Читать книгу Auf dem Lande alles dicht? - Mieste Hotopp-Riecke - Страница 15

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Sie meinen diese ergrauten oder Midlifecrisis-geschüttelten Herren, die sich abstrampeln, staatliche Fördergelder für inhaltlich sinnlose Projekte zu bekommen und bei Demonstrationen und anderen zivilgesellschaftlichen Protestaktionen meist fehlen, um anschließend die Jugendlichen zu kritisieren, dass sie sich nicht genug engagieren? Diese Werbung richtet sich natürlich nicht an die Jugendlichen selbst, sondern an die Eltern, die ja den Bausparvertrag für ihre Kinder abschließen sollen und ihren eigenen Anti-Spießer-Faktor meist gnadenlos überschätzen, weil sie sich in ihr eigenes jugendlich-rebellisches Selbstbild verliebt haben, obwohl dies mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Die Jugend hat sich im Grunde immer nach einem Idyll gesehnt. Nehmen Sie die Hippies: Was gibt es denn Idyllischeres als deren Vorstellung von einem Leben in Frieden und Harmonie im Einklang mit der Natur, womöglich noch als Selbstversorger? Dass das klassische Familienmodell wieder mehr Konjunktur hat, liegt nicht zuletzt daran, dass sehr viele in anderen Lebensbereichen das nicht mehr erleben: Idyllisches Familiendasein als Rückzugsort gegenüber den Zumutungen und Unsicherheiten der Welt draußen. Eigentlich für ehemalige DDR-Bürger*innen nichts Neues, nur jetzt bundesweit.

Also stimmt es doch: Die Jugend wird konservativer, versprüht weniger umstürzlerischen Geist, ist unpolitischer?

Im wirklichen Leben gingen damals nur 3 bis 5 % der Studierenden demonstrierend auf die Straße, weniger als davor und weniger als heute.

Zunächst einmal: Wenn wir mal zum Vergleich die berühmten „Achtundsechziger“ des Westens nehmen, die nachfolgenden Generationen bis heute als leuchtendes Vorbild vorgehalten werden: Scheinbar eine ganze Generation auf den Barrikaden, politisiert und engagiert, Aktivisten einer politischen, sexuellen und kulturellen Revolution. Im wirklichen Leben gingen damals nur 3 bis 5 % der Studierenden demonstrierend auf die Straße, weniger als davor und weniger als heute. Die beliebtesten Musiker dieser Zeit bei Jugendlichen waren laut den Verkaufscharts auch nicht Jimmy Hendrix, Grateful Dead oder die Doors, sondern Heintje und Roy Black. Die positive Nachricht: Wenige engagierte Menschen können viel erreichen, Minderheiten können die ganze Gesellschaft verändern, wenn sie den Zeitgeist treffen. Und: Schon in den vergangenen Jahrzehnten hatten wir vor allem durch 9/11, den ersten Golfkrieg und die rechtsextreme Gewalt Millionen Jugendlicher demonstrierend auf den Straßen – so viele wie nie zuvor. Schüler*innen und Studierende haben gemeinsam Universitäten besetzt, um auf die miserable Bildungspolitik hinzuweisen. Nur: Das alles hat die Erwachsenengesellschaft nicht interessiert. Sie war nicht bereit für Änderungen – schon gar nicht, wenn diese von jungen Leuten gefordert wurden. Das hat sich erst mit den Fridays for Future geändert.

Mama geht mit Töchterlein zu H&M einkaufen. Papa geht mit dem Sohnemann zum Rockkonzert. Der Spielraum der Jugend wird immer mehr vereinnahmt, Abgrenzungen zur Elterngeneration werden immer schwieriger. Im Gegensatz zu all den Jahrzehnten zuvor ist es bei der heutigen Jugend offenbar unmöglich, eine treibende Bewegung zu entwickeln. Nicht umsonst wird seit längerem zu nichtssagenden Umschreibungen wie „Generation Golf“, „Generation Pop“ „Generation X - Y - Z“ gegriffen.

Der Mainstream selbst hat sich längst in diverse Subkulturen parzelliert, die deutsche Gesellschaft ist viel zu divers, um noch eine gemeinsame, verbindliche Norm der Lebensstile zu finden. Der früher normative, heute nur noch retro-konservative Familienklassiker – Vater, Mutter,; zweieinhalb Kinder – ist nur noch ein Minderheitenmodell.

