Читать книгу Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie - Mike Rutherford - Страница 5
Оглавление3 Uhr morgens. Ich hielt mich in einem Hotelzimmer in Chicago auf, als das Telefon schrillte. Es war Angie: „Ich habe schlechte Nachrichten – Dad ist gestorben.“ In solchen Momenten scheint die Zeit stillzustehen und das Herz auszusetzen. Mum hatte sie angerufen: „Angie, mein Liebes. Dad ist tot. Ich habe ihn mit meinem Stock angestoßen, und er bewegt sich nicht. Er hat uns verlassen.“ Mum war an einen Rollstuhl gefesselt und konnte sich kaum mehr bewegen. Die beiden schliefen in Einzelbetten, und die Formulierung, die Angie benutzte, entsprach exakt ihrer Wortwahl. Ich konnte beinahe ihre Stimme hören.
In dem Moment fehlten mir die Worte, ganz zu schweigen von der Kraft, Vorbereitungen zu treffen. Ich stand zu sehr unter Schock. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, stellte ich mich ans Hotelfenster und schaute auf das Scheinwerferlicht der Autos hinab. Mein Zimmer lag im 35. Stock. Plötzlich war alles still, und ich fühlte mich so unglaublich einsam – getrennt von den Ereignissen unten auf der Straße, abgeschnitten vom Rest der Welt.
Wir befanden uns mitten in einer Serie von sechs Konzerten in Chicago, bei denen wir jeden Abend vor 20.000 Zuschauern auftraten. Weniger als ein Monat war seit dem Auftakt der einjährigen Tournee vergangen. Ich wusste, dass mich die Band und unser Manager Tony Smith unterstützen würden, falls ich nach Großbritannien zurückfliegen wollte. Man konnte es mit der Musik vergleichen, bei der wir uns immer gegenseitig bestärkten. Doch ich wusste auch, dass ich in Farnham wirklich nichts ausrichten konnte. Angie und meine Schwester Nicky standen Mum zur Seite, und mein Vater hatte sich schon selbst frühzeitig um die Begräbnisvorkehrungen gekümmert. So setzten sich Tony Smith und ich also hin und arbeiteten einen Plan aus. In zwei Wochen würde ich über Nacht nach Großbritannien fliegen, um an der Beerdigung teilzunehmen. Danach sollte es mit der Concorde direkt nach Kalifornien zurückgehen, um eine Show im LA-Forum zu spielen.
Die nächsten zwei Wochen wirkten surreal, wie ein Traum. Ich ging auf die Bühne, verlor mich für zweieinhalb Stunden in der Musik, doch nach dem Ende des Auftritts traf mich die Erkenntnis des Geschehenen mit voller Wucht. Mit Tony und Phil zu spielen vermittelte mir ein Gefühl der Geborgenheit, der Sicherheit, aber wir unterhielten uns nie über meine Emotionen und den Tod meines Vaters.
In meinem Leben gab es Phasen, in denen ich mich schuldig fühlte, wenn ich nicht über meine Gefühle sprach, aber so wurde ich nun mal erzogen. Der Grund dafür liegt größtenteils bei der Privatschule, die ich besuchte, aber auch in der Generationenzugehörigkeit: Mein Vater und ich stammten aus einer Zeit, in der Söhne ihren Vätern niemals sagten, dass sie sie lieben. Ich habe gegenüber Dad niemals meine Liebe und Zuneigung ausgedrückt. Es tut mir unendlich leid, ihm niemals erklärt zu haben, was für ein wunderbarer Mann er für mich gewesen ist.
Ich kam am 13. Oktober 1986 in Großbritannien an und eilte kurz nach Hause, um die Kinder zu sehen. Dann fuhr ich mit Angie zur Beerdigung in Aldershot. Noch am Abend zuvor stand ich vor Tausenden auf einer Bühne, und nun saß ich in einem Wagen auf dem Weg zu einer englischen Kirche, um meinem Vater ein letztes Lebewohl zu sagen. Danach plante ich, direkt nach LA zurückzufliegen.
Ich brauchte dringend Beistand, und so fragte ich Angie, ob sie mich für nur eine Nacht begleite. Während wir in der Kirche trauerten, machte sich deshalb irgendjemand auf den Weg zu unserem Haus, um ihren Pass zu holen. Danach ging es direkt nach Heathrow, wo wir uns zum ersten Reiseabschnitt in die Concorde setzen. Angie trug noch immer ihre Trauerkleidung und führte nur eine Handtasche mit sich.
Nach der Ankunft in New York wartete auf uns ein Wagen auf dem Rollfeld, der uns zu einem Privatjet brachte, mit dem wir nach LA fliegen sollten. Ich glaube, dass mir in diesem Moment das ganze Ausmaß der Geschehnisse bewusst wurde. Wir flogen mit der Sonne Richtung Westen, und der Tag zog sich endlos in die Länge. Während sich die Maschine LA näherte, rückte die Kirche in Aldershot immer weiter in den Hintergrund. Nur wir und einige Mitglieder der Crew hielten sich im Flieger auf. Es war sehr, sehr ruhig, und die Sonne ging einfach nicht unter. Mich beschlich das Gefühl, den Orientierungspunkt im Leben verloren zu haben.
