Читать книгу Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie - Mike Rutherford - Страница 8
Оглавление„Die Gitarre“, empörte sich Mr. Chare, „ist ein Symbol der Revolution. Und in meinem Haus, unter meiner Aufsicht, wird es keine Revolution geben.“ Um die Aussage zu bekräftigen, schlug er mit beiden Fäusten auf seinen Tisch.
Chare bekleidete den Posten des Erziehers in meiner Unterkunft in Charterhouse und war gleichzeitig meine Nemesis. Seine Augenbrauen waren über zwei Zentimeter lang und stachen ebenso wie sein Kinn hervor. Er hatte die Absätze der Schuhe mit Stahl beschlagen lassen, sodass man ihn schon beim Kommen hörte, wie einen Nazikommandanten! Darüber hinaus sprach er durch zusammengebissene Zähne. Alle Jungs hatten eine unglaubliche Angst vor ihm, allerdings nahm er mich besonders ins Visier. Er hegte den Verdacht, dass die Jugendrevolution exakt in seinem Haus beginnen würde und ich ihr Rädelsführer wäre.
Charterhouse wurde 1611 gegründet und hatte sich vermutlich seit der Ära eines Charles Dickens nicht mehr weiterentwickelt. Die Jungs wurden einem der elf Häuser zugeteilt, von denen einige modernisiert worden waren. (Meins natürlich nicht.) Lockites lässt sich nur als ein Dreckloch beschreiben. Die Toiletten waren draußen, und so musste man durch Regen und Schnee rasen, um dorthin zu gelangen. Ich kann mich noch gut an die Spuren all der nassen Hausschuhe erinnern. Man hatte das Haus zu nahe an einen Hügel gebaut, wodurch es in dem Gemäuer immer dunkel und feucht war. Wenn ich an die Vorschule zurückdenke, verknüpfe ich damit ein Gefühl der Weite: Der ausladende Golfparcours und dahinter die See und Hilbre Island, wo wir einmal im Semester für einen Tag hinfuhren und Krabben aus den Löchern im Fels sammelten.
Denke ich an Charterhouse zurück, verdunkeln sich meine Erinnerungen angesichts der Farben Grau und Schwarz, die ich damit assoziiere.
Die ersten ein oder zwei Jahre verbrachte man in den Gemeinschaftsschlafsälen. Danach zog man in die „Würfel“. Im Grunde genommen ähnelten sie einem durch Trennwände abgeteilten Krankenhauszimmer, das nach oben hin offen war. Zumindest hatte man beim Masturbieren ein wenig Privatsphäre. Erst im allerletzten Jahr wurde uns ein Einzelzimmer mit Schreibtisch zugebilligt. Zu dem Zeitpunkt war man meist schon zu gebrochen, um sich daran zu erfreuen.
Uralte Gesetze und Regelungen bestimmten das Leben, beginnend bei der Länge des Haares (es durfte natürlich nicht lang sein) bis zu der Anzahl der Knöpfe an den Jacketts. In Charterhouse sprachen alle Kids den Schul-Slang. Die Arbeit hieß „Hash“, und folglich bezeichnete man die Klassenzimmer als „Hashrooms“. Man teilte die Schuljahre in „Quarters“ ein (Oration, Long und Cricket – Long war „selbstverständlich“ der kürzeste Zeitabschnitt).
Und dann gab es noch das sogenannte „Fagging“, die gute alte Tradition in Privatschulen, bei der die älteren Jungs den jüngeren das Leben zur Hölle machten, während die sich an ihre eigene Jugend erinnernden Lehrer, dabei nostalgisch werdend, zusahen.
Ich musste als Fag, als gleichsam persönlicher Adlatus, der allerhand Aufgaben zu übernehmen hatte, von Tony Lorenz herhalten, den man wegen seines kleinen, runden Körperbaus Bubbles nannte. (Später wurde aus Bubbles dann ein erfolgreicher Londoner Immobilienmakler.) Er behandelte mich nicht schlecht: Ich war zwar sein Laufbursche, was sich meist darauf beschränkte, ihm gelegentlich einen Toast zu besorgen oder seine Kleidung in den Waschraum zu bringen. Die Fags unterstanden nicht nur einem älteren Jungen, sondern auch dem Präfekten. Wenn er rief, musste man so schnell wie möglich zur Stelle sein. Man rannte und durfte nicht trödeln. Ein Trick bestand darin, sich auf dem Weg zu „verlaufen“, und in einer solchen Situation erwiesen sich die Toiletten auf dem Hof als nützlich. Ich verbrachte dort schon einige Zeit!
Es mag merkwürdig erscheinen, doch ich hinterfragte niemals diese Hackordnung. Es war nun mal so, wie es war, und wenn ich ehrlich bin, freute ich mich ein wenig auf die Zeit, in der ich meinen eigenen Fag kommandieren konnte. Im letzten Jahr angekommen, untersagte Charterhouse jedoch dieses System.
Doch auch 350 Jahre alte Privatschulen blieben letztlich nicht von den Sixties und der Stimmung des Wandels in Großbritannien verschont. Einige Jahre nach meinem Abgang fuhr ich an Charterhouse vorbei und sah – man höre und staune – Jungen mit halblangen Haaren. In einem Punkt behandelte mich das Schicksal mit gütiger Hand. In Charterhouse gab es einen Lichtblick – die Musik.
Charterhouse war für seine Musiktradition berühmt: Ralph Vaughan Williams, einer der klassischen Komponisten, die ich mag, hatte zum Beispiel die Privatschule besucht. Ein Gesangsbuch und ein Junge namens Tony Banks übten dann einen besonderen Einfluss auf mich aus. Das Buch kann man als modern, aber „melodisch“ beschreiben. Mich beeindruckten speziell die Dramatik einiger der pompös gesetzten, ausgeschmückten Akkorde und die fantastischen Akkordfolgen.