Das ist eben das eigentlich Neue an dieser Jugend: Ihr kann kein Stempel mehr aufgedrückt werden. Die Jugendkulturen der vergangenen sieben Jahrzehnte sind ja im Grunde alle bestehen geblieben und existieren in einem bunten Nebeneinander. Dass etwa Hip-Hop, ursprünglich eine Ghetto-Undergroundkultur, eine Mainstreammode geworden ist, ist ein typisches Phänomen unserer Zeit, die durch Kommerzialisierung und Allgegenwart der Medien alles auch nur vermeintlich Neue zum Trend stilisiert, hypt und damit als eigentliche Bewegung entkernt. Die gibt es zwar immer noch, hat aber mit dem, was im Mainstream als Hip-Hop verstanden wird, nur noch die Oberfläche gemeinsam. Das wirkt auf Erwachsene wie Jugendliche und macht es für Letztere in der Folge tatsächlich immer schwerer, sich abzugrenzen. Deshalb werden die Versuche der Minderheiten, die es für ihre Identität nach wie vor wichtig finden, nicht nur „kleine Erwachsene“ zu sein, sondern sich eine eigene Lebenswelt aufzubauen, immer extremer, die Labyrinthe immer verzweigter. Heutige Marketing-Studien sprechen in Deutschland von einer Zahl zwischen 400 und 600 jugend- und subkultureller „artificial tribes“ – also Stammesgesellschaften, die sich durch eigene Rituale, Treffpunkte (reale und virtuelle), Stilmerkmale und vor allem eine eigene Musik voneinander und von der Erwachsenenwelt unterscheiden: Gamer und Ultras, Streetballer und Skateboarder, Health Goth und VSCO-Girls, Trap- und Black-Metal-Fans, Cosplayer*innen und Seapunks – allein die großen Szenen Techno, Heavy Metal, Punk, HipHop und Gothic haben jeweils Dutzende Untergruppen und Substyles herausgebildet. Und wieder – Sie ahnen es bereits – spiegelt das die Entwicklung unserer Gesellschaft wider, die ja nicht umsonst oft als „Minderheitengesellschaft“ definiert wird: Der Mainstream selbst hat sich längst in diverse Subkulturen parzelliert, die deutsche Gesellschaft ist viel zu divers, um noch eine gemeinsame, verbindliche Norm der Lebensstile zu finden. Der früher normative, heute nur noch retro-konservative Familienklassiker – Vater, Mutter, zweieinhalb Kinder – ist nur noch ein Minderheitenmodell, zu dem etwa in Berlin noch rund 20 % der Bevölkerung gehören. Der Anteil der Senior*innen, die inzwischen in Wohngemeinschaften leben, ist fast genauso hoch. Und auch in Sachsen-Anhalt leben inzwischen über 50 % der Menschen in Single-Haushalten. Nicht nur die Jugend ist diverser geworden.

Warum steht davon nichts in den Shell-Studien, Jugendsurveys etc.? Ist die Jugendforschung noch up to date?

Nein. Meines Erachtens war die Jugendforschung mehrheitlich schon immer ein Zweig der Forensischen Anthropologie. Erforscht werden in der Regel Problemlagen: Defizite, die (Mehrheits-) Gesellschaft schädigendes Verhalten, von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Einstellungen und Taten. Was also als problematisch (an) erkannt wird, bestimmt nicht das potenzielle Objekt der Begierde, sondern derjenige, der die Definitionsmacht innehält. Also: die politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Elite. So wurden in den 1970er Jahren „die Türken“ zum Problem und damit zum Arbeitsfeld für Forscher*innen erklärt, nicht die den Anforderungen eines modernen, zivilisierten Europas nicht gewachsene deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeneration. So wird auch Jugendforschung über die Köpfe der Betroffenen hinweg konzeptioniert. Fragen Sie einmal Jugendliche, was sie gerne erforscht haben möchten, auf welche ihrer Fragen sie sich Antworten aus den Reihen der Wissenschaft wünschten. Extremismusprävention, Jugendgewaltkriminalität und Rauschmittelkonsum stehen da sicher nicht in der Prioritätenliste ganz oben.

Die Jugendforschung krankt. Ihre Konzepte sind von vorgestern. Ihr Personal ist den aktuellen Entwicklungen und Szenen nicht gewachsen. Die stets geforderte Distanz zwischen Forscher*innen und den Objekten ihrer Begierde führt nicht nur zu der typischen Stigmatisierung sogenannter bildungsferner, also proletarischer Milieus durch die in der Regel aus bürgerlichen Schichten, universitär sozialisierten und aus weißer Perspektive kulturalisierenden Forscher*innen, sondern führt auch zunehmend dazu, dass die Forschung Jugendliche einfach nicht mehr versteht. Nur die wenigsten Forscher*innen haben zum Beispiel einen Blick für die nonverbalen, nicht einfach zu transkribierenden und dann mit den Standardprogrammen zu analysierenden Kommunikationsformen; die wenigsten machen sich die Mühe, zum Beispiel ausgiebig deren Partys, Konzerte und andere Events einfach mal als Zaungast zu besuchen, deren Medien zu studieren, um zum Beispiel die Sprache zu verstehen, die in vielen Szenen eminent wichtigen Abgrenzungsrituale und ironischen Spiele zu begreifen. Zwischen 1990 und 2000 sind über 30 wissenschaftliche Studien zur Skinheadszene erschienen – ich möchte behaupten, dass kein einziger der professoralen Autoren je mit realen Skinheads gesprochen, ihre Events besucht hat – bestenfalls, und selbst das stellt noch die Ausnahme dar, haben die Professoren ihre Studierenden „ins Feld“ geschickt. Die meisten aktuellen Szenen sind für Forscher*innen Black Boxes: Sie begreifen die Mode, die Sprache, die Gesten, die feinen Grenzlinien zwischen den Musikstilen nicht. Die Basis ihres Wissens ist ihre eigene musikalische Prägung durch Bands wie die Rolling Stones, Neil Young oder Bob Dylan. Musikvorlieben für Grunge, Hardcore, Thrash, Heavy Metal und andere werden gerne unter der Rubrik „Hardrock“ subsummiert; wer sich zu den Skinheads bekennt, ist immer noch rechtsdenkend, Punks sind Antifaschisten. In Zeiten, in denen Skinheads gegen Rassismus demonstrieren, Nazi-Punks linke Skins verprügeln, neonazistische Jugendgangs im Hip-Hop-Sound rassistische Witze vertonen, in einem Techno-Club oder auf der Partymeile von Mallorca Dutzende Männer mit Krämpfen im rechten Arm den Adolf Hitler tanzen, während im Club nebenan an der Eintrittskasse Solidaritätsbeiträge für gewalttätig obdachlos gewordene Geflüchtete gesammelt werden, kann eine derart schablonenhaft konstruierte Jugendsoziologie und -forschung allgemein nur entsprechende Resultate erzielen. Überraschend viele positive Ausnahmen findet man lediglich unter Musikwissenschaftler*innen und Europäischen Ethnolog*innen – aber die betreiben leider nur sehr selten Jugendforschung. Die ist offenbar kein lukratives und förderfähiges Geschäft – wozu auch, wo doch ohnehin fast jeder seine Meinung zur Jugend hat. Schließlich war man selbst auch mal jung und rebellisch – damals, nach dem Krieg.

