Читать книгу Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie - Mike Rutherford - Страница 7

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„Nun, Michael! Du bist der Sohn eines Marineoffiziers. Du musst dich wie ein Marineoffizier verhalten und immer stark sein.“

Ich werde niemals die Worte meines Vaters vergessen, als er mich im Alter von sieben Jahren zum ersten Jahr in der Vorschule The Leas in Hoylake zurückließ: Er trug eine schicke Tweedjacke, eine robuste Hose aus Twill und braune Wildlederschuhe – und ich fürchtete mich zu Tode.

In dieser Nacht lag ich hellwach im Schlafsaal. Links und rechts neben mir weinten und wimmerten Jungs, denen am nächsten Morgen ein eiskaltes Bad blühte. Ich wiederholte Dads Worte: „Du bist der Sohn eines Marineoffiziers: Sei stark! Zeig niemals deine Gefühle, und dir wird es gutgehen.“ Mir ging es auch gut, aber das hielt nur drei Wochen an. Eines Morgens – ich trank gerade meine Milch in der großen Sporthalle – dämmerte es mir plötzlich. Meine Eltern hatten mich verlassen, und ich würde sie die nächsten sechs Wochen nicht mehr sehen. Ich war wie am Boden zerstört.

Mit der Milchflasche in der Hand brach ich in Tränen aus und heulte während der ganzen Pause. Die anderen Jungs hatten diese Erfahrung schon vor Wochen gemacht. Mit Sicherheit dachten sie: „Was ist denn mit Rutherford los?“ Doch ich war eben schon immer ein Mensch, der in emotionaler Hinsicht „nachhinkt“.

Auch Dad hatte eine Vorschule besucht. Sie lag in Rochester und war charakteristisch für die damalige Zeit: Abgewetzte Tische, gesprungene Tintenfässchen, primitive Toiletten und der typische Geruch von Haferflockenbrei, Rouladen, Fleisch-Kartoffel-Auflauf, Gerichten aus Rindertalg und Reispudding. Das war 1914, doch als ich in The Leas ankam, hatte sich nicht viel geändert. Der einzige Unterschied bestand in der vorgeschriebenen Kleidung für den Tanzunterricht. Dad musste ein Eton-Jackett und weiße Glacé-Handschuhe tragen, während ich zumindest Turnschuhe anziehen durfte. Das war nicht gerade ideal, denn mein Partner Jones Minor trampelte mir immer auf die Füße. Außerdem lief ihm ständig die Nase.

Ich rang meinen Eltern nur ein Versprechen ab, bevor ich ins Internat ging: Ich wollte auf keinen Fall Tanzunterricht nehmen. Wenige Wochen später drehte ich verkrampft und bemüht meine „Walzerrunden“ in der Turnhalle, wobei ich mich im Stich gelassen fühlte.

Ich empfand keine Wut, weil sie mich ins Internat verfrachtet hatten, sondern eher Selbstmitleid. Nach dem ersten Semester in der Vorschule fasste ich einen festen Plan: Auf gar keinen Fall würde ich wieder dorthin zurückkehren! Meine Eltern gingen jedoch geschickt mit der Situation um. Sie versuchten nie, mir die Schule schmackhaft zu machen, denn sie wussten, dass ich den Braten riechen würde. Stattdessen beschwichtigte mich Mum mit den Worten: „Schau mal, Mikey. Wir haben schon Januar, also zählen wir den Januar nicht. Du kommst im März schon wieder nach Hause, und so bleibt nur der Februar übrig. Nur vier Wochen!“, und ich dachte mir: „Oh ja, über was mache ich mir hier eigentlich Sorgen?“

Mich beeindrucken die Veränderungen, die sich im Verlauf der Zeit ergeben, und die Gewöhnung an schwierige Umstände. Zurückblickend war die Phase in The Leas gar nicht so schlecht. An dem großen vierstöckigen Gebäude rankten sich Kletterpflanzen hoch. Der Schulleiter betrat es durch eine ausladende, pompöse Tür, und von den Gängen zweigten zahlreiche Flure ab. Am Ende einer Allee befanden sich das Wissenschaftsgebäude, die Spielfelder und ein Hallenbad (ungeheizt – natürlich!). Es gab sogar einen Bereich für das Rollschuhfahren, zwar keine reguläre Bahn, aber immerhin. Am Abend wurde dieser Abschnitt vom Licht der Klassenzimmer erleuchtet, sodass man noch ungefähr eine Stunde nach dem Klingeln fahren konnte, was sich wie der Inbegriff der Freiheit anfühlte.

