Читать книгу Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie - Mike Rutherford - Страница 6
ОглавлениеIch erblickte im Mai 1906 in einer Londoner Entbindungsklinik das Licht der Welt. Mein Vater war damals als Stabsarzt in den Chelsea Barracks stationiert. Er führte zuerst eine Privatpraxis, trat dann dem Royal Army Medical Corps bei und wurde zum Krieg in Südafrika abberufen, nach dessen Ende er meine Mutter ehelichte. Sie gehörte zu den Cloetes, einer der alten Familien am Kap, die 1652 nach Südafrika übergesiedelt waren und keine Zeit verloren hatten, die Anzahl der Familienmitglieder drastisch zu erhöhen.
Mein Vater wurde im Zeitalter des Empire geboren, einer Ära, charakterisiert durch Erzherzöge, Kaiser und eine vielversprechende Karte der Welt. Die Marine von Edward VII beherrschte die Meere. Sie hatte seit der Schlacht von Trafalgar keinen Gegner mehr gesehen, der ihr die Stirn bieten konnte. Haushalte wie der meines Vaters wurden meist von Kindermädchen mit Unerbittlichkeit und eiserner Faust regiert.
Die Reisen von Dad begannen im Alter von zehn Jahren, als Opa nach Südafrika zurückkehrte – mit der Nanny im Schlepptau, obwohl ich an ihrer Freude an dem Umzug zweifle.
Wir erreichten Durban. Nachdem wir von Bord gegangen waren, konnte ich mich an der ersten Fahrt in einer Rikscha erfreuen, einem zweirädrigen Gefährt, von einem Zulu gezogen, der zwischen den beiden Holzholmen lief. Der eher spärlich bekleidete Mann trug dekorative Kleidung und einen Kopfschmuck aus Hörnern. Von Zeit zu Zeit hüpfte er mit einem das Blut gefrieren lassenden Schrei in die Luft, wobei die Fahrgäste beinahe aus den Sitzen fielen. Ich konnte mich köstlich über Nanny amüsieren, eine Anhängerin der damals allgemein verbreiteten Ansicht, dass schon in Calais das Land der schwarzen Rasse begann. Diese Erlebnisse raubten ihr den Atem und ließen sie verstummen.
Drei Jahrzehnte später hielt sich Vater erneut in Durban auf, wo er meiner Mutter Anne begegnete. Zu der Zeit absolvierte er seinen Dienst als stellvertretender Captain des schweren Kreuzers „Suffolk“, der dort für eine Überholung vor Anker gegangen war. Er traf Mum bei einer Wohltätigkeits-Tanzveranstaltung, und die beiden heirateten nur sechs Wochen später. Trotz des eher impulsiven Charakters meiner Mutter erscheint mir das dennoch als sehr schnell. Egal, das glückliche Brautpaar genoss sechstätige „Flitterwochen“, wonach Dad wieder in See stach, diesmal nach Trincomalee in Sri Lanka. Die beiden sahen sich erst nach einer Trennungszeit von zehn Monaten wieder.
Meine Eltern fielen sich in England am VE-Day erneut in die Arme, an dem die Alliierten den Sieg in Europa feierten. Mum war mit einem Truppentransporter nach Großbritannien gereist, und Dad hatte man einen Posten bei der Admiralität angeboten. Das Dienststellengebäude lag an dem Paradeplatz der berittenen Garde nahe Whitehall. Als Mum 1947 die Geburt meiner Schwester Nicolette erwartete, hatte das Militär Dad bereits zum Stabschef der Marinevertretung der Joint Chiefs of Staff in Australien berufen. Man entschloss sich, dass Mum zu Nickys Geburt nach Durban reisen und danach die Schifffahrt nach Australien antreten sollte, um Dad zu treffen. Das bedeutete Folgendes: Dad erfuhr erst von der Geburt seiner Tochter, als man ihm auf der Gangway seines Schiffs in Adelaide eiligst ein Telegramm überreichte.
