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„Jugendliche brauchen Freiräume“
ОглавлениеEin Gespräch mit Klaus Farin, Gründer des Archivs der Jugendkulturen in Berlin und Vorsitzender der Stiftung Respekt!, über Jugendkultur heute, Fachkräftemangel und Zukunftsperspektiven.
Klaus Farin, vor 75 Jahren wurde schon über „die heutige Jugend“ geschimpft, heute wieder oder immer noch. Etwas Neues oder eine Konstante?
Dass „die Jugend“ schlecht, ist, ist an sich nichts Neues. Seit Sokrates vor mehr als 2.300 Jahren heißt es über jede Jugend, sie sei schlimmer und unengagierter als die letzte – sprich: wir selbst. Mit der realen Jugend hat diese Einschätzung allerdings wenig zu tun, sie ist viel mehr einer Rosarot-Weichzeichnung und idealisierenden Glorifizierung unserer jeweils eigenen Jugendphase geschuldet.
Wie wild oder angepasst ist denn dann die „heutige Jugend“ im Vergleich zu den Jugendlichen vor 25, 50 und 75 Jahren?
Wir haben es heute mit einer der bravstenjugendgenerationen seit Jahrzehnten zu tun. Ob das gut oder schlecht ist, muss jeder selbst entscheiden. Trotz im Alltag von Jugendlichen allseits präsenter Pornografie findet zum Beispiel der erste Geschlechtsverkehr heute durchschnittlich ein Jahr später als noch in den 1980er Jahren statt und gehen Jugendliche überhaupt eher prüde als offensiv mit dem Thema um: Bei den 14-jährigen Mädchen, ergab eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, sank der Anteil derer, die bereits Sex hatten, seit der letzten Erhebung im Jahr 2005 von 12 auf 7 %. Bei den gleichaltrigen Jungen fiel er sogar von 10 auf 4 %. Mehr als ein Drittel der jungen Frauen und Männer hat bis zu einem Alter von 17 Jahren noch keinen Geschlechtsverkehr, und in der Regel erleben Jugendliche ihr erstes Mal in einer festen Beziehung. Ähnlich brav sieht’s im Bereich der Rauschmittel aus: Der Konsum von Alkohol, Tabak und Cannabis ist unter Jugendlichen in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Die Mehrheit der Unter-18-Jährigen trinkt keinen Alkohol mehr. Nur bei den Über-25-Jährigen in ländlichen Regionen ist Alkohol immer noch mehrheitlich ein unverzichtbares Grundnahrungsmittel. Die Raucherquote ist unter den Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren auf einen neuen historischen Tiefstand gesunken: Nur noch 11,7 % der Jugendlichen in Deutschland rauchen. Nur 2,3 % der 12- bis 19-Jährigen kiffen derzeit regelmäßig, also häufiger als zehnmal pro Jahr. Dies ist der faktische Kern der schreienden Schlagzeilen, die von „immer mehr“ jugendlichen Drogenkonsumenten bramarbasieren und schon wahlweise „ein Drittel“ oder gar „jeden Zweiten“ der Jugendlichen als Drogenkonsumenten outen. Der gängigste Medientrick, um hohe Fallzahlen zu generieren (wenn diese nicht gleich wild erfunden werden): Man nennt nicht die niedrigen Zahlen der realen Konsument*innen, sondern die natürlich wesentlich höheren Zahlen der „Lebenszeitprävalenz“, also diejenigen, die irgendwann in ihrem Leben „schon mal probiert“ haben, auch wenn diese nach dem Ausprobieren nie wieder gekifft, geraucht oder Alkohol getrunken haben. Im Vergleich der Generationen bedeutet das: Trotz im Vergleich zu den 1970er Jahren wesentlich erleichterter Zugänge zu Rauschmitteln und weit verbreiteter Angebotsstrukturen saufen, rauchen und kiffen Jugendliche heute deutlich weniger und seltener als ihre Eltern.
Auch Jugendgewalt und -kriminalität sinken in Deutschland seit mehr als einem Jahrzehnt signifikant. Auch die immer wieder behauptete qualitative Steigerung der Gewalt – immer brutalere Täter – lässt sich durch keine Studie oder Statistik belegen. Schutzgelderpressungen auf den Schulhöfen, zwanzig gegen einen, sadistische Quälereien, Einsatz jeglicher Art von Waffen – all das gab es auch schon in den 1950er, 60er und 70er Jahren, zum Glück sehr selten, wie heute auch. Der einzige Unterschied: Jede einzelne dieser Straftaten macht heute Schlagzeilen und die begleitenden Kommentare der Reporter vermitteln den Eindruck, diese Taten seien normal, die Regel und nicht eine Ausnahme.
Unsere Gesellschaft ist immer mehr auf Leistung fixiert und die zentrale Maßgabe an Jugendliche lautet: Pass dich an, sei unauffällig, produziere und konsumiere. In der neoliberalen Gesellschaft zählt nur das, was einen materiellen Wert hat. Dann darf man sich auch nicht wundern, wenn Jugendliche sich dem anpassen. Die große Mehrheit der Jugendlichen heute ist so brav, unauffällig, leistungsorientiert und extrem karrierefixiert, wie die Erwachsenen sie haben wollten. Rebellion ist nicht ihr Ding. Auf die Frage: „Was möchtest du bei der Erziehung anders machen als deine Eltern bei dir?“ antworten neun von zehn Jugendlichen: Nichts.