Das Essen war ziemlich eklig – ein Missstand, der sich seit 1914 nicht geändert hatte. Allerdings gab es eine überdachte Fruchtbar, die wie eine Kreuzung zwischen einer Nissenhütte und einem Gewächshaus aussah. Beim morgendlichen zweiten Frühstück gingen wir dorthin, um uns Früchte zur Milch auszusuchen. Der Geruch war fantastisch.

In The Leas förderte man den Obstverzehr, und die von Zuhause zurückkommenden Jungen brachten oft Körbe voller Orangen, Äpfel und Birnen mit.

Mutter, eine wahre Exzentrikerin, was die Ernährung anbelangte, schickte mich mit Granatäpfeln und Litschis ins Internat. (Hinsichtlich Bananen hatte Mum ihre Marotten. Wenn ich in den Ferien eine Banane essen wollte, an der auch nur eine winzige braune Stelle zu sehen war, schnappte sie sich die Frucht, begutachtete sie und meinte: „Oh, mein Liebling. Die ist schon schlecht. Gib sie Dad.“)

In der Schule war ich bei den Pfadfindern und sogar Anführer eines Zugs. Wir veranstalteten Schatzsuchen, bei denen man uns nach Hoylake schickte, wo wir auf Zeit eine Liste merkwürdiger Gegenstände einsammeln mussten. Eines Tages fand ich heraus, dass Busfahrten dabei untersagt waren. Meiner Meinung nach hatte ich meine Raffiniertheit unter Beweis gestellt, doch der Klassenlehrer teilte diese Ansicht nicht. Fazit: Eine Tracht Prügel mit einem sehr harten Hausschuh.

Scout zu sein bedeutete auch, jedes Jahr am Sommercamp teilzunehmen, was ich liebte. Dad borgte mir seine Kapitänsmütze – eine Geste, die einem beinahe unglaublichen Vertrauensbeweis gleichkam –, und wir fuhren nach Wales, meilenweit entfernt von einer Ortschaft. Dort erklommen wir den Cader Idris, wanderten die mit Geröll bedeckten Serpentinen hinunter und verbrachten die Zeit mit allerlei Freiluft-Aktivitäten. Mr. Waring, der Pfadfinderführer, war ein großartiger Mann, doch zurückschauend stelle ich mir die Frage, ob sein Verhalten heute noch als angemessen durchgehen würde. Er besaß einen netten alten Rolls Royce mit ausladenden Kotflügeln. Damit kreuzte er mit Jungen, die an den Seiten aus dem Auto hingen, durch Wales.

In der Schule gehörte ich nicht zu den Sportskanonen, doch ich konnte beim Schwimmen und Golfen glänzen. Ich versuchte ständig, im Wasser einen mir weit überlegenen Jungen aus Malaysia auszustechen, was mir allerdings nur ein einziges Mal gelang, da er sich an dem Tag nicht wohl fühlte. Manchmal überlegte ich mir einige schmutzige Tricks, zum Beispiel sein Essen mit einer besonderen Substanz zu „würzen“, aber als ich einige Runden Golf gewann (und man mich zum Golf Captain ernannte), entschied ich mich in dem Sport mit Höchstleistungen zu bestehen. (Leider muss ich eingestehen, dass nicht sonderlich viele Kandidaten um den Sieg wetteiferten. Trotzdem war ich stolz auf mich.)

Mein Vater bewahrte irgendwo einige Schläger auf und erzählte ausführlich von Golfspielen mit verschiedenen Würdenträgern, denen er bei seinen Reisen durch das Empire begegnet war. Natürlich versuchte er jeden, der ihm Gehör schenkte, davon zu überzeugen, dass man sein sportliches Können nur auf einer globalen Skala messen könne. In Wahrheit hatte er jedoch nur ein einziges Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gespielt. 1952 wohnte er bei einem Kommandanten der Royal Air Force in Singapur, der ihn für sein Flying Boat Wing Team „rekrutierte“. Sich plötzlich bewusst, dass er möglicherweise ein wenig eingerostet war, versuchte sich Dad aus der misslichen Lage herauszuwinden. Doch zu spät:

Als Gast durfte ich mich anstandshalber nicht entziehen. Die Vorstellung, während eines Probeschlags eine Rückenzerrung zu simulieren, war ausgeschlossen.

Zu gegebener Zeit stand ich im Angesicht einer erwartungsvollen Menschenmenge an der ersten Abschlagstelle. Ich fühlte mich jedoch nicht nervös, was vermutlich den Drinks und dem Lunch geschuldet war. Eine unbekümmerte Stimmung überkam mich. Falls ich wie ein erbärmlicher Popanz aussah – was soll’s!

Da es sich hier nur um ein kurzes Einlochen handelte, wählte ich einen eisernen Schläger mit einem Kopf, der einer Schaufel glich. Ich vermied einen Übungsschlag, da ich vermutlich nur ein Stück der Rasennarbe herausgepflügt hätte, nahm Ziel und holte aus.