Der Gang zur Kapelle war eine zweischneidige Angelegenheit. Ich empfand die Musik als großartig und das Gebäude als beeindruckend. Es war sehr groß und hatte Fenster aus Buntglas. Die Religion hingegen stellte die Kehrseite der Medaille dar: Täglich 40 Minuten und sonntags sogar zwei Mal so lange. Bei der Abendandacht wach zu bleiben glich einer Mordsanstrengung. Oft beobachtete man einige Jungen beim „Gebet“ mit geschlossenen Augen, während alle anderen aufgestanden waren.
Beim Hören von Radio Luxemburg musste ich hingegen nicht gegen die Müdigkeit ankämpfen. In Charterhouse herrschte Radioverbot, doch es gelang mir, einen kleinen Transistorempfänger einzuschmuggeln, den ich nach Beginn der Nachtruhe unter meinem Kopfkissen hörte. Das blieb einige Zeit unbemerkt, doch eines Nachts muss ich wohl eingeschlafen sein. Ich schreckte vom Klang der Fußschritte des herannahenden Musiklehrers Geoffrey Ford auf.
Geoffrey unternahm nichts, um seine Homosexualität zu verbergen, die allgemein akzeptiert wurde. Ihn umgab kein Geheimnis, und er machte keine offenherzigen Avancen. Mich sorgten eher die Lehrer, die die Universität besucht hatten und daraufhin direkt ins Internat zurückkehrten: Ich empfand das als eindeutiges Zeichen, dass Etwas nicht stimmte. Geoffrey gehörte eher zu den Außenseitern im Lehrkörper, doch ich wollte bei meiner verbotenen Aktivität trotzdem nicht erwischt werden. Als er immer näher kam, drehte ich den Lautstärkeregler im Halbschlaf unglücklicherweise nicht runter, sondern rauf. Der kreischende Sound katapultierte mich in die Höhe, wobei das Radio unter dem Kopfkissen wegrutschte und mit einem Knall auf den Boden fiel.
Es wirkt zutiefst ironisch, dass der Musiklehrer mein Radio konfiszierte, doch das entsprach dem Geist von Charterhouse: Rein gar nichts ergab einen Sinn.
Ein lang andauernder Hass auf Autoritäten und kleinkarierte Bürokratie ist eine der Nachwirkungen meiner Privatschulzeit. Wenn ich einen vernünftigen Grund hinter einer Anordnung erkenne, kann ich damit umgehen, doch dümmliche Regeln und Vorschriften kotzen mich an. Darum hätte ich es wahrscheinlich auch nicht lange in der Navy ausgehalten.
Tony Banks, Peter Gabriel und Anthony Phillips waren Duckites, einem anderen Haus, zugeteilt worden und gehörten wie ich zu den unerwünschten Elementen. „Ant“ trug die Haare gefährlich lang, doch er glänzte beim Kricket, wodurch man ihm verzieh. Mich beeindruckte hingegen sein Können als Gitarrist.
Ich begegnete Ant zum ersten Mal im „Rock Soc“, einem im Keller gelegenen Raum, in dem sich Musiker trafen. (Aus heutiger Sicht klingt der Name erstaunlich fortschrittlich: Erst in den Siebzigern in den USA bemerkte ich, dass alle über „Rock“ sprachen, obwohl es bei ihnen wie „Wrock“ klang.) Ant besaß eine rote Stratocaster und einen Vox AC 30-Verstärker, Equipment, das die Profis benutzten. Charterhouse konnte nicht mit etwas ähnlich Aufregendem aufwarten. Ant war schmächtig, hatte weiß-blonde Haare und eine Nase, die der von Pete Townshend ähnelte. Seine Finger und die Gitarre verschmolzen zu einer natürlichen Einheit. Manchmal kann man schon voraussehen, ob ein Musiker gut auf seinem Instrument ist, obwohl er noch keinen einzigen Ton gespielt hat.
Ant war bei einer Session der Swinging Blue Jeans gewesen, die Hits hatten wie „Good Golly Miss Molly“ und „Hippy Hippy Shake“, und kannte mehr Akkorde als ich. Er spielte sogar schon ein bisschen Lead-Gitarre. Da er in einem anderen Haus wohnte (einen Jahrgang unter mir), hätten sich unsere Pfade eigentlich nicht gekreuzt, doch er nahm mich unter seine Fittiche und lehrte mich genau das, was mir ein Bert Weedon nicht hatte vermitteln können.
Während meiner ersten Jahre in Charterhouse lebten meine Eltern 230 Meilen entfernt in Cheshire, was den Eingewöhnungsprozess nicht gerade begünstigte, doch während meiner letzten zwölf Monate dort ging Dad in Rente, und die beiden zogen nach Farnham. Hill Cottage, das neue weißverputzte Haus hatte drei Zimmer und stammte aus den Vierzigern. Es lag auf einem Hügel über der Kreuzung an der Frensham Road und war verglichen mit Far Hills kleiner. Während des Umzugs stellten meine Eltern einige der Möbel zur Aufbewahrung bei mir unter – ein dreiteiliges Sofa, einige Teppiche und ein paar ganz normale Lampen. Als Chare mein Studienzimmer betrat, hörte ich sein Keuchen: „Was ist das, Rutherford?“ Chare veranlasste meine Eltern, alles abzuholen, denn für ihn symbolisierten Teppiche den Höhepunkt der Dekadenz. Nach dem Ortswechsel besuchten wir mit der ganzen Familie den Officer’s Club in Aldershot und aßen ein Currygericht zum Lunch. (Ich vermute, dass Dad bei diesem speziellen Essen das Gefühl überwältigte, er könne sich in jeder nur erdenklichen Ecke des Empires aufhalten … Na ja, es war auch das einzige Gericht des Officer’s Club.) Mein Vater hatte gespürt, dass wir uns auseinanderlebten, und so nahm er mich mit zum Segeln auf dem Hawley Lake. Ich bin nicht sicher, ob er mich dadurch an sich binden oder mich wieder in Richtung Karriere bei der Marine steuern wollte.
