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»Wo ist das verdammte Pizzastück?«

Woody bekam keine Antwort, er redete mit sich selbst. Eine schlechte Angewohnheit, die sich im letzten Jahr festgesetzt hatte wie Hautausschlag. Woody kramte durch Stapel alter Pizzaschachteln, als wären es Akten, er suchte nach den Resten der Pizza von gestern. Die Schachteln sahen alle gleich aus, und Woody versuchte, sich zu erinnern, welche Seite der Küchentheke der Anfang und welche das Ende war. Da lagen um die vierzig Schachteln, und er hatte das dumpfe Gefühl, am falschen Ende angefangen zu haben. Er stand neben dem Kühlschrank. Obwohl er gerade eine Zwölf-Stunden-Schicht und drei Bier hinter sich hatte, funktionierte seine Coplogik noch.

»Die Schachteln am Kühlschrank müssten die älteren sein, weil, da würde ich stehen und essen, wenn die Küche leer wäre. Ich würde zum Essen was trinken wollen und die Schachtel abstellen, um mir ein Bier zu holen.«

Um seine Hypothese zu überprüfen, hob Woody den Deckel der untersten Schachtel neben dem Kühlschrank an und fasste hinein. Er fand kein Pizzastück, dafür etwas, das er erst mal vom Boden der Schachtel abpulen musste. Er stieß den Fingernagel hinein, dann zog er die Hand aus der Schachtel und hielt sie sich vors Gesicht. Um Licht zu haben, musste er sich umdrehen. Die 40-Watt-Funzel, mit der er die alte Birne in der Küche ersetzt hatte, war zu schwach. Aber er hatte keine andere im Haus gehabt, und um Ersatz hatte er sich nie gekümmert. Das Dämmerlicht enthüllte, dass es sich bei dem gefundenen Klumpen ehemals um eine grüne Olive gehandelt hatte. Obendrauf spross Schimmel, aber der verschrumpelte Teil, der an der Pappschachtel festgeklebt hatte, war noch immer grünlich.

Woody nickte und umrundete die Kücheninsel, deren Granitoberfläche mit Werbewurfsendungen und alten Essensschachteln vom Chinesen übersät war. Die Kücheninsel endete am Mülleimer. Woody konnte den Abfall selbst bei geschlossenem Deckel riechen und versuchte, sich zu erinnern, wann er zuletzt den Müll rausgebracht hatte. Kein gutes Zeichen, dass er nicht wusste, an welchem Tag die Müllabfuhr kam. Das Grummeln in seinem Magen ließ ihn den Müll vergessen; er hielt direkt auf die oberste Schachtel des letzten Stapels zu und förderte ein Pizzastück von gestern mit Schinken und Ananas zutage.

»Elementar, mein lieber Watson«, sagte er laut.

Die Pizza war kalt und ziemlich fade, die Ananas aber noch ein bisschen feucht. Woody hatte sich nie was aus Ananas gemacht – das war ihr Lieblingsbelag gewesen. Woody war sicher, dass sie Ananas nur bestellt hatte, damit er ihre Pizzahälfte nicht aß. Aber ein Jahr täglichen Pizzakonsums hatte Woodys Geschmack verändert. Nach sechs Monaten war ihm schon bei dem Gedanken an Peperoni und Salami, seiner Standardbestellung, übel geworden. Also musste er entweder etwas anderes bestellen oder kochen lernen. Woody hatte begonnen, sich andere Beilagen auszusuchen, und festgestellt, dass er Pizza weiterhin essen konnte. Ananas vermied er noch ein paar Monate, aber irgendwann war er eingeknickt und hatte das Obst bestellt. Eine Zeit lang aß er wegen der Ananas dann weniger. Er starrte so lange die Pizza an, bis er weinen musste. Aber eines Abends hatte er nur noch die Ananashälfte im Haus gehabt und sie schließlich gegessen. Es war nicht so schlimm gewesen wie erwartet. Fast hatte er das Gefühl, sie wäre noch da. Die Frucht passte nicht zur Pizza, aber der Gedanke, dass sie durch die Tür kommen könnte, um ihre Hälfte zu essen, machte die Pizza genießbar.