Was sagt uns die Jugendforschung denn über die Landjugend, Jugendliche und Jugendkulturen jenseits der großstädtischen Ballungsräume?

Nichts. Abgesehen von wenigen tollen, exemplarischen Ausnahmen konzentriert sich die gesamte Jugendkulturforschung auf die Großstädte. Dass es auch in ländlichen Räumen Jugendkultur gibt, viele großstädtische Szene-Aktivist*innen in Dörfern und Kleinstädten aufgewachsen sind, Klubs und andere Locations in ländlichen und kleinstädtischen Regionen oft für die Entwicklung einer Szene eine herausragende Bedeutung hatten, wird kaum wahrgenommen. Auch deshalb haben wir das Projekt WIR. Heimat – Land – Jugendkultur initiiert. Es ist ein kleiner Versuch, den Blickwinkel zu erweitern. Fast eine Million Menschen sind seit der Wende aus Sachsen-Anhalt ausgewandert. Diese große Welle, überwiegend mangelnder wirtschaftlicher Perspektiven geschuldet, ebbt seit drei Jahren ab. Wer aber immer noch abwandert, sind die Jungen. Selbst dort, wo es Arbeit für sie gäbe. Und damit verspielt das Land seine Zukunft, wenn es sich nicht allmählich dafür zu interessieren beginnt, warum die Jungen abwandern und was sich ändern müsste, damit sie es nicht tun oder nach der Ausbildung, dem Studium gerne zurückkehren.


„Heimat“ ist ja ein ideologisch sehr aufgeladener Begriff …

Ich persönlich kann mit dem Konstrukt „Heimat“ nichts anfangen. Vielleicht, weil ich nicht in einem Dorf aufgewachsen bin. Und es nervt mich, wenn einem heute ständig so Patrioten einreden wollen, das sei „unnormal“. Man MUSS doch seine Heimat lieben! Nein, muss ich nicht! Ich muss auch nicht an irgendeinen Gott glauben, um glücklich zu sein.

Jeder soll glauben, an was er will. An Gott, Hitler, die freie Marktwirtschaft oder die SPD – Meinungsfreiheit bedeutet in einer Demokratie, dass jeder Mensch das Recht hat, an wirklich ALLES zu glauben und das auch zu sagen. Dummheit ist nicht grundgesetzwidrig. Ich bin ganz prinzipiell gegen jede Art von Meinungszensur. Meinungsfreiheit bedeutet aber auch, dass mich niemand zwingen darf, irgendeinen Glauben und irgendeine angebliche „Wahrheit“ zu übernehmen und danach zu leben. Wer eine Meinung hat, muss auch aushalten, dass andere eine andere Meinung haben. Das nennt sich Demokratie und Meinungsfreiheit. Und damit haben erstaunlich viele dieser „Patrioten“ offenbar ein Problem, sobald ihnen jemand widerspricht. Sie kennen meist nur eine „Wahrheit“ – die ihre.

„Patriotismus“ ist ein ideologisch aufgeladener Begriff. Die Grenzen zu Nationalismus und Rassismus sind hier fließend. Dann ist Heimat plötzlich nicht mehr der Ort, an dem sich alle wohlfühlen dürfen, sondern nur noch Heimat für die Weißen, für die Deutschen, für die, die seit Generationen dort leben und sich allen Traditionen unkritisch anpassen. Wenn sich heutzutage jemand selbst als „Patriot“ bezeichnet, sollten alle Warnblinklichter angehen. Um „Heimatliebe“ geht es da in der Regel nicht.

Was ich allerdings erst in den letzten Jahren begriffen habe, vor allem bei einer großen Frei.Wild-Fanstudie, die ich durchgeführt habe, mit über 4.000 beteiligten Fans, ist, dass es auch eine Heimatliebe gibt, die nicht rechtsaußen angesiedelt ist, nicht national, sondern regional. Viele Menschen, die nicht nationalistisch, rassistisch oder sonst wie ausgrenzend denken, haben trotzdem ein großes Bedürfnis nach einer regionalen Identität, nicht unbedingt mit ganz Deutschland, sondern mit der Region, in der sie leben oder aus der sie stammen. Das ist fast überall auf der Welt ja was ganz Selbstverständliches, aber eben nicht in Deutschland aufgrund unserer Verantwortung für eines der scheußlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Aber ich glaube, dass uns Älteren nichts anderes übrigbleibt, als zu akzeptieren, dass Jüngere nicht nur die Nazi-Zeit im Blick haben, sondern auch den gewaltigen Demokratisierungs- und Zivilisierungsprozess, den Deutschland vor allem seit den 1970er Jahren durchlaufen hat. Stolz auf Deutschland zu sein bedeutet für diese dann eben, stolz darauf zu sein, dass Deutschland kein Nazi-Land mehr ist, sondern ein relativ weltoffenes Land mit einem recht hohen Grad an Umweltbewusstsein, mit vielen Gruppen, die sich zum Beispiel für Menschenrechte, für Geflüchtete und andere Minderheiten, für sexuelle Gleichberechtigung usw. engagieren.