Nach dem Ende seiner Dienstzeit zogen meine Eltern und Nicky nach Großbritannien. Dad trat wieder den Dienst bei der Admiralität an und fand ein Mietshaus in Chertsey, Surrey, wo ich am 2. Oktober 1950 geboren wurde. Bei der Suche nach einem passenden Namen entschieden sich die beiden für möglichst viele Optionen, und so taufte man mich Michael John Cloete Crawford Rutherford. Weniger als zwei Jahre nach meiner Geburt musste Dad uns dann neuerlich verlassen, diesmal eilte er in den Koreakrieg.
Vater war erst acht Jahre alt, als er Opa dabei beobachtete, wie dieser – mit Fernglas, einem Schwert und einem Revolver bewaffnet – in den Ersten Weltkrieg zog. Im Alter von nur 18 Monaten konnte ich zwar noch nicht wahrnehmen, was Dad bei sich trug, als er sich in den Fernen Osten aufmachte, aber ich erinnere mich genau an den Tag seiner Rückkehr zwei Jahre später. Er fragte mich, wie viele Zähne ich schon hätte, und dann ließ er mich über das ganze Auto klettern – meiner Meinung nach sympathische Begrüßungsgesten.
Bis ich ins Bett musste, lief alles ganz gut, doch dann wunderte ich mich ein wenig: Was machte der fremde Mann in unserem Haus? Der hatte doch sicher nichts mit uns zu tun?
Offensichtlich aber doch!
Ich kann das Bild meines Vaters immer noch klar vor mir sehen, der in der Abenddämmerung in meinem Zimmer auftauchte, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Er war ein großer, stämmiger Mann – nicht so groß allerdings, wie ich mal werden sollte –, erschien mir aber trotzdem nicht furchteinflößend.
Ich hegte immer noch den Gedanken, ob er nicht im Laufe der Nacht wieder verschwinden würde, und so stand ich mehrmals auf, um nachzuschauen, wo er steckte. Schließlich gaben meine Eltern nach und stellten mein Bett in ihr Schlafzimmer, damit sie endlich in Ruhe die Augen schließen konnten.
Vater war stets ein standesgemäß gekleideter Mann mit einer verblüffenden Grundhaltung. Sogar ohne Uniform bewahrte er Haltung und strahlte eine Präsenz aus, die andere Menschen beeindruckte. Wo auch immer er hinging – in ein Restaurant, ein Geschäft oder in einen Schreibwarenladen –, er zwang den Leuten förmlich Respekt ab, die sich daraufhin höflich und zuvorkommend verhielten. Darüber hinaus würde ich ihn als pünktlich, in allen Belangen methodisch vorgehend und gründlich charakterisieren.
Als kleiner Junge richtete ich mich jedoch eher nach meiner Mutter.
Sie wollte in ihrer Jugend die Kunsthochschule besuchen, was jungen Mädchen damals jedoch versagt blieb. Auch schwebte ihr eine Laufbahn als Balletttänzerin vor, doch dafür war sie zu groß. Mum nahm Klänge und Energie mit hoher Sensibilität wahr. Ein Sonnenuntergang oder ein kräftig blauer Himmel begeisterten sie jedes Mal: „Liebling! Schau dir diese Farben an!“
Ich möchte sie als eine wunderbare, auf eine bestimmte Art faszinierend verschrobene Frau beschreiben. Ich glaube, dass Dad ihre Persönlichkeit schätzte und genoss, was ihm jedoch einige Probleme einbrachte. Als die beiden in Melbourne lebten, verlor sich Mum ganz und gar im Sammeln von Gold-Akazien, die sie wegen der kräftig gelben Farbe liebte und die sie an Südafrika erinnerten. Allerdings wusste Mutter nicht, dass die Pflanzen in Australien – ganz im Gegensatz zu Südafrika – unter Naturschutz stehen. Eines Tages belud sie Dads Wagen mit Gold-Akazien, die ihr eine Strafe von 200 Pfund eingebracht hätten. Dad musste daraufhin mitten in der Nacht an den Strand fahren, ein Loch buddeln und das Grünzeug darin verschwinden lassen.
