen Räumen geboten?
Viele Landkreise geben sich große Mühe. Oft kommen den Jugendlichen aber die Errungenschaften, die sie durch zähe Verhandlungen erzielen, selbst gar nicht mehr zugute, weil sie dann in einer anderen Lebensphase sind. Und weil die Formate überhaupt nicht jugendorientiert sind, z.B. formalisierte Gremienarbeit, wollen sich nicht so viele beteiligen. Das ist ein doppeltes Dilemma. Gleichzeitig unterschätzen Politik und Verwaltung die Beteiligungsbedürfnisse der Jugendlichen. Es ist absolut unzutreffend, dass sie nur daddeln und in Ruhe gelassen werden wollen. Die Entscheider*innen haben außerdem ein Problem damit, wenn Macht und Verantwortung auseinanderfallen und so ist das tendenziell bei Jugendbeteiligung: Jugendliche haben Mitspracherechte, müssen aber beispielsweise für Budgetentscheidungen nicht selbst geradestehen. Für Entscheidungsträger*innen ist das oft ein Grund, sich davor zu hüten, Macht abzugeben.
Was müsste passieren?
Jugendliche brauchen schnelle Erfolgserlebnisse, wenn es um Partizipation geht. Sie müssen Selbstwirksamkeit erfahren. Sie wollen wissen, was aus ihrer Stellungnahme geworden ist, egal ob erfolgreich oder nicht. Wir empfehlen in solchen Beteiligungsverfahren, mehr auf e-Partizipation umzustellen, weg von der klassischen Gremienarbeit. Jugendliche aus einem ländlichen Raum haben mir mal geschildert, sie suchen einfach einen Ort, den sie nach ihren Vorstellungen gestalten können, ob Jugendraum oder Schrebergarten ist dabei nicht so wichtig. Wichtig ist, dass nicht alles vorgegeben ist. Letztlich ist es auch an der Zeit, mehr in eine Art aufsuchende Partizipation einzutreten, weil eben die herkömmlichen Beteiligungsformate für Jugendliche einfach nicht passen oder zu hochschwellig sind.
Wir danken der kubi-Redaktion und FrankTillmann für die Nachdruckgenehmigung. Erstveröffentlicht in: kubi. Magazin für Kulturelle Bildung, Nr. 18 „Land – alles oder nichts!?“ Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Berlin 2020, S. 56–59. Das Interview wurde geführt und verfasst von Susanna M. Prautzsch.