Meine Schutzengel, die Drinks und der Lunch hielten mich davon ab, zu früh aufzublicken. Der Ball schoss kerzengerade entlang des Fairways, was die Zuschauer mit einem beeindruckten Gemurmel honorierten.

Wie oft bei solchen Anlässen übersteigt die tatsächliche Leistung die Erwartungshaltung.

Mir war es egal, wer gewann, und ich hatte nicht die geringste Ahnung vom Punktestand, da mein liebeswürdiger Opponent die Karte ausfüllte. So nahm ich eine entspannte Grundhaltung ein, ohne Ängste oder Hemmungen. Meine Abschläge waren selbstsicher und meine Putts todsicher. Auch die Schutzengel verließen mich nicht. Als einer der angeschnittenen Schläge von der Tangente abprallte und in Richtung einiger Gebäude flog, traf der Ball einen Baum und flog wieder auf den Fairway.

Nach einem weiteren Putt traf der Ball hart auf die Rückseite des Lochs, stieg in die Luft und fiel exakt hinein. Plötzlich meinte mein Gegner: „Potzblitz – Ihr Spiel!“ Bei der Rückkehr zum Tee fand ich heraus, dass ich den besten Spieler der gegnerischen Mannschaft geschlagen hatte. Die Leute sagten: „Wenn sie 14 Jahre nicht mehr gespielt haben, müssen sie damals ein Ass gewesen sein, das sogar mit verbundenen Augen noch siegte!“

Den Rest meiner Zeit in Singapur drückte ich mich vor Turnieren mit wahren Golfspielern.

Ich spielte zehn Jahre nicht mehr und nahm dann, als Pensionär, am Väterspiel der Vorschule meines Sohnes teil …

Am Tag des Spiels von Dad war mir natürlich nicht klar, dass ich ihm eigentlich erst einige Drinks hätte verabreichen müssen, bevor er sich auf den Parcours begeben sollte. Wir standen beim ersten Abschlag. Dad holte einen rostig wirkenden Golfschläger mit hölzerner Stielummantelung aus der Tasche, der für mich wegen des eher prähistorischen Aussehens kaum einem Schläger ähnelte, besonders auch, weil alle anderen Stahlschläger benutzten. Als er den ersten Schlag mit solch einem Elan ausführte, dass er noch nicht mal den Ball traf, hätte ich mir am liebsten ein Loch gebuddelt, um mich selbst einzuputten.

Unbeeindruckt holte Dad zum nächsten Schlag aus und ließ sich von nichts abhalten, meiner Verlegenheit überhaupt nicht gewahr. Glücklicherweise steigerte er sich danach. Obwohl wir letztendlich nicht gewannen, hatte ich viel Spaß.

Die Sonntage zählten während meiner Zeit in The Leas zu den Höhepunkten, denn dem Lunch mit meinen Eltern außerhalb des Internats folgte Pick of the Pops. Sonntags die Vorschule zu verlassen glich dem Freigang eines Gefängnisinsassen: Draußen sahen die Farben klarer aus, die Luft roch besser … und es gab Roastbeef. Meine Eltern kamen früh morgens an, um an dem Gottesdienst in der Kapelle teilzunehmen. Dad trug Hosen aus Twill, nahm eine aufrechte und gefasste Körperhaltung ein, während Mum winkte und mich freudig und lautstark begrüßte. Dann ging es nach Hoylake, wo wir den Lunch in einem Hotel zu uns nahmen. Danach setzte sich mein Vater hin und führte sich ausgiebig die Times zu Gemüte. Im Sitzbereich hockte ich mich nahe an das Radio. Ich trug immer noch die kurzen grauen Schulhosen und die blaue Mütze – und drängelte andere Jungs aus The Leas weg, falls sich möglicherweise welche dort aufhielten.

Aus der heutigen Perspektive betrachtet, ist es schwierig, ein damaliges Ereignis wie Pick of the Pops zu erklären. Mittlerweile ist es möglich, sich alle musikalischen Wünsche überall zu erfüllen: In jedem Restaurant läuft Musik, in jedem Geschäft, am Flughafen und in jedem Fahrstuhl. 1963 beschränkte sich Popmusik auf drei Stunden jeden Sonntagnachmittag. Die Vorfreude darauf war einfach unglaublich. Man zählte die Tage bis zur Veröffentlichung eines Beatles-Albums, und wenn Alan Freeman dann endlich „She Loves You“ oder „Please Please Me“ spielte, war die Aufregung riesengroß – ich kann das Gefühl heute noch nachempfinden. (Das Gitarren-Riff von „You’ve Really Got Me“ der Kinks fällt auch in diese Kategorie. Seitdem hat es nie wieder so etwas Großartiges gegeben.) Die damalige Popmusik lässt sich mit einer weißen Leinwand vergleichen. Es gab keine Vorläufer. Alles war neu, einzigartig und aufregend. Ich liebte sie alle: The Who, die Stones, die Small Faces, Joan Baez, Arthur Brown … jedoch war mein erster Held zweifellos Cliff Richard.