Mum war die Ehe mit Dad als Witwe eingegangen. Ihre vorhergehende Beziehung zählte zu den Tabuthemen der beiden. Erst im Alter von 13 Jahren, während eines Familienurlaubs in Italien, dachte ich laut darüber nach, warum jedes silberne Besteckstück im Schrank des Esszimmers die Gravur „Captain Woods“ trug. Die beiden schreckten hoch. Mum war kreidebleich. Damals stigmatisierte man noch eine zweite Ehe. Hinzu kam, dass „Captain Woods“ an Krebs gestorben war, worüber man erst recht nicht sprach. Ich schätze, es muss Mums Idee gewesen sein, ihre persönliche Geschichte unter den Teppich zu kehren, denn mein Vater war viel zu direkt, um etwas zu verbergen.
Vielleicht bewahrten die beiden Stillschweigen darüber, weil sie sich ernsthafte Sorgen machten, dass sich dieses Wissen auf mich auswirken könnte. Na ja, wenn sie wirklich von solchen Bedenken geplagt wurden, hätten sie nicht das gravierte Tafelsilber rumliegen lassen dürfen. Wie dem auch sei, Mums erste Ehe berührte mich nicht.
Als ich fünf Jahre alt war, ernannte man meinen Vater zum Kommandierenden Offizier der kleinen Insel Whale Island im Hafen von Portsmouth. Dad hatte dort vor 20 Jahren seine Ausbildung als Leitschütze der Marineartillerie absolviert und kehrte nun, 1955, zurück, um das Kommando zu übernehmen.
Es stellte den Höhepunkt seiner Laufbahn in der Marine dar. Schon bald bezog unsere Familie das Haus des Captains. Dieses Arrangement mutete ein wenig ungewöhnlich an, denn bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die Unterbringung alleinig Männern vorbehalten. Von den Familien erwartete man, dass sie in ihrer Wohnung an Land blieben. Hinzu kam noch, dass die Kinder der meisten Offiziere beim Erreichen des Captain-Rangs schon erwachsen waren und eine Universität besuchten. Mein Vater hingegen hatte im Alter von 49 Jahren eine siebenjährige Tochter und einen fünfjährigen Sohn. Doch Nicky und ich lernten schnell, uns in die Abläufe einzufügen:
In der Militäreinrichtung bezogen beide Kinder die ihnen zugewiesenen Plätze. Es gab keine Kinderpsychologie oder etwas Vergleichbares. Wenn sie die Dreiräder nicht benutzten, wurden sie exakt zwischen die weißen Linien ihres Fahrradparkplatzes außerhalb des Hauses gestellt. Nach jeder Freizeit wurde ihr Spielzeug auf Seemannsart eingezogen. Falls sie fragten: „Ist das ein Befehl?“, lautete die gewohnte Antwort: „Ja – rechts um – im Eilschritt Marsch!“ Mehr lässt sich darüber nicht berichten.
Ebenso wie Dad hatte ich in der Kindheit eine Nanny, zumindest während der Zeit auf Whale Island. Sie war die Tochter eines Lieutenants, die wie der Wind rennen konnte, was sich als nützlich erwies, wenn ich mal wieder mit dem Dreirad davonbrauste. Mein Ziel lag immer beim Strand, denn Gerüchten nach waren dort 50-Pence-Stücke vergraben. Doch ich kam niemals so weit. Wenn es mir mal gelang, meiner Nanny zu entwischen, wurde die Flucht mittels des Lautsprechersystems vereitelt, worüber man die Nachricht meines Ausbüchsens verlas: „Jeder, der den Sohn des Captains sieht, wird aufgefordert, Position, Zielrichtung und Geschwindigkeit mitzuteilen, einzugreifen und ihn zur Basis zurückzubringen.“
Leider befolgten sie immer den Befehl.
Trotzdem konnte das Leben auf Whaley für ein Kind aufregend sein. Ich brachte die Essensreste gemeinsam mit dem ersten Stallknecht Mr. Brown zu den Pferden, wobei immer eine leere Tonne auf der Ladefläche des Fuhrwerks stand. Falls es mal regnete, konnte ich da hineinkrabbeln, und der Deckel wurde einfach draufgelegt. Im zweiten Jahr auf der Insel trat ich den Jungkadetten der HMS „Excellent“ bei. Natürlich hatte ich das dafür nötige Alter noch nicht erreicht, doch niemand beschwerte sich darüber angesichts der Tatsache, dass Dad der Commander war. Dem Buch meines Vaters nach fiel ich vor einer Parade in einen Goldfischteich und weinte mir die Augen wund, da mir untersagt wurde, die nassen Hosen anzubehalten. Dad beschrieb das als „eines Seemanns unwürdiges Verhalten“. Bereute er es, die Dienstvorschriften ein wenig abgeändert zu haben?