Ich erschien in ganz normaler Kleidung, trug einen Blazer und eine Krawatte, aber immerhin Segelschuhe. Mein Vater – obwohl er zivil trug – wurde von den pensionierten Betreibern der Segelschule (ehemalige Angehörige des Militärs) noch als Captain angesprochen. Sie hätten sich nicht besser um uns bemühen können. Das kleine Boot stand parat und war technisch im besten Zustand, und beim Einsteigen reichte man Dad sogar voller Respekt die Hand. Und schon ging’s los. Und alle schauten wie gebannt zu. Bereit zur Show?
Ich glaube immer noch, dass es ein übermäßig stürmischer Tag gewesen sein muss.
Hawley Lake klingt wie ein harmloser Ort, doch an diesem Nachmittag war es ein vom Wind aufgepeitschtes Gewässer. Als ich das Segel setzte, dämmerte mir schon, welches Schicksal mir bevorstünde. Während das Segeltuch unkontrolliert hin und her flatterte, versuchte Dad mir nach Kräften zu helfen.
„Halt den Klüver!“, schrie er.
„Das mache ich doch!“, schrie ich zurück.
Natürlich machte ich nichts, und das aus einem guten Grund. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ein Klüver sein konnte. Zumindest wusste ich aber, wie man schwamm! Was sich an dem Tag als überaus nützlich herausstellte.
Möglicherweise lag in dieser Episode einer der Gründe, warum mich Dad nicht daran hinderte, ins Musikgeschäft einzusteigen. Allerdings war meine Marinekarriere noch nicht völlig ins Wasser gefallen.
In Charterhouse zählte der Militärdienst zu den Pflichtübungen: Army, Air Force oder Navy.
Ungefähr 80 Prozent der Jungen waren in der regulären Army, weil dort die Dienstzeit begann, und weil es sie nicht juckte, zu den eher interessanten Streitkräften zu wechseln. „Der Marsch“ stellte die größte Herausforderung des Armeedienstes in Charterhouse dar. Überraschenderweise ging man während dieser Tortur durch einige wunderschöne landschaftliche Flecken. Die Route führte über Haslemere und durch den Devil’s Punchbowl. Allerdings betrug die Strecke 50 Meilen. Als ich an die Reihe kam, brachte ich die Prüfung zufriedenstellend hinter mich, aber dennoch musste ich sie wiederholen. Ich weiß nicht, was geschehen war – vielleicht hatte da ein Taxi eine Rolle gespielt –, doch danach verließ ich den Haufen und ging zur Navy.
Zurückblickend gesehen war das eine unüberlegte Entscheidung. Im Winter hockten wir drinnen herum und übten uns im Knotenknüpfen – das ist kein Scherz –, und im Sommer segelten wir auf den Frensham Ponds. (Das Segeln fiel mir leichter, als Dad mich nicht mehr dabei beobachtete.) Es gab jedoch einen großen Vorteil. Jedes Jahr im Zeitabschnitt, den wir Cricket nannten, musste der Haufen aus der Army in voller Ausrüstung und mit Rucksack feldeinwärts marschieren – und das unter brütender Sonne. Diesen Tag verbrachte ich meist auf dem Rücken liegend im Bootsschuppen bei Frensham Ponds. Ich trank mit Ant Cidre, der auch schon herausgefunden hatte, wie man seine Zeit am besten verbrachte.
Wenn man gut beim Sport war, zeigte Charterhouse ein anderes Gesicht. Ich wusste, dass Golf nicht mit Rugby oder Football mithalten konnte – wer in diesen Sportarten glänzte, befand sich hinsichtlich der Popularität in einer anderen Liga –, aber ich glaubte auf meinen Erfolg in The Leas aufbauen zu können. Dann erteilte mir Chare ein Verbot. Für ihn war Golf ein Spiel der Individualisten, das sich gegen das Establishment richtete, besonders auch, wenn es ein Rebell wie ich ausüben wollte.
„Rutherford, ich untersage es dir! Du musst am Teamsport teilnehmen.“
Was sollte man machen? Danach bedeutete Sport in Charterhouse Kricket, das in Liga C, viertes Team, zu einer wahren Teamleistung ausartete.
Man erreichte den weit abgelegenen Teil eines weit abgelegenen Feldes und überlegte sich ein Ergebnis. Am Ende des Tages hatte man sich in die Aktivität so hineingesteigert, dass man tatsächlich glaubte, 50 Runs gepackt zu haben. Man kehrte in sein Haus zurück und fühlte sich wie ein Held.
Ich konnte gut ohne Golf leben – auch, weil man damals ziemlich dämliche Ausrüstung tragen musste –, aber ich konnte nicht ohne die Musik leben.
Und darum verbot mir Chare das Gitarrespielen.