In der Renaissance des „Heimat“-Begriffs und des „Regionalpatriotismus“ liegt also sowohl eine Chance, lokales und regionales Engagement zu fördern, als auch ein Risiko der Ausgrenzung alles „Fremden“. Die entscheidende Frage ist also: Wer definiert das neue deutsche WIR, wer gehört dazu, wer darf dazugehören? Jugendkulturen sind andererseits schon immer internationale Bastarde ohne feste Heimat. Szene-Aktivist*innen haben in der Regel mehr Freund*innen in der ganzen Welt als im eigenen Dorf. Wenn diese reizvollen Widersprüche aufeinanderprallen oder auch gemeinsam etwas entwickeln, könnten daraus spannende Prozesse und Projekte entstehen.

Das Netz verbindet Jugendliche heute weltweit. Wie haben Internet und soziale Medien die Jugendkultur und die Jugendarbeit verändert?

Natürlich haben Social Media, das Internet und Smartphones unser aller Leben radikal verändert und damit auch die Jugendarbeit. Früher musste man konkrete Orte wie Jugendzentren aufsuchen, um seine Freunde zu treffen. Heute kann man sich online verabreden und sich dann irgendwo treffen. Das heißt auch: Jugendliche sind heute schwerer greifbar, wenn sie nicht mehr ins Jugendzentrum kommen. Aber die neuen Technologien haben auch positive Auswirkungen, denn das Internet ist trotz aller Facebook-Trollgruppen ein inklusives Medium, das wesentlich dazu beigetragen hat, den Informationsvorsprung der Großstadt gegenüber dem Dorf und der Kleinstadt zu verringern. Wenn sich ein Jugendlicher in einem kleinen Dorf leidenschaftlich für eine Jugendkultur oder für eine bestimmte Musikrichtung interessiert, hätte er früher keine Ansprechpartner*innen gehabt und keine Gleichgesinnten gefunden; heute aber kann er durch das Internet teilhaben an einer weltweiten Jugendkultur und bekommt alle Informationen über seine Szene genauso schnell wie die Szene-Angehörigen in Berlin.

Das heißt, die Kommunikation und Mobilität unter Jugendlichen hat zugenommen?

Erwachsene meinen oft, dass die Jugendlichen sich digital isolieren und sich nicht mehr austauschen wie früher. Dabei kommunizieren Jugendliche im Internet sehr viel und tauschen sich über alle möglichen Themen aus, sprechen vielleicht sogar freier als früher. Die Jugendarbeit nutzt deshalb inzwischen Online-Tools sehr erfolgreich für Beratungsangebote, etwa zu den Themen Schulden oder Sexualität. Und das Internet ermöglicht den Jugendlichen, sich zu gruppieren und zu organisieren. Ein aktuelles Beispiel ist die Fridays-for-Future-Bewegung. Im Internet finden spannende Diskussionen statt und bei allen Nachteilen sind Social Media trotzdem auch eine Riesenchance für die öffentlichkeitswirksame Kommunikation.

Social Media sind also auch eine Chance für die Jugendarbeit, um die Jugendlichen zu erreichen?

Soziale Medien sind ganz sicher eine Chance und ein Muss für die Jugendarbeit. Wer Jugendliche erreichen will, muss auf diesen Kanälen präsent sein. Die sozialen Medien sind ein zentraler Bereich jugendlicher Lebenswelten. Die Jugendarbeit muss wissen, wo Jugendliche sich bewegen, wie sie sich bewegen und welche Themen sie interessieren. Vieles davon passiert eben über Social Media, und wenn ich da selber nicht präsent bin, entgeht mir ein großer Lebensbereich der jungen Leute. In spätestens zwanzig Jahren wird ein Jugendarbeiter, der sich den Social Media verweigert, berufsunfähig sein.

Welche Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung hat nach Ihrer Erfahrung die aktive Beteiligung von Jugendlichen an jugendkulturellen Aktivitäten?

Wie heißt es so schön: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Je jünger Menschen ihre Kreativität ausleben und nicht nur zu konsumtrotteligen Couchpotatoes verkommen wie die Mehrheit der Bevölkerung, unabhängig vom Alter, je eher sie lernen und Spaß und Sinn dabei erleben, sich persönlich zu engagieren, desto nachhaltiger bleibt das. Und Jugendkulturen sind eben vor allem Orte des kreativen Engagements, Kompetenztrainings in Teamfähigkeit und Orte des Self-Empowerments, vor allem für Mädchen (die nach wie vor viel mehr Widerstände überwinden müssen, um überhaupt in einer Jugendkultur sein zu dürfen) und anderenorts diskriminierte oder marginalisierte Jugendliche.

Wie hat sich die Jugendkultur verändert?

Die Welt ist insgesamt toleranter und bunter geworden; die Unterschiede zur Erwachsenenkultur sind weniger offensichtlich, aber die Jugendkultur gibt es sehr wohl noch. Die heutige Elterngeneration ist inzwischen die, die früher auf Techno-Raves, Metal- und Punk-Festivals, Poetry Slams oder Skater-Events ging. Das Problem ist: Es wird heute scheinbar so gut wie alles toleriert, und trotzdem werden die Freiräume für Jugendliche zunehmend eingeschränkt. In Deutschland, genauso wie in anderen Ländern, werden Jugendliche immer mehr aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Immer mehr Orte werden rein kommerziell definiert und man darf sich dort nur aufhalten, wenn man Geld ausgibt.

Sind vielleicht deshalb Jugendkulturen im öffentlichen Raum kaum noch sichtbar, sodass viele denken, es gibt sie gar nicht mehr?