Später fand ich heraus, dass sich Elton John und sein Promoter Gary Farrow unter das Publikum in LA gemischt hatten. Die beiden wussten, was geschehen war, und verbrachten die Zeit vor der Show mit Spekulationen, ob ich es rechtzeitig zum Auftritt schaffen würde. Die Band versuchte sich schon auf Songs zu einigen, die sie ohne mich spielen konnte. Auch eine Absage des Konzerts stand zur Diskussion. Dank einer Polizeieskorte, die mich vom Flughafen zum Auftrittsort geleitete, kam ich jedoch 20 Minuten vor der Show an.
Die Behauptung, dass ich das Konzert meinem Vater gewidmet hätte, mag vielleicht ein wenig übertrieben klingen, aber als ich die beklemmenden Akkorde von „Mama“ hörte, diesen ursprünglichen, simplen Beat, empfand ich es so. Vater lehrte mir, dass man seine Verpflichtungen erfüllt – eine einfache, unumstößliche Regel. An dem Abend brachte ich exakt diese Grundhaltung in das Konzert ein. Ich schätze, er hätte das mit Wohlwollen honoriert.
Ich ging mit Angie zu Bett, und als sie schließlich eingeschlafen war, drehten sich meine Gedanken im Kreis. Wie bizarr war das doch alles. Ich hatte meinen Vater am Morgen beerdigt, flog in der Zeit rückwärts und war gerade noch rechtzeitig für den Gig angekommen. Auch mein Vater befand sich auf einer Reise, und ich war mir nicht sicher, wie ich das alles einordnen sollte.
Nach dem Ableben von Mum 1992, also sechs Jahre später, war ich erneut mit dem Tod Dads konfrontiert. Nicky hatte das Haus ausgeräumt und mir drei abgenutzte, mit Leder bezogene Schrankkoffer Dads geschickt. Einer davon hatte Großvater gehört.
Mutters Tod belastete mich damals gerade sehr, genauso wie die Tatsache, dass wir das erste und einzige Zuhause meiner Eltern in Farnham verkaufen mussten. Es war das Ende eines Lebensabschnitts, und ich fühlte mich noch nicht bereit, in die Koffer zu schauen, da dadurch vielleicht Gefühle ausgelöst würden, denen ich mich noch nicht stellen konnte. Ich gehörte schon immer zu den Menschen, die ihre Emotionen gut verstecken. So landeten die Koffer auf dem Dachboden über meinem Studio, wo sie einige Jahre unberührt lagerten.
Ich weiß nicht, wann ein Zeitpunkt ideal ist, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es war denn auch nicht beabsichtigt, aber eines Tages – ich litt an einer Schreibblockade – dachte ich plötzlich an die Koffer. Kurze Zeit später stand ich auf dem Speicher. Welchen sollte ich zuerst öffnen? Ich entschied mich dafür, gleichzeitig einen Koffer von Dad und den von Opa zu inspizieren. Als ich die Deckel geöffnet hatte, verblüffte mich am meisten die militärische Präzision, mit der alles penibel und sauber verstaut worden war. Großvaters Papiere und Akten waren mit elastischen Bändern zusammengeschnürt, während Dads Unterlagen sorgfältig in Plastikordnern steckten. Letzteres schockierte und verblüffte mich, da ich mich selbst mit solchen Ordnern umgab – und ich bin niemals beim Militär gewesen.
Ich fand dort Papiere, Geschichtsbücher zur Marine aus Dartmouth, Memorabilia aus dem Krieg, die Medaillen, den Orden „Commander of the order of the British Empire“, Auszeichnungen für besondere Leistungen und seine Krankenakte. Sogar sein Schwert lag in der Truhe. In Großvaters Koffer befanden sich ähnliche Unterlagen, aber ich fand auch zwei Bücher, die er geschrieben hatte: Soldiering with a Stethoscope und Memoirs of an Army Doctor. Unter den Papieren fand ich ausgezeichnete Kritiken zu den Büchern, in denen Colonel Rutherford in höchsten Tönen gelobt wurde. Der Koffer von Dad enthielt ein Manuskript seiner Memoiren sowie einen unterstützenden und wohlwollenden Brief von David Niven, dessen Meinung er offensichtlich eingeholt hatte. (Vater war ein Fan von Nivens Vielleicht ist der Mond nur ein bunter Luftballon gewesen.) Dennoch fiel mir die Absage eines Verlegers in die Hände, der meinte: „Heutzutage werden Lebensläufe von Angehörigen des Militärs nicht sonderlich nachgefragt. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir den Titel nicht akzeptieren können.“
Ich konnte in diesem Moment Dads Enttäuschung förmlich spüren.
Letztes Jahr schnappten sich meine Söhne Vaters Manuskript und ließen daraus ein in Leder eingeschlagenes Buch binden. Sie schenkten es mir zu Weihnachten, was mich vollkommen überwältigte. Generell vermag ich meine Gefühle, wie gesagt, sehr gut zu verbergen, doch an diesem Tag fiel es mir schwer. Ich setzte mich hin, las das Buch von vorne bis hinten und begann das Leben meines Vaters wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Nicht nur seine Laufbahn in der Marine erfüllte mich mit Stolz, sondern auch das Erbe, das er mir hinterlassen hatte …