Einmal wurde eine der Kanonen auf der Insel versehentlich abgefeuert.
Michael ritt auf der unteren Rasenfläche auf Joey, dem Pony, beaufsichtigt von Mr. Brown. Beim Knall des Schusses bockte das Pferd und warf Mike aus dem Sattel, der sich aber mit einem Fuß im [linken] Steigbügel verfangen hatte und sich kopfüber an Joeys [rechte Seite] klammerte. Als man ihn aus der Position befreite, schien seine Moral ungebrochen, da er annahm, dass es zum Reittraining gehörte und so eine verdrehte Körperhaltung – die der eines Kosaken glich – völlig normal war.
Zu den Höhepunkten auf Whaley zählte der Besuch einer russischen Marineschwadron in Portsmouth. Mein Vater erhielt den Befehl, sich um den Kreuzer der Swerdlow-Klasse und seine Crew zu kümmern. Nachdem der Kapitän unser Haus zum Tee besucht hatte, lud man mich im Gegenzug ein, am nächsten Tag auf das Schiff zu kommen. Ich kehrte mit einer wahren Wagenladung an Geschenken zurück, was aus meiner Perspektive als ein großer Erfolg zu werten war. Allerdings glaube ich, dass Dad sich ein wenig enttäuscht zeigte, da ich während des Aufenthalts auf dem Schiff keine Geheiminformationen in Erfahrung bringen konnte. Wir befanden uns mitten in der Zeit des Kalten Krieges! Die einzigen Informationen, die ich erhielt, waren die russischen Vokabeln für „Danke schön“. Ich merkte schnell, dass die Anzahl der Schokoladen rapide in die Höhe stieg, je öfter ich die Worte sagte. Die russischen Schokoladen waren ungefähr so groß wie meine Hand, und ich bedankte mich tapfer, bis ich sechs erbeutet hatte. Dann ging ich nach Hause und wurde krank.
Wenn ich an Whaley zurückdenke, muss ich immer an die Größe der Militäranlagen denken: Überall gab es riesige Gebäude zum Herumrennen. Der Paradeplatz schien sich ins Endlose zu erstrecken, und natürlich wurde damals alles mit Prunk und Pomp zelebriert – und mein Vater bildete das Zentrum der Aktivitäten. Jede Feier drehte sich um ihn, und egal wo wir auch hingingen – alle salutierten ihm. (Ich liebte das militärische Grüßen, denn es wirkte so erwachsen: Es war eine Geste, die nur Männern zustand. Ich versuchte ständig vor der Nanny und meiner Schwester auszubüchsen, da sie niemand grüßte.)
Bei den Inselrundgängen mit Dad streckte ich immer meine Brust heraus, um so groß wie möglich zu erscheinen. Ich spürte die Bedeutung, an seiner Seite zu gehen.
Ein Brief der Admiralität veränderte dann das Leben meines Vaters. Statt der erhofften Beförderung zum Konteradmiral enthielt der Brief die Nachricht, dass er in zwei Monaten aus der Navy ausscheiden solle.
Zum dem Zeitpunkt hatte Dad bereits 36 Jahre gedient, zwei Mal das Silberne Eichenlaub mit Urkunde für außergewöhnliche Leistungen im Zweiten Weltkrieg erhalten sowie einen Orden für hervorragenden Dienst vor der Küste Koreas in den Fünfzigern. Und plötzlich war er ohne Arbeit. Mit einer Frau und zwei kleinen Kinder stand eine Pensionierung außer Frage. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er sich auf Jobsuche begeben, trotz schlechter Aussichten.
Man überreichte mir ein offizielles Handbuch mit Ratschlägen für den Übergang ins Zivilleben. Ich las es eines Abends. Es war der wohl deprimierendste Text, den ich mir je zu Gemüte führte. Um meine Moral wiederherzustellen, brauchte ich danach einige harte Whiskeys. Offensichtlich war ich für den Arbeitsmarkt praktisch wertlos. Ich musste eine demutsvolle und bescheidene Haltung einnehmen, bereit sein, einen durchschnittlichen Job anzunehmen, in der Hoffnung, die Karriereleiter erneut hinaufzusteigen – falls ich überhaupt das Glück hatte, die erste Sprosse zu betreten.