Es gibt heute nicht weniger Jugendkuituren als vor 20 oder 30 Jahren. Sie heben sich nur nicht mehr so stark optisch vom Normalbürger und von anderen Jugendlichen ab.

Es gibt heute nicht weniger Jugendkulturen als vor 20 oder 30 Jahren. Sie heben sich nur nicht mehr so stark optisch vom Normalbürger und von anderen Jugendlichen ab. Und sie mischen sich mehr untereinander, sodass sie für Außenstehende auch nicht mehr so leicht unterscheidbar sind.

Aber vor allem werden sie eben auch aus der Öffentlichkeit verdrängt. Das führt letztendlich auch dazu, dass Städte und Gemeinden immer mehr veröden und nicht mehr so spannend sind für andere junge Leute. Der Arbeitsmarkt braucht aber dringend Facharbeiter*innen und Auszubildende, und wenn in einer Stadt oder Region keine Jugendkultur präsent ist, wird diese langweilig und noch mehr junge Leute wandern in die Städte ab, wo noch jugendkulturelle Vielfalt herrscht.

Wenn die heutigen Eltern toleranter sind, weil sie selbst schon eine „wilde Generation“ waren, gibt es dann für die heutigen Jugendlichen überhaupt noch genug Reibungsfläche?

Reibungsfläche ergibt sich ja nicht nur durch spießige Kleidung oder Musikgeschmack der Eltern. Da gib?s schon noch genug anderes, wogegen die Jugendlichen rebellieren können. An den Fridays for Future sieht man, wie sich die jungen Leute gegen die Politik und die Wirtschaft der Erwachsenen stemmen, weil diese sehenden Blicks die Zukunft der Jugendlichen zerstören. Jugendbewegungen wie die Fridays, die derzeit von etwa einem Viertel der Jugendlichen getragen werden, werden in Zukunft weiter wachsen, denn die Erwachsenengeneration geht kein bisschen auf die berechtigten Ziele und Forderungen der Jugendlichen ein. Die Frage ist nur: Werden die Jugendlichen irgendwann aufgeben und sagen, „das bringt sowieso nichts“, oder werden sie durch den Schwung der öffentlichen Aufmerksamkeit dazu bewogen, sich noch intensiver und noch radikaler zu engagieren? Damit die Gesellschaft sich verändern kann, müssen die Erwachsenen den Jugendlichen irgendwann entgegenkommen. Die Kinder zum Psychologen zu schicken, weil sie mit den von den Erwachsenen verursachten Depressionen nicht fertig werden und zum Beispiel ihre Schule oder ihr Studium abbrechen, wie es gerade sehr häufig passiert, ist jedenfalls keine Lösung.

Ist dieser Clash der Generationen nicht in gewissem Grad vorprogrammiert? Weil sich in der Menschheitsgeschichte immer eine jüngere Fraktion, die noch keine große gesellschaftliche Macht hat, und eine ältere, die sich teilweise gerade erst mühsam auf eine Machtposition hochgearbeitet hat und sich jetzt durch die Jüngeren herausgefordert sieht, gegenüberstehen?

Ich denke auch, dass es dabei nur zum Teil um Inhalte geht, denn die Werte und Lebensziele der Jungen unterscheiden sich kaum von denen der Elterngeneration. Es geht schlicht um Machterhalt und die Weigerung der alten Elite, das Zepter an Jüngere zu übergeben. Das ist nicht nur bei iranischen oder bruneiischen Herrschern so. Nur sagt man es hier nicht so eindeutig. Zum Beispiel haben die drei in Berlin regierenden Parteien SPD, Linke und Grüne alle in ihren Wahlprogrammen gefordert, dass Jugendliche ab 16 wählen dürfen – wie bereits in drei anderen Bundesländern und übrigens auch bundesweit in Österreich. Aber seitdem sie an der Regierung sind, haben sie trotz mehrmaliger Aufforderungen, sogar vom Präsidenten des Abgeordnetenhauses, nichts in diese Richtung unternommen – mit dem Argument, die CDU sei dagegen und deshalb könne man eben nichts machen. Also setzen sie es gar nicht erst auf die Tagesordnung und tun nichts dafür, eine Mehrheit für die Jugendlichen zu gewinnen. Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Und dann jammern sie wieder, dass Jugendliche nichts von Parteien wissen wollen, und beschimpfen sie als „unpolitisch“. Nicht nur die Fridays for Future zeigen, dass viele Jugendliche im Gegenteil sehr politisch denken und handeln und gerade deshalb Parteien ignorieren – weil sie wissen, dass sie von dort keine Unterstützung zu erwarten haben. Als der FDP-Chef Lindner damals forsch twitterte: „Hey, Kids, finde ich gut, dass ihr euch engagiert, aber überlasst die komplexen Themen der Politik doch lieber den Experten“, und daraufhin über 12.000 Wissenschaftler*innen in einem Offenen Brief antworteten: „Wir sind die Expert*innen und die Fridays haben Recht in ihren Forderungen, hören Sie auf die Kids, Herr Lindner“, hat die FDP ihre Politik um keinen Millimeter geändert – nur ihre Rhetorik umgestellt. Und der bayerische Ministerpräsident klingt in seinen Reden zum Klimawandel heute schon manchmal so, als sei er heimlich Mitglied der Grünen geworden. Ähnliche Echos erhielten die Fridays von CDU und SPD: Die Bundesregierung lobt in fetten Anzeigenkampagnen ihr eigenes Klimaengagement, verspricht den Kohleausstieg bis zum Jahr 2038 und lässt gleichzeitig ein neues Kohlekraftwerk bauen – dessen Hauptkunde nebenbei die Deutsche Bahn sein wird, die sich ja ebenfalls als Ökobetrieb präsentiert. So dumm ist kein Jugendlicher, dass er nicht den Zynismus und die Doppelmoral der politischen Rhetorik erkennt.

