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Meine bisherigen Feldstudien in Ostdeutschland brachten einen Mangel an Zukunftsperspektiven für viele Dörfer und kleine Städte zutage. Viele Menschen glauben weder an einen wirtschaftlichen Aufschwung noch an den Zuzug neuer und jüngerer Bürger*innen. Zahlreiche kulturell aktive Bürger*innen hoffen, den Status Quo irgendwie halten zu können, ohne wirklich an eine Verbesserung der Situation zu glauben. Häufig haben die Menschen schon gar keinen Mut mehr, Visionen für die Zukunft zu entwickeln. „Wer weiß, wie lange es das noch gibt.“ Diesen Satz hörte ich häufig, ob im Heimatmuseum, im Jugendclub, beim Sportverein oder in der Kirchgemeinde.

Diese Haltung ist gerade für jüngere Menschen wenig inspirierend, um sich einzubringen. Zuverlässige kulturelle Bildungsprogramme sollten hier entgegensteuern und ermuntern, gemeinsam Perspektiven für ein gutes Zusammenleben zu entwickeln. Unmut sollte man dabei nicht überhören, denn in ihm sind die Utopien enthalten, die als Grundlage dieser Zukunftsdiskurse dienen können.

Heimat in der kulturellen Praxis

In Verbindung mit dem Begriff Heimat wird häufig auch von Identität gesprochen. Heimat bezieht sich auf den Raum, auch wenn dieser nicht strikt einzugrenzen ist, während Identität eine innere Struktur umschreibt. Heimat und Identität werden häufig erst zum Thema, wenn eine Störung sozialer und kulturaler Tatbestände vorliegt.

Identität steht für die „Übereinstimmung des Menschen mit seiner Umgebung“ und wird als „Gegenbegriff zur Entfremdung“ angewendet.9 Rahel Jaeggi beschreibt Entfremdung als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Weiter erklärt sie: „Eine entfremdete ist eine defizitäre Beziehung, die man zu sich, zur Welt und zu den Anderen hat.“10 Entfremdung enthält den vielschichtigen Begriff „fremd“. In der deutschen Sprache zeichnet sich das dazugehörige Substantiv durch seine Genusvarianz aus: „der/die/ das Fremde“11 „Der Fremde“ ist der Unbekannte, dem man im eigenen und im fremden Raum gegenübertritt. Dabei existiert „der Fremde“ nicht per se, sondern wird zum Fremden gemacht; ein Vorgang, der in den Kultur- und Sozialwissenschaften als „Othering“ bezeichnet wird. „Die Fremde“ ist die Möglichkeit, die einem als irrelevant, als Option oder auch als unausweichliches Schicksal erscheint. „Das Fremde“ aber findet sich innerhalb des Eigenen. Es sind Dinge, Vorkommnisse und Anforderungen, die fremd erscheinen, die das Gewohnte infrage stellen und die nach einer Auseinandersetzung verlangen. Fremdsein bezeichnet keine Eigenschaft, sondern immer ein Verhältnis. Unmut über Fremde verweist nicht nur auf eine Krise in der Beziehung zum Fremden, sondern auch zu sich selbst.

Bildungsprojekte können anknüpfend an die Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte den Wandel des eigenen Heimatortes und der Heimatregion thematisieren, als Voraussetzung für die Überwindung von Entfremdungserfahrungen. So schaffen sie vor Ort Vertrauen durch Wertschätzung der Biografien und der lokalen Gegebenheiten.

Identität kann nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist als Prozess zu verstehen, der ständig neu ausgehandelt wird.

Gemeinsames kulturelles Engagement kann identitätsstiftende Kraft entfalten. Viele Initiativen, die ich während meiner Feldstudien erkundete, haben das Ziel, der Entfremdung entgegenzuwirken und den Menschen Räume und Zeiten zu öffnen, in denen sie sich mit etwas identifizieren können. Denn, wie Jaeggi ausführt, verbinden wir uns in der Identifikation mit dem „Wohl oder Geschick“ von etwas oder jemandem.12 Identität kann nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist als Prozess zu verstehen, der ständig neu ausgehandelt wird.

Daher sollten kulturelle Projekte die jeweiligen Identitätsdebatten vor Ort nicht ausblenden, weil sie oft die Ursache von Blockaden im kommunikativen Prozess sind. Vielmehr könnten sie fragen, wo und wozu Grenzziehungen stattfinden, bevor sie diese Grenzen überschreiten und den Menschen neue Perspektiven bieten können.