Ich hielt mich im oberen Teil des Hauses in einer Art Zimmer zum Entspannen auf und spielte zu Sgt. Pepper Gitarre. Das Album war gerade erschienen, und ich hatte noch nie etwas Aufregenderes gehört. Vermutlich hatte Chare ein unerfreuliches Meeting der Hausvorsteher gehabt, denn er stürmte daraufhin in den Raum, wütete und packte mich beim Kragen. „Rutherford“, zischte er zwischen den Zähnen hindurch, „das ist ab jetzt verboten. Du wirst nicht mehr Gitarre spielen, Rutherford.“ Er drückte mich nach unten und verpasste mir Schläge mit dem Holzstock. Es war 20 Uhr, und ich trug schon meinen Schlafanzug. Nach dem Zwischenfall machte ich trotzdem weiter, und es gab niemanden, der mich aufhalten konnte. Es lag wohl auch daran, dass das wichtigste Konzert meiner Charterhouse-Karriere in wenigen Wochen stattfinden sollte.
Ich war bei The Anon eingestiegen. Ant stellte die treibende Kraft hinter der Band dar, doch ihrem Sänger Richard Macphail fiel der Name ein. Ursprünglich wollte er die Gruppe „Anon“ nennen, was dem Namen eines unbekannten Dichters ähnelt, doch niemand kam mit dem Namen ohne den Artikel klar.
Rich lässt sich nur als großartig beschreiben. Er konnte singen, sah gut aus und hatte die Bewegungen eines Sängers drauf: Wir nannten ihn Mick Phail, da seine Show der eines Jaggers ein wenig ähnelte. Er hatte eine unglaublich lebensfrohe Natur, war einfach ein sehr positiver Mensch. Nach dem Ende seiner Schulzeit ließ er sich die hellblonden Haare bis zu den Ellbogen wachsen. Ich sah ihn häufig barfuß bei Konzerten.
Zur Besetzung zählten auch Rob Tyrell an den Drums – Mein Gott, der Mann war gut – und Rivers Job am Bass, der mit Ant die Vorschule besucht hatte. Rivers Job – hat man schon mal einen cooleren Namen gehört? Er war sehr klein. Der Bass wirkte für seinen Körper viel zu groß, was aber gleichzeitig auf irgendeine Art passte. (Rivers verließ Charterhouse nach den O-Levels. Das nächste Mal sah ich ihn mit der Savoy [Brown] Blues Band in einem Pub in Guildford, die damals große Erfolge feierten. Ich schaute zur Bühne hoch und dachte: „Der schafft’s wirklich …!“) Nach Rivers’ Ausscheiden übernahm ich den Bass.
Ant war der bessere Gitarrist, und so empfand ich den Instrumentenwechsel nicht als Degradierung, sondern als zwangsläufige Entscheidung. Trotzdem muss ich mich wohl über etwas geärgert haben, denn kurz darauf verließ auch ich beleidigt die Band. Ant verhielt sich allgemein egoistisch. Entweder man tanzte nach seiner Pfeife, oder es lief gar nichts. Wahrscheinlich dachte er, dass ich wegen mangelnder Fähigkeit zur Disziplin ausgeschieden wäre, was durchaus im Bereich des Möglichen lag. Egal, ich zog mich mit einem gewissen Stolz zurück, was letztlich zur Gründung meiner neuen Band The Climax führte, die nur zwei Semester lang zusammen spielte. Das Beste an uns war wohl der Bandname. Ant besuchte uns in der Halle, wo wir probten, lachte und ging direkt wieder raus.
Während dieser beiden Semester erschien in dem Schulmagazin von Charterhouse ein Artikel mit der Überschrift: „Warum nicht Pop?“ Man beschrieb darin auch The Climax, die „einen passablen Sound“ spielten, obwohl wir eher „einem Schatten als der Realität“ glichen (wahrscheinlich eine faire Einschätzung). The Anon (ohne mich) wurden mit einem doppelt so langen Artikel geehrt:
Ihre Musik fällt in die Kategorie Rhythm and Blues, mit Nummern von den Stones, den Yardbirds, John Mayall’s Bluesbreakers und The Cream. Dazu spielen sie noch eine stattliche Anzahl Eigenkompositionen …
Die Gruppe vertritt eine interessante Sichtweise: Sie streiten energisch ab, dass sich die Musik auf ihre Arbeit auswirkt … „Wir müssen wissen, ob es funktioniert oder nicht, da wir uns schon einigen Ärger eingehandelt haben.“ Als Reaktion auf die Schwierigkeiten, denen man sich als Gruppe stellen muss, hegen sie die Hoffnung auf mehr Freiheit in der Zukunft. Momentan lässt sich die Einstellung ihrer Eltern eher als lauwarm beschreiben. Es wird dringend Geld für neues Equipment benötigt. Da sie eine Schulband sind, sehen sie sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, Termine während der Ferien abzusprechen … Doch solche Frustrationen – und da sind sich alle einig, werden durch die Zeit kompensiert, wenn die Band zusammen ist und gut spielt.
Meine Eltern reagierten sicherlich auch „lauwarm“, doch sie zeigten es nicht. Wenn Mum mich bei Ferienbeginn abholte, lud ich das Equipment in den Kofferraum ein. Sie drehte sich noch nicht mal um, obwohl ich zu der Zeit schon eine Box mit vier 12“-Inch-Lautsprechern besaß sowie eine Höfner Verythin Gitarre, für die mir Jean Granny das Geld gegeben hatte. („Alles, was du willst, du musst mich nur fragen“, sagte sie immer, wenn ich sie in Morris Lodge besuchte. Wenn ich sie jedoch beim Wort nahm, bekam Jean Granny einen derartigen Schock, dass sie fast aus dem Bett fiel. Die meisten Bewohner hielten sich dort tagsüber in ihren Betten auf, denn die unteren Räume waren zu unwirtlich eingerichtet.)