Die Politik hinkt der gesellschaftlichen Realität schon immer um mindestens ein Jahrzehnt hinterher. Man muss sich nur einmal die Zusammensetzung, aber auch die Sprache und Ästhetik des Deutschen Bundestags ansehen. Der ist eine der letzten Wellness-Oasen alter weißer Männer, die gerne noch länger dort verweilen möchten. Und deshalb aus Opportunismus ihre Politik nur dann als letztes Mittel ändern, wenn sie endlich spüren, dass der gesellschaftliche Gegenwind zu stark für sie wird. Warum sollen sich Jugendliche gemeinsam mit solchen Menschen für irgendetwas engagieren? Deshalb geht es bei den Fridays nicht nur um konkrete Inhalte – sie haben die Machtfrage gestellt.

Sie haben das Thema Fachkräftemangel angesprochen, das ist hier in Sachsen-Anhalt ebenfalls ein großes Problem. Welchen Beitrag können die Arbeit mit Jugendlichen und die kommunale Jugendpolitik leisten, um die Abwanderung zu bremsen?

Sicher ist, es reicht nicht, ein paar nette Großevents zu veranstalten, um Jugendliche ans Territorium zu binden. Die Qualität der verbandlichen und kommunalen Jugendarbeit und vor allem -förderung zeigt sich nicht in den „Leuchttürmen“, den Festivals und anderen affirmativen Großevents, sondern darin, wie sie mit dem umgeht, was die Bürgerkultur nicht mag – etwa mit der nicht autorisierten Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch Punk, Graffiti, Street Art, Parcours oder andere alternative Gruppen. Bei der Entscheidung, irgendwo hinzuziehen bzw. irgendwo zu bleiben, gibt es harte Faktoren und weiche Faktoren. Die harten Faktoren sind: Gibt es Arbeit, ist sie gut bezahlt, ist sie zukunftsfähig, macht sie Sinn und Spaß? Gibt es bezahlbaren Wohnraum? Ist die Betreuung unserer Kinder durch gute Schulen und ausreichend Kitaplätze gewährleistet? Aber zur Entscheidung, wo man leben möchte, gehören zunehmend auch weiche Faktoren wie die allgemeine kulturelle Vitalität und Diversität der Stadt oder Region und die Frage: Gibt es attraktive Angebote für Kinder und Jugendliche? Werden sich unsere Kinder hier wohlfühlen? Das spielt eine Rolle, auch wenn man selbst noch gar keine Kinder hat. Es ist eine wichtige Zukunftsperspektive. Was viele Städte und Regionen mit Fachkräftemangel noch nicht auf dem Schirm haben, ist, dass sich die Leute, bevor sie irgendwo hinziehen, auch über die Jugendkultur und Freizeitsituation für ihre Kinder informieren, nicht nur über das städtische Theater und die klassische Kultur. Denn die Sichtbarkeit von Jugendkulturen ist ein Zeichen für Toleranz und Diversität. Ob es uns gefällt oder nicht, ob zu Recht oder zu Unrecht: Menschen aus Westdeutschland und erst recht aus anderen Ländern teilen aufgrund der starken Präsenz rechtsextremer und rechtspopulistischer Strukturen und Haltungen eine große Skepsis gegenüber Sachsen-Anhalt und den anderen neuen Bundesländern. Hier liegt die Beweislast bei den Ländern, Städten und Gemeinden, nachzuweisen, dass auch Fremde sich dort sicher und wohl fühlen können und Vielfalt ausdrücklich gewünscht ist. Aber auch für die Wiederkehrer*innen, also für Jugendliche, die aus einer ländlichen Gegend abwandern und später wieder dorthin zurückkommen, ist ein entscheidender Faktor, wie die Antwort auf die Fragen ausfällt: „Hab ich mich als Jugendlicher dort überhaupt wohlgefühlt? Hatte ich das Gefühl, willkommen zu sein und mich ausleben zu dürfen?“


Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Fehler, die von Behördenseite im Umgang mit Jugendlichen gemacht werden – oder positiv gefragt: Was könnte verbessert werden?

Die Verdrängung von Jugendlichen aus dem öffentlichen Raum muss unbedingt gestoppt werden. Es gibt für Jugendliche immer weniger öffentliche, frei zugängliche und unverzweckte Räume, also Räume ohne vorab festgelegte Funktionserwartungen und pädagogische Betreuung. Die Alltagsund Lebenswelten von Jugendlichen werden zusehends funktionalisiert, verdichtet, kommerzialisiert und der öffentlichen Überwachung unterworfen. Das negative Jugendbild wird deutlich stärker mit repressiven Forderungen aufgeladen – natürlich alles „im Interesse der Jugend“. Der Jugendschutz wird immer mehr zur Waffe gegen die Jugend. Die Jugend muss geschützt werden – ob sie es nun will oder nicht. Pädagogisch und jugendschützerisch verbrämt werden jugendliche Freiräume immer weiter eingeschränkt. Jugend heute ist von einem „pädagogischen System fürsorglicher Belagerung umstellt“, wie es der Jenaer Professor für Sozialwesen Werner Lindner auf einer Fachtagung formulierte. Das ausufernde Präventionsdenken in unserer Gesellschaft stattet sich mit immer rigideren Kontrollwünschen aus. Siehe etwa die flächendeckende Überwachung des städtischen Raums, vor allem der künstlichen Einkaufszonen, mit Kameras und privaten Sicherheitsdiensten, die besonders auf Jugendliche angesetzt werden, die polizeilichen Sonderkommandos in zahlreichen Städten z.B. gegen Graffiti-Sprayer, die Verschärfung von Jugendschutz- und Jugendstrafgesetzen. So wurde beispielsweise in Deutschland der § 66 StGB innerhalb der letzten 15 Jahre sechs Mal verschärft, obwohl die Zahl jugendlicher Straftäter in der Zeit immer weiter sank. Hier wäre der Politik und den ausführenden Behörden dringend zu empfehlen, diese Eskalationsspirale des prinzipiellen Misstrauens gegenüber der Jugend nicht weiter hochzusteigen.