Woody stopfte sich die letzten beiden Stücke in den Mund und kaute gerade ausreichend, um sie runterschlucken zu können. Was noch in der Kehle steckte, rutschte mit einem Schluck aus dem vierten Bier runter. Eigentlich hatte Woody keinen Appetit, sein Heißhunger galt etwas anderem. Die kalte Pizza und das Bier waren nur das Vorspiel. Er fand noch eine übrig gebliebene Kruste in der Schachtel. Die Kruste war schneller gealtert als der Rest, Woody musste kleine Stücke abbrechen und sie im Mund aufweichen, bevor er den harten Teig runterwürgen konnte. Während er an dem letzten Stück nagte, starrte er die Schublade an. Er wollte eigentlich überhaupt keine Pizza.

»Scheiß drauf«, sagte er laut.

Er warf die Kruste in Richtung Spülbecken und hörte sie gegen ein Glas klirren, das ganz oben auf dem dreckigen Geschirrstapel stand. Das Abwaschen hatte er schon vor Monaten aufgegeben, irgendwann waren ihm saubere Teller, Gläser, Besteck und Schüsseln ausgegangen. Was nicht aus einer Schachtel gegessen oder einer Flasche getrunken werden konnte, wurde in seinem Haus einfach nicht mehr verzehrt. Woody zog die Schublade auf und griff hinein. Sie war fast leer. Die Messer und Kochutensilien, die einst darin gelegen hatten, waren jetzt im Spülbecken oder unter den Müllhaufen auf der Arbeitsfläche begraben. Übrig geblieben waren nur noch ein Flaschenöffner und eine kleine Schminktasche, die ihr gehört hatte. Als Woody die Tasche zum ersten Mal in die Hand nahm, hatte sie nach ihrem Parfüm geduftet. Stundenlang hatte er daran gerochen, bis sie nur noch nach seinem schalen Atem stank. Auch jetzt verströmte sie einen furchtbaren Geruch, der ihm aber den Puls in die Höhe trieb. Es war ihm peinlich, dass der Gestank ihn mehr erregte als früher ihr Duft. Er nahm die Tasche, hielt kurz inne und zählte im Kopf nach, wann er sie zuletzt in der Hand gehabt hatte – erst vor zwei Tagen. Einen Moment lang überlegte er, sie wieder wegzulegen. Aber er war in letzter Zeit kränklich gewesen und so müde. Er arbeitete zu viel und bekam nicht genug Schlaf, war erschöpft und nervös und brauchte dringend Entspannung. Das war alles. Er griff schneller wieder zu der Tasche, als ihm lieb war und am Wochenende hatte er frei und konnte Schlaf nachholen. Mit ein bisschen Schlaf wäre bald alles wieder normal. Woody überwand seine Gewissensbisse und nahm die Tasche mit ins Wohnzimmer.

Der Fußboden war mit alten Zeitungen und noch älteren Pizzaschachteln übersät. Jedes Sofa und jeder Sessel waren von ordentlich aufgestellten Ringen leerer Flaschen umzäunt, um den La-Z-Boy-Sessel herum gleich dreireihig, hier saß er am liebsten. Woody legte die Tasche auf den Tisch neben dem Sessel und setzte sich vorsichtig hinein, um keine der Flaschen umzustoßen. Das abgenutzte braune Leder ächzte, als er sich in die Kissen lehnte. Er ließ seine Knöchel knacken und zog den Reißverschluss der Schminktasche auf. Sie enthielt eine Glaspfeife, ein Feuerzeug und einen kleinen Ball aus Alufolie. Woody zog die Folie auseinander und betrachtete die auf der zerknitterten Oberfläche liegenden Reste. Nur noch drei kleine Heroin-Rocks – weniger, als er gedacht hatte.