Die Jugendlichen heutzutage würden das wohl als „voll düster“ bezeichnen.
Nach einigen Absagen bewarb sich Dad für einen Job beim Blue-Steel-Raketenabwehrsystem, entwickelt von Hawker Siddeley (die man später in die British Aerospace eingliederte). Die Bewerbung war erfolgreich, doch seine zukünftige Arbeit bedeutete einen Umzug nach Cheshire, also zur anderen Seite Großbritanniens, wo die Firmenzentrale von Hawker Siddeley lag. Mein Vater achtete immer auf für den Anlass angemessene Kleidung. Als er sich nach Wilmslow aufmachte, trug er seine neue Uniform: Einen Bowler, einen zusammengerollten Regenschirm und Handschuhe aus Schweinsleder.
Mum, Nicky und ich folgten ihm kurz darauf und zogen in das Dean Water, ein Hotel in Manchester. Daraufhin schauten sich meine Eltern nach einem Haus um. In dem Hotel fanden jeden Samstag Tanzveranstaltungen statt. Meine Schwester und ich – wir trugen zu der fortgeschrittenen Stunde schon Schlafanzüge – beobachteten zwischen den Streben des Treppengeländers hindurch die ankommenden Tanzgäste in ihrer schicken Abendgarderobe. Es war ein kurzer Einblick in eine neue Welt und sehr aufregend.
Far Hills, ein aus Ziegeln gebautes freistehendes Haus, für das sich meine Eltern letztendlich entschieden, lag ungefähr vier Meilen von Hawker Siddeley entfernt. Wenn einer der dreieckig wirkenden schwarzen Vulcan-Bomber über unser Heim flog, brachte die Turbulenz das ganze Gemäuer zum Beben, was eventuelle Gäste mehr als erschreckte. Mich hingegen beeindruckte die Tatsache, dass ich die Landebahn der Basis als Gokart-Strecke benutzen durfte.
Ich besaß einen gelben Gokart 30 cc – sehr cool –, den wir in den großen rotweißen Austin luden und damit zur Basis fuhren. Natürlich ragte das Gefährt aus dem Kofferraum. Ich erinnere mich hauptsächlich daran, dass es nicht leicht war, das verdammte Ding anzukriegen, aber wenn es mal lief, flog ich quasi damit.
Mum beförderte mich immer zur Basis und brachte Dad jeden Tag zur Arbeit. Ihr Fahrstil lässt sich am passendsten mit „recht flott“ beschreiben. Eines Tages hatten wir es eilig. Wir mussten zum Bahnhof und eilten zum Auto, das in der Garage abgestellt war. Nicky und ich quetschten uns auf die hintere Sitzbank und schauten erwartungsvoll aus dem Rückfenster. Dann geschah es! Mum durchbrach mit Vollgas die Garagenwand.
Eine Fahrt zu unseren Verwandten in Schottland entwickelte sich regelmäßig zu einem Drama. In einem Jahr mieteten wir einen Caravan, den Mum mit Nicky und mir am Vorabend der geplanten Reise abholte. Als es ihr mit Müh und Not gelungen war, das große Gefährt rückwärts durch das schmale Tor zu bugsieren, hoffte ich inniglich, dass sich Dad am nächsten Morgen hinter das Lenkrad setzt. Dann kämen wir nämlich reibungslos zur Hauptstraße, was mit Mum hinter dem Steuer schnell zu einem das Leben verändernden Trauma werden konnte.
Doch Mum hatte einen Einwand gegen Dads Fahrkünste. Nach ihrem Dafürhalten verwechselte er das Lenkrad mit einem Schiffsruder: Er verlasse die Garage, als steche er in See, meinte sie, setze bei einer gemütlichen Geschwindigkeit das Segel auf der Straße und ignoriere die anderen Fahrer, die die Lichthupe betätigten, wild mit der Faust gestikulierten und ihn zu überholen versuchten. Er stecke angeblich vollkommen in seiner eigenen Welt, was Mutter zur Weißglut trieb.