Mum mochte meine drastische Lautstärke, obwohl ich beim Üben wohl ziemlich viel Krach gemacht haben muss. Hinzu kam, dass ich ein Nachtmensch war. Erst als sie zu Bett gegangen waren, ging ich ins Esszimmer, zündete die Kerzen in Captain Woods Kronleuchter an, um es mir gemütlich zu machen, und begann zu spielen. Obwohl sie sich nie beschwerten, weiß ich, dass Vater sich wegen meines Lebenswegs Sorgen machte. In den Schulberichten standen oft Phrasen wie: „In diesem Quartal schlich sich wieder die alte Angewohnheit ein, die gestellten Aufgaben nicht zu bearbeiten“ (Mathe), oder: „Er hat sich in dem Fach in keinerlei Hinsicht bemüht. Es ist unvermeidlich, dass er durchfallen wird“ (Physik). Dad wusste von meinen Problemen mit Chare.
Wenn ich zu Hause war, vermied Dad in den ersten Tagen Gespräche über diese Probleme. Er gab mir ein wenig Zeit, während er sich vorbereitete und Notizen machte. Erst wenn er genau wusste, was er mir sagen wollte, rief er mich ins Esszimmer, schloss die Tür und meinte: „Na, wie läuft es denn so?“
Die Unterredung glich eher einem Dienstgespräch als einer netten Plauderei. Er hatte seine Notizblöcke und Stifte vor sich ausgebreitet, und ich konnte mir gut vorstellen, dass er sich exakt so vorbereitet hatte, wenn es um ein Dienstaufsichtsverfahren handelte, bei dem ein junger U-Boot-Lieutenant wegen Fehlverhaltens zur Rede gestellt wurde.
Grundsätzlich respektierte ich Vaters Autorität – ganz im Gegensatz zu den Regeln und Bestimmungen in Charterhouse erkannte ich den Sinn, hinter dem, was er sagte –, doch ich war mir dessen bewusst, dass er all das verkörperte, was ich unbedingt vermeiden wollte.
Bis zu meiner Generation wünschten sich Jungs nichts sehnlicher, als den Weg ihrer Väter fortzuführen, in Twill-Hosen und braunen Wildlederschuhen. Den Söhnen in der Generation meines Vaters wurde eingebläut: „Du wirst nie so ein anständiger Mann wie dein Vater werden.“ Als Dad sich das anhören musste, empfand ich es als extrem einengend, wie er in seinen Memoiren schrieb.
Dad wollte wie sein Vater werden, doch ich konnte mir kein deprimierenderes Leben vorstellen. Mit den Beatles war eine neue Ära angebrochen. Die Kids meiner Generation opponierten in jeder Hinsicht gegen ihre Eltern. Verrückt, wie schnell das alles geschah – die Beatles blieben nur sechs Jahre zusammen, während Hendrix’ Karriere noch kürzer war. Trotzdem veränderte sich in dieser Zeit einfach alles. Die Zeitungen platzten förmlich vor Storys über das skandalöse Benehmen der damaligen Jungend – und prophezeiten das Ende der Welt. Wenn ich in das Zimmer schlenderte, während meine Eltern vor dem Fernseher saßen, sah ich Reginald Bosanquet beim Verlesen der Nachrichten, dessen Geschichten scheinbar immer von der Revolution handelten, die meine Altersgenossen anführten.
Ich setzte dem Ganze die Krone auf, denn ich war erst 16: Ich wollte nicht, dass Dad mein Leben begriff. „Du kapierst das nicht, du verstehst es einfach nicht.“ Manchmal sagte ich das nur aus Trotz und nicht aus Überzeugung. Doch letztendlich steckte eine Wahrheit dahinter. Zu allen Zeiten hatten Kids das Gefühl, ihre Eltern seien altmodisch, doch diesmal tat sich wirklich eine tiefe Kluft auf.
Befürchtete Dad das herannahende Ende der Welt? Sicherlich nicht: Er hatte zwei Weltkriege erlebt und den Globus mehrmals umrundet. Er verstand die sich abspielenden Veränderungen. Möglichweise geschah das aus der Erkenntnis heraus, dass meine Generation keine echten Kriege austragen würde, sondern sich mit anderen Widrigkeiten konfrontiert sah. Auf jeden Fall glich seine Einstellung nicht der anderer Captains seines Londoner Clubs. Er brachte niemals Plattitüden vor wie: „Diese verdammten jungen Hooligans!“ Er fühlte sich eher in einer sich verändernden Welt vollkommen verloren.
The Climax und The Anon waren nicht die einzigen Bands in Charterhouse. Es gab auch Garden Wall, die das Schulmagazin beschrieb als „die einzigen Vertreter echter Soulmusik. Mit der ausgesprochen erdigen Qualität ihres Sounds boten sie einen emotional beseelten Auftritt beim Charity Beat Concert im letzten Semester, wobei Peter Gabriels Gesangsstil eines der herausragendsten Kennzeichen war.“
Ant spielte sowohl bei Garden Wall als auch bei The Anon. Tony Banks war ihr Pianist (obwohl er viel Zeit damit verbrachte, sich mit Peter wegen des Keyboards zu streiten). Garden Wall hatten einen Trompeter, wozu sich meinerseits nichts hinzufügen lässt. In meiner Band gaben Gitarren und Verstärker den guten Ton an – bei Garden Wall spielten eben ein Trompeter und ein Pianist …
Ich musste wohl schon zwei oder drei Konzerte in Charterhouse gespielt haben – sie als Gigs zu bezeichnen, wäre ein wenig weit hergeholt –, doch es ging mir nicht um die Auftritte. Sich ganz einfach darüber zu unterhalten, darin lag damals der Spaß. Die Kameradschaft, die Vorbereitung und das Planen waren für mich genauso wichtig. Ich fand es sogar toll, Ants Vox-Verstärker zur Probe in ein Klassenzimmer zu schleppen, wobei er den Amp auf der einen und ich auf der anderen Seite trug. Das Ding durch die alten Kreuzgänge zu befördern fühlte sich verschwörerisch an: Es war ein symbolisches Victory-Zeichen gegenüber den altehrwürdigen Herren.