Sie sagten, für die Jugendarbeit sei es wichtig, dass die Jugendlichen mit eingebunden werden in die Kommune. Wie könnte das konkret aussehen?

Die Jugendlichen sollten das Stadtbild mitgestalten dürfen. Es gibt schon in manchen Kleinstädten Programme für Jugendarbeit, wo den Jugendlichen ganze Häuserwände auf öffentlichen Plätzen oder sogar Busse des öffentlichen Nahverkehrs zur Verfügung gestellt werden, um sie zu gestalten. Das Stadtbild wird dadurch sicher bunter und die Jugendlichen fühlen sich willkommen und eingebunden. Warum sehen die meisten unserer Schulen so lebensfeindlich, kalt und unfreundlich aus? Warum lässt man nicht die Schüler*innen gemeinsam mit Expert*innen, z.B. Innenarchitekt*innen, neue Gestaltungsformen finden für Räume, in denen Schüler*innen wie Lehrer*innen immerhin fast die Hälfte ihrer täglichen Lebenszeit verbringen müssen? Es gibt inzwischen, zum Beispiel in Baden-Württemberg, das Recht der Jugendlichen, bei allen kommunalen Entscheidungen, die sie betreffen, angehört zu werden. Es gibt viele Ideen, wie Kommunen jugendliche Partizipation jenseits der traditionellen Jugendbeiräte und -parlamente kreativ und wirksam gestalten können. Oft fehlt nur der Wille, zur jugendfreundlichen Stadt zu werden. Es ist wie beim Klimawandel: Der Problemdruck ist da, wird aber von vielen Verantwortlichen ignoriert und geleugnet, obwohl die Folgen der Ignoranz allerorts spürbar sind. Denn Politikmüdigkeit, Rechtspopulismus usw. entstehen bei Jugendlichen wie bei ihren Eltern vor allem aus dem Gefühl heraus: Ich habe keinen Einfluss auf meine Umwelt. Ich bin nicht gefragt. Keiner legt hier Wert auf meine Meinung.


Daraus entstehen oft Trotzreaktionen, die kontraproduktiv sind. Man muss den jungen Menschen ermöglichen, sich einzubringen und ihre Lebenswelt zu beeinflussen, ihnen zeigen, dass ihre Stimme zählt. Jugendliche sollten so oft wie möglich beteiligt und gefragt werden und die Möglichkeit bekommen, in der eigenen Stadt Präsenz zu zeigen. Sie sollten zeigen dürfen: Wir sind hier, wir leben auch in dieser Stadt, dies ist auch unsere Gemeinde.

Und damit es kein einmaliges Strohfeuer wird, sondern die Stadt oder die Region nachhaltig verändert, sollten sich Städte und Landgemeinden selbst verpflichten, eine jugendfreundliche Stadt bzw. Gemeinde zu werden, und entsprechend „Runde Tische für eine jugendfreundliche Stadt“ starten, bei denen sich Politik, Verwaltung, Schule, Polizei, Verbände, Vereine, Kultureinrichtungen, Jugendarbeit, Wirtschaft und Jugendliche regelmäßig treffen und an dem Thema arbeiten.

Viele Jugendliche sind bereits in einem oder mehreren Vereinen. Hat hier die Jugendarbeit trotzdem eine Chance, etwas weiterzubringen?

Ja, das Zeitbudget von Jugendlichen wird immer enger, manche junge Leute haben schon einen Terminkalender wie ein Abgeordneter. Umso mehr brauchen Jugendliche aber auch einen Freiraum, wo sie nichts Sportliches, Musikalisches oder sonst etwas für ihren weiteren Karriereweg Sinnvolles leisten müssen. Einen Ort, wo sie einfach nur zusammen sein, sich austauschen und entspannen können. Das kulturelle Engagement rund um die Jugendarbeit garantiert Vielfalt, sodass man zum Beispiel sowohl in der Gemeindekapelle als auch in der Metal-Band spielen kann. Das ehrenamtliche Engagement im Verein ist sehr wichtig und positiv für die Jugendlichen, aber oft auch sehr hierarchisch aufgebaut. Das heißt, die Jugendlichen dürfen sich zwar einbringen, aber das Sagen haben meistens ältere Männer, die seit Jahrzehnten den Verein führen und entscheiden, wo und wie genau die Jugendlichen sich engagieren dürfen, und nicht bereit sind, auch nur einen Millimeter ihrer Macht abzugeben. Genau deshalb braucht es auch die Offene Jugendarbeit, wo eine andere Mentalität herrscht.

Wo soll es hingehen mit den Jugendkulturen? Was wünschen Sie sich von den jugendlichen Aktivist*innen?