Im Gegensatz zu meinem Vater hatte Mum keine Probleme mit der Geschwindigkeit. Kurz nach der Autobahnauffahrt drückte sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch und prügelte den Wagen bis zur Höchstgeschwindigkeit. Die Karosserie bebte und vibrierte, und Dad klammerte sich mit schneeweißen Knöcheln an den Beifahrergriff über dem Fenster. Er wusste eins: Jeder Versuch, Befehle zu erteilen, wäre mit einem unverzüglichen Rauswurf geahndet worden. Unser Ziel unter diesen Bedingungen unversehrt erreicht zu haben war immer eine große Erleichterung.
Besonders mir gefielen Schottland und die Besuche bei meiner Großtante Jean mütterlicherseits. Die Biggars besaßen drei Farmen und züchteten Galloway-Rinder. Ich schätze mal, dass dort der Wunsch in mir erwachte, Farmer zu werden. Ich liebte den Lebensstil und die freien, großen Flächen, mochte es, den Kühen nahe zu sein: Sie strahlten Sanftmut und Sicherheit aus. Ihnen beim Fressen des Heus am Abend zuzuhören, erfüllte mich mit Zufriedenheit.
Allgemein betrachtet bestand kein liebevolles Verhältnis zwischen den Familien meiner Eltern und den nächsten Verwandten. In Southsea lebte eine gewisse Aunty Rosie, die einen Hang zur Kunst hatte und leicht exzentrisch war – speziell, wenn sie ein oder vielleicht auch zwei Glas Wein trank. Wir besuchten sie jedoch nur einige Male. Merkwürdig, denn während der Stationierung auf Whale Island trennte uns nur eine minimale Entfernung. Die Beziehung zwischen Aunty Rosie und mir nahm kein glückliches Ende: Mum rief mich eines Tages an – ich muss in meinen Zwanzigern gewesen sein – und erzählte mir, das Aunty Rosie geheiratet habe. Zumindest verstand ich das so am Telefon. Wie man es so macht, trug ich Mum daraufhin auf, ihr meine Glückwünsche zu übermitteln. Doch das kam nicht gut an.
„Nicht geheiratet, mein Liebling! Beerdigt!“ Na ja, „married“ und „burried“ klingen phonetisch eben fast identisch …
Onkel Berners, Mums Bruder, sah ich noch seltener – tatsächlich nur ein einziges Mal. Sein Name wurde mit leiser Stimme ausgesprochen und nur dann, wenn meine Eltern glaubten, ich sei außer Hörweite. Möglicherweise lag es an seinem Fehlverhalten, denn er weigerte sich, meine Oma zu betreuen, die wir Jean Granny nannten. Vielleicht lag der Grund für das unterkühlte Verhältnis auch in der Tatsache begründet, dass Onkel Berners, der viele Jahre als Vikar in Eton tätig war, seinen Namen im späteren Leben mit einem Zusatz versah, was meine Eltern anwiderte und abstieß. Dad tolerierte keine Großspurigkeit.
Wegen Onkel Berners musste mein Vater schließlich für beide Omis – Jean Granny und seine Mutter Granny Malimore – finanziell aufkommen. Sie lebten beide bis in ihre Neunziger. Granny Malimore (Malimore nannte man übrigens ihr Haus in Farnham), war eine schlaue, jedoch nicht sehr aktive Frau. Jean Granny hingegen war nicht sonderlich clever, dafür aber ein lebensfroher und aktiver Mensch. Die beiden trafen sich bei Familienfeiern, wo Jean Granny immer eine Treppe fand, die sie hinaufsausen konnte, wobei sie die Frage stellte: „Oh Roberta, bin ich zu schnell für dich gegangen?“ Natürlich konterte Granny Malimore! Sie warf allerlei historische Fakten ins Gespräch und brachte Jean Granny mit Fragen in eine peinliche Situation, weil sie diese nicht beantworten konnte.