Gibt es bei all den vermeintlich absoluten Aussagen über „die Jugend“ überhaupt eine, die für Sie von zeitloser Richtigkeit ist?
Ja: Jede Gesellschaft hat die Jugend, die sie verdient.
Will heißen?
So hält die Jugend der Gesellschaft immer einen Spiegel vor. Jede Tendenz innerhalb der Jugend ist eine Reaktion auf die Gesamtstimmung, wobei die Jugend immer nur einen Schritt den Alten voraus ist.
Jugendliche leben nicht in einem Vakuum, sondern in einer Welt, deren Regeln und Rahmenbedingungen von Erwachsenen bestimmt werden. Jugendliche werden in der Regel nicht gefragt, ob ihnen diese Welt gefällt, ob sie vielleicht eine andere Schule hätten, eine andere Politik, andere Lebensziele. Sie dürfen in keinem Bereich ihres Lebens diejenigen wählen, die für sie entscheiden. Ihnen bleibt nichts weiter übrig, als sich den Erwachsenen so gut wie möglich anzupassen. Deshalb sind Jugendliche ihren eigenen Eltern sehr viel ähnlicher, als sie es glauben. So hält die Jugend der Gesellschaft immer einen Spiegel vor. Jede Tendenz innerhalb der Jugend ist eine Reaktion auf die Gesamtstimmung, wobei die Jugend immer nur einen Schritt den Alten voraus ist. Zum Beispiel in den 1950ern: Die Elterngeneration eiferte immer noch dem militärischen Landser nach. Die Jugend aber kaut Kaugummi, liebt Jeans statt Uniformen, hört Rocken Roll oder den verpönten Jazz – sie ermöglicht die Amerikanisierung und damit die Umwandlung einer Diktatur in eine kapitalistische Waren- und Konsumgesellschaft, zumindest im Westen. Oder die späten 1970er Jahre: Politisch herrscht immer noch – oder wieder nach dem kurzen Aufbegehren der 68er und dem politischen Aufbruch mit Willy Brandt – Restauration. Die Zivilgesellschaft erwacht, aber die in der Nazi-Zeit sozialisierte Generation der inzwischen alten weißen Männer regiert weiterhin das Land. Aber einiges ist faul im Staate. Die RAF erschüttert das System. Und zum ersten Mal herrscht wieder Massenarbeitslosigkeit. Die geschniegelte Oberfläche führt zu popkulturellen Massen-Erscheinungen wie ABBA, gutlaunigem Lala. Aber aus dem Untergrund formt sich eine Erscheinung, die der Gesellschaft vor Augen hält, wie kaputt sie tatsächlich wirkt: Punk. Die Rohheit, das bewusst Unästhetische, das Fratzenhafte – es reflektiert den Zustand des Landes wie eine Karikatur: zwar provokativ überzeichnend, aber doch im Kern treffend.
Oder die 1980er: Im Lande Kohls macht sich Stillstand breit. Nichts bewegt sich. Wartezeit. Und wenn irgendwelche Probleme auftauchen, ist es immer gleich die Apokalypse, die sich da anzubahnen scheint: der atomare Supergau, die totale Klimakatastrophe, Aids, das Sterben der Tierarten. Die Schwere, Ernsthaftigkeit erfasst auch die Jugend, die in dieser Zeit sehr stark politisiert ist, demonstrieren geht wie lange nicht mehr. Aber was hört die Masse? ZDF-Hitparade und Neue Deutsche Welle. „Ich will Spaß, ich will Spaß.“ Schluss mit der sorgenvollen Schwere. Ein Reflex, ein Protest. Wie Popart.
Die 1990er: Die Gesellschaft ist ja so modern, Tabus gib?s kaum noch. „Wir können über alles reden“ – und tun das auch unentwegt, aufgeklärt, vermeintlich aufklärerisch. Und dann kommt Techno, redet eben gar nicht mehr. Elektronisch treibende Rhythmik, zappelnde Körper, lächelnde Gesichter, und inmitten der ganzen Probleme nach der Wiedervereinigung – Arbeitslosigkeit, Aufkeimen der rechten Szene – gilt für die Techno-Jugend nur noch diese eine Botschaft: Lasst uns zusammen feiern, in Frieden, wir gehören doch alle zusammen.
Und heute wirbt eine Bausparkasse mit einem herrlich ironischen Spot: Lena und ihr Vater sitzen vor ihrem Wohnwagen inmitten einer alternativen Wagenburg. Lena: „Ich kenn da ein Mädchen aus meiner Klasse, und der Vater von der, der hat ein eigenes Haus, wo jeder sein eigenes Zimmer hat? „Das sind doch Spießer“, antwortet der 40-jährige Vater. Lena hakt nach: „Und der Bernd hat eine Wohnung auf dem Dach, von wo aus man die ganze Stadt sehen kann.“ Der Vater mürrisch: „Auch Spießer.“ Darauf Lena: „Papa, wenn ich groß bin, dann will ich auch mal Spießer werden.“ Da vollzieht sich offenbar ein Mentalitätswechsel hin zu konservativen Werten. Die Soziolog*innen jedenfalls warnen schon, dass die derzeit stattfindende Anpassung der Jugend an die Lebensrealitäten und damit das fehlende Revoluzzertum zu einem Versiegen erneuernder Ideen führen könnte, die die früher aufrührerische Jugend doch immer mit sich gebracht habe.