Nichts anderes als das, was sich alte Säcke schon immer von „der Jugend“ wünschen: Sie mögen endlich mal wieder mehr rebellieren. Denn dass die Welt, wie wir sie den Jungen hinlegen, zum Teil erbärmlich ist – Bienen sterben aus, Banken und Autokonzerne erhalten Milliarden geschenkt, aber für die Renovierung maroder Schulen ist kein Geld da; Menschen verhungern oder leben unter der Armutsgrenze, während Konzerne wie Apple, Google, McDonal?s, Amazon oder Starbucks in Deutschland Milliarden umsetzen, ohne darauf Steuern zu zahlen usw. -, dürfte klar sein. Aber: Die Jugend selbst, so engagiert sie auch sein mag, hat keine Chance, dies zu ändern. Sie braucht Bündnispartner bei den älteren Generationen. Auch eine Jugendarbeit, die nicht zur bloßen Pädagogik und PR-Show ger*innen will, wird verstärkt intergenerative Lobbyarbeit betreiben und sich politisieren müssen.

Gibt es heute ein Patentrezept für Eltern, damit ihre Kinder „auf den richtigen“ Weg kommen?

Kein neues, aber ein nach wie vor wirkmächtiges altes: Respekt, Anerkennung, „Kinder stark machen“, wie ein alter pädagogischer Leitsatz heißt. Selbstbewusste Menschen müssen nicht andere erniedrigen, um sich zu erhöhen, und nur wer sich selbst schätzt und mag, ist auch in der Lage, Empathie für seine Mitmenschen zu entwickeln. Leider haben immer noch sehr, sehr viele Jugendliche wenig Anlass und Chancen, Selbstbewusstsein zu erwerben. Während die Armut der Gesamtgesellschaft sinkt, wächst die Kinder- und Jugendarmut ungebremst weiter. Die Schere zwischen denen, die fast alles haben, und denen, die an und unter der Armutsgrenze leben, öffnet sich weiter. Während „die Jugend“ heute in ihrer Gesamtheit zu einer der reichsten Generationen seit Jahrzehnten gehört, wird ein Drittel dieser Generation vom Reichtum und den Chancen der postmodernen „Multioptionsgesellschaft“ systematisch ausgeschlossen. Viele Junge fühlen sich schon mit 13, 14 Jahren überflüssig in dieser Gesellschaft. Und auch die Schule ist bis heute strukturell nicht in der Lage bzw. willens, da gegenzusteuern und eine Anerkennungskultur zu entwickeln, die Schüler*innen für gute Leistungen belohnt statt für Versagen bestraft und herabwürdigt. Respekt ist nicht zufällig ein Schlüsselwort fast aller Jugendkulturen. Respekt ist das, was Jugendliche am meisten vermissen. Viele Erwachsene, klagen Jugendliche, sehen Respekt als Einbahnstraße an. Sie verlangen von Jugendlichen, was sie selbst nicht zu gewähren bereit sind, und beharren eisern auf ihre Definitionshoheit, was anerkennungswürdig sei und was nicht: Gute Leistungen in der Schule werden belohnt, dass der eigene Sohn aber auch ein exzellenter Gitarrist ist, die Tochter einen vielbesuchten Blog gestaltet, interessiert zumeist nicht – es sei denn, um es zu problematisieren: Bleibt da eigentlich noch genug Zeit für die Schule? Musst du immer so extrem herumlaufen, deine Lehrer finden das bestimmt nicht so gut … Noch nie war die Erwachsenenwelt derart desinteressiert an der Kreativität, den Leidenschaften ihrer „Kinder“. Dabei weiß doch nicht nur jede*r gute Lehrer*in, welche Schüler*innen am meisten Stress verursachen: die Gleichgültigen, die, die sich für gar nichts interessieren, die keine Leidenschaft kennen, für nichts zu motivieren sind. Schule braucht heute nicht nur motivierte – und damit auch professionell ausgebildete und gut bezahlte – Lehrer*innen, sondern auch engagierte, kreative, selbstbewusste Schüler*innen. Und Eltern, die dies unterstützen, fordern, zulassen und nicht die Schule verklagen, weil ihr Kind eine schlechte Note erhalten hat.


Wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen: Wenn die Leute in 25 Jahren erwartungsgemäß auch über „die heutige Jugend“ schimpfen, welches werden dann die Hauptprobleme sein?

Die gleichen wie heute: Auch die Jugend der Zukunft wird als respektlos und unpolitisch gelten, als konsum- und markenverliebt; sie wird zu viel Rauschmittel nehmen und sich zu wenig engagieren; statt gute Bücher zu lesen, wird sie weiterhin die Sprache in Comics, Chatrooms, SMS-Botschaften und noch kommenden neuen Kommunikationsmedien verstümmeln; statt reale Beziehungen zu knüpfen, wird sie autistisch vor dem PC sitzen und virtuelle „Freunde“ in Sozialen Netzwerken sammeln. Denn man muss kein Psychoanalytiker sein, um zu erkennen, dass die Erwachsenengesellschaft ihre eigenen Sündenfälle und Problemlagen gerne auf „die Jugend“ überträgt. Betrachten wir „die Jugend“ von heute, dann wissen wir, was „die Eltern“ von morgen ihren Kindern in die Schuhe schieben werden.

Dies ist eine ergänzte Fassung des Interviews von Lucia de Paulis vom 22. Februar 2020 (Treffen von Klaus Farin mit Südtiroler Jugendarbeitern, Plattform-Netzwerktreffen vom netz I Offene Jugendarbeit, Jugendzentrum Fly in Leifers, 13.02.2020), veröffentlicht in der Reihe Picobello, einer salto.bz-Reihe über Jugendkultur in Südtirol, s.a.: https://www.salto.bz/it/article/18022020/interview-mit-klaus-farin [11.04.2020]

Auf dem Lande alles dicht?

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