Ich weiß wirklich nicht, wie Jean Granny ihre Lebenserwartung so hochschraubte, doch bei Granny Malimore lag das Rezept auf der Hand: Tiefkühlung! Man betrat ihr Haus in Farnham, atmete aus und sah das Kondensat wie einen dichten Nebel in der Luft – trotz des intakten Kamins! Es war einer dieser kleinen Feuerplätze mit nur geringer Rauchentwicklung. Wenn ein winziger Funke zu glühen begann und ein wenig Wärme abstrahlte, sprang sie aus dem Sessel, schnappte sich den Kohlenkübel und schüttete so viel auf die Glut, dass sie beinahe wieder erlosch.
Granny Malimore besaß einen Fernseher – in jenen Tagen eher selten –, den ihr ein wohlhabender Cousin aus Kapstadt geschenkt hatte. Sie schaute sich alle Sendungen an, zog es aber vor, die anderen in dem Glauben zu wiegen, sie läse nur die Times. Wenn wir den Raum betraten, saß sie unschuldig da und tat so, als würde sie Zeitung lesen, doch wenn man die Hand auf den Fernseher legte, war er glühend heiß. Wahrscheinlich strahlte das Ding mehr Hitze ab als der Kamin!
Jean Granny lebte in einem etwas heruntergekommenen „Heim für Dauergäste“ in Farnham, dem Morris Lodge Hotel. Morris Lodge spielte in unserem Familienleben eine große Rolle. Während mein Vater sich im Koreakrieg befand, zog Mum mit meiner Schwester und mir dorthin. Diese Erfahrung zählte wohl zu den Gründen, warum sie die Trennung verarbeiten konnte. Nicky und ich standen unter ständiger Beobachtung meist dieser oder jener „durchgeknallten“ Person. Ein Colonel und eine Mrs. Crosse führten das Heim, unterstützt von einigen ziemlich herrschsüchtigen Schwestern. Vermutlich wurde darum [die in einem Hotel spielende Comedy-Serie] Fawlty Towers zu einer meiner Lieblingssendungen: Ich identifizierte mich vollkommen mit den Charakteren.
Noch als wir in Cheshire lebten, besuchten wir während der Ferien die Morris Lodge. Wir verbrachten die Wochenenden gelegentlich mit Angeln in der hügeligen Landschaft Derbyshires. Ich liebte das Leben an der frischen Luft, und auch heute noch bringen mich Flüsse zum Schwärmen.
Beim Fluss in Hartington gibt es eine wunderschöne Stelle, an der sich der Lauf krümmt. Dort ist es immer ruhig und friedlich, was sich jedoch nach der Invasion der Rutherfords nebst Hund änderte. Die seriösen Angler zeigten sich schockiert, nicht zuletzt, weil Mum eine brandneue Hardy-Angelrute besaß, aber dennoch einen Wurm für das Fliegenfischen benutzte.
Dad hingegen lag diese Freizeitbeschäftigung nicht, während ich in der ganzen Zeit nur zwei Fische aus dem Wasser zog. Doch Mum hatte ein ausgeprägtes Gefühl dafür. In ihrer Jugend in Südafrika war sie überaus sportlich gewesen: Sie ritt, nahm an Bootsrennen teil und übte sich im Schießen. Als ich aber das Licht der Welt erblickte, gehörten diese Aktivitäten indes einer längst vergangenen Ära an.
Mutter war eigentlich ständig für irgendwelche Scherze zu haben. Sie versuchte meinen Vater etwas aufzulockern, denn er strahlte eine gewisse Steifheit und Förmlichkeit aus. Dad hatte einen Sinn für Humor, zwar einen trockenen Humor, den viele übersahen, doch er war da. Mir gegenüber verhielt er sich jedoch eher reserviert, obwohl ich mich immer geliebt und behütet fühlte.
Vater war mit Opas Geschichten über den Burenkrieg aufgewachsen, doch er erzählte mir niemals von seinen Kriegserlebnissen, obwohl er viel zu berichten hatte. Nach der Kriegserklärung 1939 bestand seine erste Mission darin, Goldbarren im Wert von einer Million Pfund nach Kanada zu befördern. Das Gold stammte aus Frankreich und sollte zur sicheren Aufbewahrung verschifft werden. 1940, nachdem Frankreich in die Hände der Deutschen gefallen war, oblag ihm die Aufgabe, zwei französische Schiffe im Hafen von Plymouth in Beschlag zu nehmen, und 1941 befand er sich an Bord der „King George V“, die an der Versenkung der „Bismarck“ beteiligt war. Als Kind spürte ich, dass Dad nicht über den Krieg reden wollte, und hielt es für unangemessen, ihn danach zu fragen.