Das gesagt, will ich doch noch den „Unfall“ erwähnen, mit dem ich Chares Gitarrenverbot sprichwörtlich aus dem Weg ging: Ich spielte zwischenzeitlich wieder bei The Anon. Am großen Tag des Semester-Abschlusskonzerts machte ich mich auf den Weg in die Haupthalle: hölzerner Boden, ausgeschmückte Decken, ein Balkon, der zwei Drittel der Halle einnahm, 600 Jungen im Publikum und der Schulleiter in der ersten Reihe, Chare direkt hinter sich. Erst in dem Augenblick merkte ich, dass mein Gitarrenkabel defekt war.
Panisch suchte ich in den Fluren nach Ersatz, fand aber nur ein ungefähr ein Meter langes Kabel, was bedeutete, dass ich einen Meter vom Lichtkegel des Spotlights entfernt stehen musste – unsichtbar! Ich bin mir sicher, die anderen Bandmitglieder werteten das als einen beabsichtigten Schachzug – der Mann, der in der Dunkelheit lauert – aber ich hätte viel lieber am Rand der Bühne gestanden und Chare Stones-Cover um die Ohren gehauen. Egal, der Gig wurde ein großer Erfolg, und mir gelang es so gleichzeitig, einen Rauswurf zu umgehen.
Die Musik rettete mir während der Schulzeit das Leben, genau wie die illegale 50er-Honda, die ich mir angeschafft hatte. Ich parkte sie in einer örtlichen Garage für eine monatliche Miete, die sich ähnlich wie Schweigegeld schnell verdoppelte, da der Besitzer genau wusste, woher ich kam.
Das Motorrad sah nicht besonders cool aus. Und ich konnte mich nie vom Gegenteil überzeugen, was umso schmerzhafter war. Doch es eröffnete mir die dringend benötigte Freiheit. Da Motorradfahren zu den schwersten Vergehen gehörte, hatte ich umso mehr Spaß. Meist war es egal, wohin ich fuhr, denn es zählte die Tatsache, dass ich das Bike starten und so den Klauen des Unterdrückungs-Regimes entfliehen konnte.
Eines Nachmittags befand ich mich gerade auf dem Weg nach Guildford. Ich schaute in den Rückspiegel und entdeckte den Wagen eines Lehrers, der mir dicht folgte. Nicht, dass dort in Großbuchstaben LEHRER draufgestanden hätte, doch auf den Parkplätzen der Pädagogen fanden sich eben bestimmte Automarken, und diese Karre fiel in so eine Kategorie. Wie sehr ich auch versuchte, ihn abzuwimmeln, indem ich in verschiedene Straßen abbog, er war immer direkt hinter mir. Schließlich wurde mir klar, dass ich nur noch abhauen konnte.
Nach einem schnittigen und gefährlichen Dreh in einer Einfahrt, sprang ich vom Bike und rannte durch den Garten, den Helm noch auf dem Kopf. Mir gelang es über einen Zaun in den nächsten Garten zu hechten, wobei ich beinahe eine Wäscheleine abriss. Nachdem ich über einen weiteren Zaun geklettert war, näherte ich mich wieder der Straße, erleichtert, den Wagen nicht mehr zu sehen. Es war sicherlich nicht eine meiner coolsten Aktionen …
Mich von Charterhouse zu entfernen, mit dem Bike wegzufahren und alles hinter mir zu lassen, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Gelegentlich hörte man Geschichten von Ausreißern – zwei Jungs aus Harrow oder einer aus Eton –, doch obwohl ich mich in meiner rebellischen Phase befand, war es oberste Priorität, Dad in keine unangenehme Lage zu bringen. Allerdings schwänzte ich den Unterricht, um im Godalminger Pub Gin und Bier mit Limettensirup zu bechern – obwohl ich den Geschmack von Gin nicht mochte. Auch bezog ich regelmäßig Prügel, da ich mich mit Ant zum Rauchen verdrückte. Dabei empfand ich es als am schlimmsten, dass der Lehrer, der uns aus den Büschen kommen sah, untätig blieb: Er berichtete es dem Hausvorsteher, der den Angeschwärzten zum Verhör zerrte. Und das bedeutete Chare.
„Hast du geraucht, Rutherford?“
„Nein, Sir.“
„Beug dich nach vorne.“
Diese unverhohlene Bestrafung wurmte mich am meisten.
Erstaunlicherweise schnappten sie mich nie, wenn ich mich von der Schule entfernte, um mir im Londoner Marquee Club Konzerte anzusehen. Allerdings gab ich mir auch große Mühe, dass mich niemand sah, wartete, bis die Dunkelheit anbrach, und stieg dann mit meinen violetten Plateaustiefeln aus dem Fenster.
Entweder fuhr ich mit der Honda zur Guildford Station oder ging den Hügel hinab zur Godalming Station, wo ich voller Erwartung auf meine Freunde Chris Piggott und Andy Dunkley wartete. Ein Schulregenmantel verbarg die damals modernen Samt-Schlaghosen. Dunkley war übrigens der Tapfere der beiden, denn er wollte mit aller Macht von der Schule geworfen werden. Was Chris Piggott anbelangt – mich wunderte, dass er noch mit mir sprach, denn ganz zu Beginn meiner musikalischen Karriere hatte ich seinen Verstärker hochgejagt. Über einer Buchse stand „DC“ [direct current] was Gleichstrom bedeutete. Ich hingegen dachte, dass alles mit der Bezeichnung „direct current“ ganz offensichtlich eine höhere Lautstärke bedeuten musste. Kurz nachdem ich die Gitarre eingesteckt hatte, stieg eine Qualmwolke aus dem Ding!