»Billigscheiße hält nie lange«, sagte er. Was immer Joanne ihm dieses Mal verkauft hatte, musste mit irgendwas verschnitten worden sein. Augen auf beim Drogenkauf. Egal, für heute Nacht würde es reichen. Er würde schlafen können und dann eine Weile nichts mehr brauchen. Es sei denn, die Erkältung verschlimmerte sich. Dann würde er ein bisschen Medizin brauchen, aber wahrscheinlich würde es dazu nicht kommen. Woody wurde kaum jemals ernsthaft krank.

Er hielt das Feuerzeug unter die Folie. Die Flamme erweckte das Heroin zum Leben, es zischte wie eine beschworene Schlange. Die Rocks verwandelten sich von fest zu Rauch, der sich wie eine Kobra in die Luft erhob, bevor Woody ihn mit der Pfeife in seine Lungen sog. Dort hielt er ihn, bis sein Kopf leicht wurde, dann blies er ihn aus. Den nächsten, rasch folgenden Zug hielt er noch länger. Beim Ausatmen hustete er. Nach dem dritten Zug sah er Sterne. Es dauerte kaum eine Minute, dann war alles in der Folie weggeatmet. Woody nutzte die geschwärzte Folie als Untersetzer für die Pfeife und das Feuerzeug. Mit den freien Händen suchte er auf beiden Seiten seines Hinterteils nach der Fernbedienung für die Stereoanlage, fand sie unter der rechten Arschbacke und drückte zu. Sekunden später erklangen die Anfangstöne von »Gimme Shelter« aus den Lautsprechern. Woody zog am Hebel des La-Z-Boys und lehnte sich so weit wie möglich zurück. Er war nicht high, bloß entspannt und gedankenverloren. Sein Hirn war im Leerlauf, er dachte an nichts.

So trieb er, bis ein neuer Klang im Lied, ein atonales Quietschen, ihn aus seinem Schweben im Nichts riss. Irgendwann verarbeitete sein Hirn den Ton und ordnete ihn seinem Handy zu. Woody stand auf, schlurfte in die Küche, nahm seine Jacke von dem Poststapel auf der Kücheninsel und kramte sein Telefon heraus.

»Yeah?«

»Scheiße, was ist los, Woody? Ich wollte gerade auflegen.«

»Nur die Gegenwart zählt, Jerry.«

»Witzig. Ich brauche dich an der 110 Ferguson Avenue South.«

»Ich komm gerade vom Dienst, Jerry. Jetzt ist wer anders dran. Ruf den an.«

»Würde ich gerne, aber ich hab hier einen toten Cop und bestelle dich ein.«

»Wer?«

»Julie Owen. Sie war bei der GANG-Einheit. Echt schlimme Horrorscheiße, Woody. Ich brauch dich.«

»Hast du Os angerufen?«

»Ja, er ist auf dem Weg.«

»Ich bin in zehn Minuten da.«

Als Woody auflegte, sang Mick Jagger gerade »Love in Vain«. Woody ging langsam ins Badezimmer im ersten Stock. Während das Waschbecken sich mit kaltem Wasser füllte, starrte er in den Spiegel. Er sah müde aus. Bestimmt wurde er doch richtig krank. Als das Waschbecken voll war, tauchte er sein Gesicht in das kalte Wasser. So blieb er, bis der Schock nachließ. Als er den Kopf rauszog, stellte er fest, dass er überall Wasser verteilt hatte. Er griff zu dem Händehandtuch, das er nie wusch, und trocknete sich Gesicht und Haare ab. Er ließ das Wasser ablaufen, der Rest konnte von allein trocknen. Als er seine Jacke anzog und zur Tür hinausging, fühlte er sich wach und munter.

Tin Men

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