Wir waren niemals eine unglückliche Familie, allerdings ernst. Ich habe Dad beim Yoga beobachtet, das er während seines Aufenthalts in Fernost gelernt hatte, doch er spielte niemals Fußball mit mir. Auch belanglose Gespräche fanden nicht statt. Schon von jungen Jahren an kannte ich seine hohen Ansprüche. Beim Dienst auf Whale Island entschied er, wer Prüfungen bestand und wer durchfiel.
Eine Erinnerung passte jedoch nicht ins Bild: Mein Vater und ich nahmen gemeinsam das Bad, als ich noch sehr klein war. Ich besaß ein Plastik-U-Boot – eines dieser lustigen Dinger, die man in einer Cornflake-Packung fand – und füllte Backnatron hinein, damit es auf- und abtauchte. Während mich Dad dabei beobachtete, dachte er vermutlich, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handeln könne, bis ich eine Laufbahn in der Marine antreten würde.
Wir verbrachten nur wenig Zeit miteinander. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, lag ich oft schon im Bett. Im Alter von siebeneinhalb Jahren verfrachtete man mich dann ins Internat. Dad stellte letztendlich nur einen kleinen Teil meines alltäglichen Lebens dar, und gerade deshalb empfand ich die wenigen gemeinsamen Episoden auch als so wichtig.
Was Mum anbelangt, da weiß ich eigentlich nicht, was sie den ganzen Tag lang trieb, doch was auch immer es war – sie hatte es stets eilig. Meine Erinnerung dominiert ein Bild: Mum platzt in ein Zimmer, riecht noch nach der kalten Luft von draußen, stellt etwas ab und eilt schon wieder hinaus.
Meine Eltern hatten nicht viele Freunde. Die beiden müssen es als eine Art Schock erlebt haben, als sie sich im fortgeschrittenen Alter in der realen Welt außerhalb des Militärs zurechtfinden mussten. Dad hatte zuvor nie ein Haus besessen, denn als Captain war er ständig unterwegs gewesen. Wo auch immer er die Dienstmütze ablegte, war sein Zuhause. Zudem musste er sich nie um das Begleichen von Rechnungen kümmern. Mum brauchte sich hingegen niemals um die Zubereitung einer Mahlzeit oder alltägliche Fragen des Haushalts zu sorgen, denn das gehörte nicht zu den Aufgaben der Frau eines Captains.
Vielleicht fiel es ihnen aus diesem Grund schwer, Nicky und mir ein Zuhause zu bieten. Auch wir hatten keine wahren Freunde. Mein bester Freund war der Sohn unserer Putzfrau, mit dem ich auf dem Treppenabsatz in Far Hills spielte.
Während des Aufenthalts auf Whale Island hatten mir die Marinetischler eine wunderschöne hölzerne Truhe für Holzspielzeug gezimmert. Wir bauten daraus kleine Forts, von wo aus wir uns mit allen erdenklichen Dingen beschossen. Es machte viel Spaß, doch eines Tages muss ich wohl geglaubt haben, dass mein Freund schummelt, denn ich warf ihm eines dieser Spielklötzchen an den Kopf. Da floss zwar nicht viel Blut, aber es war das einzige Mal, dass mir Dad eine Tracht Prügel verpasste.
Das alles mag auf ein einsames Leben hindeuten, doch ich fühlte mich nicht einsam, sondern zufrieden und autark, was sogar so weit ging, dass ich mir mein eigenes Taschengeld auszahlte – Half Crowns, die ich aus der Garderobe von Dad nahm. Das waren große und dicke Münzen, die wertvoll wirkten. Meist gab ich sie für Süßigkeiten oder Modellbausätze aus: Flugzeuge und keine Boote, die ich als zu langweilig empfand. Erst als ich die Vorschule besuchte, wurde mir klar, was ich bislang mit Blick auf das gesellschaftliche Leben verpasst hatte. Und ich machte eine weitere Entdeckung: die Musik.