Der Marquee Club in der Wardour Street war der angesagte Laden, in dem sich alles abspielte, was mir etwas bedeutete. Es ist schon merkwürdig, aber ich empfand Soho nicht als bedrohlich, obwohl man es damals schon als ein schäbiges Viertel bezeichnen konnte. Überall gab es Strip-Shows und Läden mit schmuddeligen Magazinen. (Man ging in diese Shops schnell rein und ganz schnell wieder raus, denn allein die Tatsache zählte, dass man dort gewesen war. Die Strip-Clubs hingegen wirkten einschüchternd, denn es gab immer einen Türsteher, der einen in das Etablissement locken wollte: „Komm Sie schon rein, junger Mann.“) Die schrillen Gebäude, die roten, gelben und grünen Neonlichter bei Nacht und die coolen Londoner mit ihren Halstüchern und ungewöhnlichen Hüten – das alles hatte den Hauch des Verbotenen, wirkte jedoch nie beängstigend. Vielleicht hatte ich auch keine Angst, weil dort musikalisch so viel geschah. Es gab Folkclubs, und der 100 Club lag die Straße rauf an der Oxford Street. Die Krönung von allen aber war das Marquee, der Laden für Musiker (und nicht irgendein Nachtclub mit einer Disco).
Im Marquee sah ich die Nice mit Keith Emerson, The Herd mit Peter Frampton, Cream, The Action und The Sands (Chris Squire hatte einen fantastischen Rickenbacker Bass-Sound: Er beschränkte sich nicht auf die tiefen Töne, sondern spielte melodische Linien, was mich sehr beeindruckte.) Und ich liebte den Harmoniegesang – in jenen Tagen hatte anscheinend jede Band drei Sänger.
Die Lautstärke im Club war phänomenal. Es herrschte eine unglaubliche Hitze. Das Marquee lag direkt an der Straße, doch man hatte das Gefühl, sich in einem Kellergewölbe aufzuhalten, da alles so dunkel war und der Schweiß förmlich von der Decke tropfte. Niemand zog den Afghanenmantel aus, doch mit ein wenig Vernunft trug man eine Afghanenweste über dem gefärbten T-Shirt. Stiefel und Schlaghosen waren bei beiden Geschlechtern der letzte Schrei, was das Auseinanderhalten von Jungs und Mädchen nicht gerade leicht machte. Zumindest hielt ich mich mit dem anderen Geschlecht in einem Raum auf, was nach Charterhouse wundervoll anmutete. Die einzigen Mädchen, die Charterhouse-Schüler jemals sahen, traf man während der Ferien bei der Party eines Freundes. Man versuchte den coolen Typen zu mimen, was in der Realität bedeutete, unruhig von einem Fuß auf den anderen hin und her zu wippen und irgendetwas Unverständliches zu murmeln.
Chris, Andy und ich fuhren dann also mit der Bahn nach London, sahen uns einen Gig an und nahmen den morgendlichen Frühzug um 5.30 Uhr zurück. Wenn ich heute darüber nachdenke, laufe ich hochrot an. Nach London zu entwischen machte einerseits einen ungeheuren Spaß, denn man fühlte sich als Teil einer Szene, doch andererseits hatte ich schrecklich Angst, erwischt zu werden und meinen Vater zu enttäuschen. Ich habe nie, niemals jemanden von den Ausflügen erzählt, denn für gewöhnlich wurden geheime Gespräche in Charterhouse an die große Glocke gehängt. Als ich die Schule verließ, hatte ich ein großes Ziel vor Augen – im Marquee Club aufzutreten. Wenn man dort auf der Bühne stand, war man wirklich ein angesehener Musiker.
Ant und ich hatten eine enge freundschaftliche Beziehung und besuchten uns oft während der Ferien. Im Haus meiner Eltern spielten wir bis tief in die Nacht Gitarre. Wenn Mum morgens zum Frühstück herunterkam, sagte sie meist: „Darling! Ich liebe das Stück!“ In Ants Haus sah das anders aus. Sein Vater war ein Top-Banker, der für die Finanzen des Marylebone Cricket-Clubs verantwortlich zeichnete. Ich sah es ihm an, dass er die Musik nicht schätzte, und fühlte mich permanent unwohl. Ants Mutter hingegen unterstützte uns. Sie lachte, machte Witze und transportierte das Equipment von The Anon zu einer Session in den Tony Pike Sound Studios in Putney. Sie beförderte die Instrumente und Verstärker hinten im Mercedes, während Ant, Rich und ich den Bus nehmen mussten.
Tony Pikes Studio lag im hinteren Teil eines kleinen Hauses. Der Mann selbst war noch ein Vertreter der alten Schule. Wir merkten sofort, dass er weder unsere Musik noch die Lautstärke verstand. Er sprach mit einem leicht ländlichen und schwer verständlichen Akzent, wenn er sich über den möglichen Schaden beschwerte, dem wir seinem Studio zufügten. „Bitte achtet auf meine Kompresooooren …“
„So ein blöder, alter Arsch“, murmelte ich, mir dessen nicht bewusst, dass der Sinn eines Regieraumes darin bestand, dass man von dort aus alles hören konnte. Und das tat er auch.