In vielen Städten und Dörfern, die ich während meiner Forschung kennenlernte, erklärten mir meine Gesprächspartner*innen, dass es heute weniger Zusammenhalt als früher gebe und es immer schwieriger werde, jüngere Menschen zu motivieren, sich am Kulturleben zu beteiligen. Dennoch erlebte ich sehr schöne Veranstaltungen und Feste, die generationsübergreifend organisiert werden. Auch lernte ich Vereine kennen, die keine Nachwuchssorgen haben, weil es durch starke Vorbilder gelingt, immer wieder Kinder und Jugendliche zu finden, die Verantwortung für ihren Heimatort übernehmen wollen. Wenn ich fragte, wie dies gelingt, hörte ich häufig, jeder wisse, was er zu tun habe. Es besteht also Routinewissen.

Dieses Wissen, mit dem wir auch unseren Alltag bestreiten, erleichtert Abläufe und regelt Verantwortlichkeiten. Es verweist auf die unproblematischen Seiten der Lebenswirklichkeit.13 Bildungsinitiativen sollten danach fragen, was vor Ort gut funktioniert und von den Erfahrungen und Netzwerken der Akteur*innen profitieren.

Dann lässt sich im nächsten Schritt erkunden, ob dieses Routinewissen auf weitere Aktivitäten übertragbar ist. Um Routinen und kulturelle Praxen zu erlernen, braucht es zuverlässige Angebote. Gerade angesichts der Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels sind Kontinuitäten notwendig. Es gilt, den einheimischen und ankommenden Menschen, die vor Ort an einer offenen und lebendigen Gesellschaft arbeiten, Wertschätzung entgegenzubringen und ihnen zuverlässig zur Seite zu stehen. Denn wir haben es in der Hand, welche Bedeutungen der Heimatbegriff in Zukunft transportieren wird.

Wir danken der kubi-Redaktion und Dr. Juliane Stückrad für die Nachdruckgenehmigung. Erstveröffentlicht in: kubi. Magazin für Kulturelle Bildung, Nr. 16 „Heimat – der rechte Begriff?“, Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Berlin 2019, S. 6–11

Literatur

Bausinger, Hermann: „Heimat und Identität“, in: Moosmann, Elisabeth (Hrsg.): Heimat. Sehnsucht nach Identität. Berlin 1980, S. 13–29, hier S. 13–22.

Bausinger, Hermann et al. (Hrsg.): Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1989, S. 205–210.

Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse. Opladen 2001, S. 304.

Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hrsg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld 2016.

Danielzyk, Rainer/Krüger, Rainer: „Region Ostfriesland? Zum Verhältnis von Alltag, Regionalbewußtsein und Entwicklungsperspektiven in einem strukturschwachen Raum“, in: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Frankfurt/Main, New York 1994, S. 91–121, hier S. 115.

Gottowick, Volker: Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Präsentation. Berlin 1997, S. 136, 334.

Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt/Main 1972, S. 48.

Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines philosophischen Problems. Frankfurt/Main 2005, S. 22–23.

Köhle-Hezinger, Christel: „Kulturen der Landschaft – Kulturen der Heimat. Regionale Kulturen“, in: Welch Guerra, Max (Hrsg.): Kulturlandschaft Thüringen. Weimar 2010, S. 96–117, hier S. 103–104.

Ploch, Beatrice/Schilling, Heinz: „Region als Handlungslandschaft. Überlokale Orientierung als Dispositiv und kulturelle Praxis: Hessen als Beispiel“, in: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Frankfurt/Main, New York 1994, S. 122–157, hier S. 124.

Stückrad, Juliane: „Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit.“ Eine Ethnographie des Unmuts am Beispiel der Bewohner des Elbe-Elster-Kreises im Süden Brandenburgs. Kiel 2010, S. 165.

Stückrad, Juliane: Verantwortung, Tradition, Entfremdung. Zur Bedeutung von Kirche im ländlichen Raum. Eine ethnographische Studie in drei Dörfern im Gebiet des Regionalkirchenamtes Leipzig. Kohrener Schriften 2. Großpösna 2017, S. 26.

1S. Stückrad 2017, S. 26.

2Vgl. Costadura/Ries 2016.

3S. Köhle-Hezinger 2010, S. 103 f.

4S. Bausinger 1980, S. 13–22.

5S. Bormann, S. 304.

6S. Ploch/Schilling 1994, S. 124.

7S. Greverus 1972, S. 48.

8S. Stückrad 2010, S. 194.

9S. Bausinger 1989, S. 205–210.

10 S. Jaeggi 2005, S. 22 f.

11 S. Gottowick 1997, S. 136, 334.

12 S. Jaeggi 2005, S. 168.

13 S. Berger/Luckmann 2003, S. 44 f.

Auf dem Lande alles dicht?

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