„Oha! Ihr da unten – passt auf, was ihr sagt.“
Wir nahmen „Pennsylvania Flickhouse“ auf, der größtenteils auf Ant zurückging, eine Art „Route 66“ aus Godalming. Da die Songs nur drei Minuten lang waren, hatte Rich ausgerechnet, dass wir problemlos sechs Nummern in einer Stunde aufnehmen konnten. Als wir herausfanden, dass uns nur einer gelang, schmiedeten wir Pläne für eine neue Session. Doch Richs Vater nahm ihn aus Charterhouse und schickte ihn nach Millfield in Somerset, da er glaubte, dass sein Sohn es bei The Anon mit zwielichtigen Gestalten zu tun habe. Möglicherweise hatte er sogar recht – zumindest, was meine Person betraf –, doch nun standen wir ohne Sänger da, woraufhin Ant mich verpflichtete.
Ein Frontmann zu sein – mir passte die Vorstellung ganz und gar nicht. Bei einer guten Stimme hätte ich vielleicht anders darüber gedacht. Meiner Auffassung nach verfügten 60 Prozent der Weltbevölkerung über eine so passable Stimme, um als Sänger durchzugehen. Darüber hinaus gibt es auch Sänger, die eigentlich keine Stimme haben, aber etwas aus diesem Defizit machen. Ich fiel in keine dieser Kategorien (so wie auch Ant). Ant brachte mich nun dazu, „Mercy Mercy“ in der Fassung der Rolling Stones zu intonieren. Plötzlich fühlte ich eine Verschiebung im Bereich des Adamsapfels (es fühlte sich besorgniserregend an – als würden meine Stimmbänder verrutschen). In dem Moment begriff ich, nicht zum Sänger geboren zu sein. Egal, wenn man in jenen Tagen nur ein wenig singen konnte, war man ein Sänger, und so entschieden wir uns, alle Songs mit hohen Noten aus dem Repertoire zu streichen.
Zwischenzeitlich verstärkte sich die Spannung zwischen meinem Vater und mir.
Er schrieb mir (natürlich bewahrte ich die Briefe nicht auf), und während der Ferien stritt ich mit ihm permanent über die Länge meiner Haare und die Klamotten, die meist vom Kensington Market stammten. Ich fuhr am Wochenende dorthin, stöberte in den Auslagen der Stände, sah mir abends eine Band an und fuhr dann mit der Bahn zurück, darauf achtend, dass ich nie in dem erwarteten Zug saß. Einige Male blieb ich bei Nicky, die nun in einer Wohngemeinschaft mit einigen Mädchen in Hamilton Gardens lebte. Wenn ich sie besuchte, blieb mir fast das Herz stehen – als diese wunderbaren, ehrfurchtgebietenden Frauen mit langen Beinen, die durch die Wohnung schwebten!
Auch Nicky hatte ein Internat besucht, die Royal Navy School for Girls in Haslemere, und arbeitete nun als Sekretärin beim Guardian. Sie war niemals so schusselig wie Mum oder ich. Schon mit zwölf Jahren konnte man sie als Erwachsene beschreiben, was für meine Eltern eine große Erleichterung gewesen sein musste, da sie selbst schon älter waren. Der Ansicht meines Vaters nach konnte Nicky gar nichts falsch machen. Sie war klug, schrieb meinen Eltern Briefe, besuchte sie gelegentlich und arbeitete in London, wohingegen ich mit Chris Piggott bei Veranstaltungen des „Anti-Establishments“ abhing wie dem Windsor Jazz and Blues Festival. (Keine so tolle Erfahrung! Es war Juli, kalt, nass, und der Sound klang mies. Hinzu kam, dass die Small Faces nur 15 Minuten spielten, was mich höllisch ärgerte. Aber ich war dabei!) Vermutlich dachte Dad, ich sei im Vergleich zu Nicky ein völliger Versager. Glücklicherweise wusste er nur von einem Teil meiner Aktivitäten, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Lage zuspitzte.
In der Vergangenheit hatte ich mich mit ihm oft über Chare gestritten, wobei Dad glaubte, ich sei das Problem. Als Chare mich dann kurz vor den O-Levels von der Schule warf, dämmerte meinem Vater, dass da etwas Merkwürdiges vor sich ging: Der Zeitpunkt war so verdammt unsinnig, da ich nur noch ein Semester absolvieren musste. Vielleicht hatte ich doch recht, und dieser alte Arsch wollte mir an den Kragen.
Noch während der Schulzeit wurde Dad dann zu einer Unterredung mit Chare gebeten, bei der meine Zukunft zur Diskussion stand.
Erst später fand ich heraus, was geschah:
Offensichtlich verhielt er sich gegenüber Dad mehr als unangemessen. Chare tobte, zeterte und behandelte ihn wie einen Schüler. Doch das hätte Dad nicht verunsichert oder beeindruckt. Er hatte für Menschen wie Chare eine passende Vokabel: „Uncharmant.“ Als Dad um eine Auflistung all der schrecklichen Dinge bat, die auf mein Konto gingen, konnte Chare nichts vorweisen: Ich hatte weder jemanden umgebracht noch verstümmelt noch die Schule abgebrannt.
Vater hatte die Schulgebühren drei Jahre lang bezahlt, und seiner Meinung nach verhielt sich Chare unangemessen. Um es auf den Punkt zu bringen: Dad verfasste daraufhin einen Brief an den Schulleiter, in dem er zweifellos die Summe angab, die er für mich entrichtet hatte. Der Leiter muss sich wohl entschlossen haben, Chares Entscheidung aufzuheben, der sicherlich nicht zu den beliebtesten Lehrern zählte. Man erreichte eine Einigung: Ich durfte die O-Levels in Charterhouse beenden, musste die A-Levels aber in einer anderen Schule absolvieren.
Für mich war das eine willkommene Entscheidung – endlich rehabilitiert – und zugleich der Beginn einer Verbesserung der Beziehung zwischen Dad und mir. Doch es gab noch weitere wichtige Ereignisse. The Anon ging die Luft aus, woraufhin eine neue Band Gestalt annahm …