Nicky entfachte meine Begeisterung für Cliff.

Obwohl Dad das Theater und das Varieté liebte, waren meine Eltern nicht musikalisch. Zuhause beobachtete ich ihn, wie er The Good Old Days mit Leonard Sachs sah und so tat, als würde er die Stücke dirigieren. Doch Mum und Dad besaßen keine Schallplatten (angesichts der durch die Marine bedingten Umzüge besaßen sie allgemein wenige Habseligkeiten). So gab es nur einen Plattenspieler, der im Zimmer meiner Schwester stand, was mich ständig nervte.

Nicky lauschte hautsächlich den Songs von Tommy Steele und Elvis – dem Balladen-Elvis –, der mich überhaupt nicht berührte. Erst als ich „Move It“ von Cliff und den Shadows hörte, diesen wilden, auf einer Gitarre basierenden Sound, packte mich die Musik, und zwar am ganzen Körper. Und dann war da noch Cliff als Person: Seine schnittigen Anzüge, das nach hinten gegeelte Haar, die Bewegungen – und dazu noch der packende Sound. Cliff begeisterte alle.

Mein erstes Konzert – ich überredete meine Eltern, mich dorthin zu bringen – fand im Apollo in Manchester statt: Es waren Cliff und seine Shadows. Wenige Tage davor kaufte ich Brylcreem, und kurz vor der Abfahrt geelte ich mir eine Art Tolle, um so cool wie Cliff auszusehen. Mum fand meinen Look nicht sonderlich toll, marschierte mit mir nach oben und steckte meinen Kopf unter den Wasserhahn.

Witzigerweise wirkte sich die unfreiwillige Haarwäsche nicht auf das Erlebnis aus. Cliff trug ein weißes Jackett sowie ein schwarzes Hemd und war so gut, wie ich gehofft hatte. Dennoch dachte ich nicht im Entferntesten daran, selbst Musiker zu werden, denn als Erwachsener repräsentierte er eine Welt, die außerhalb meiner Reichweite lag.

Ebenso sehr wie den typischen Sound mochte ich die Form der Gitarre. Ich hatte vorher schon Fotos einer roten Höfner mit einem doppelten Cutaway gesehen, wobei ich speziell die Symmetrie mochte. Meine erste Gitarre – eine billige Konzertgitarre – war hingegen eher eine Enttäuschung, vergleichbar mit Bert Weedons Lehrwerk Play in a Day, denn genau das erhoffte ich mir. Allerdings schaffte ich es nicht an einem Tag. Auf dem Cover des Buches ist ein Foto von Bert, der einen Anzug trägt und eine Halbakustik in Händen hält, doch er verlor mich schon auf der dritten Seite.

Aber ich ließ mich nicht so schnell von meinem Traum abbringen: Ich konnte ja immer noch eine Platte auflegen und vortäuschen, ich würde spielen. In Far Hills gab es dafür keine geeigneten Spiegel. In Nickys Zimmer stand ein Garderobentisch mit seitlichen Spiegeln, doch wenn ich die Dinger in eine Position bringen wollte, in der ich gut aussah, musste ich sie mit einem Buch festklemmen. Was mich noch mehr ärgerte – ich durfte ihr Zimmer nur betreten, wenn sie nicht da war. Bei den Ferienaufenthalten in der Morris Lodge fand ich dann einen großen, alten und dunklen Kleiderschrank mit zwei langen Spiegeln an den Türen. Ich verbrachte viel Zeit davor!

Dad musste wohl Mitleid mit mir empfunden haben, denn er schickte mich für einige Stunden zu einem Gitarrenlehrer in Bramhall. Ausbildung und Lernen in jeglicher Form schienen seiner Meinung nach stets lohnenswert zu sein. Unglücklicherweise war der Unterricht nicht viel besser als die Tipps eines Bert Weedon. Ich wollte weder Tonleitern noch Noten von einem Typen in einem Tweed-Jackett lernen. Ich wollte Songs lernen! Nach einigen Wochen brach ich den Unterricht ab, was Dad sicherlich enttäuschte.

Als Gitarrist – auch wenn man nicht so gut war – hatte man einen großen Vorteil, denn man hob sich automatisch von den anderen in The Leas ab. Dort spielte jeder Klavier oder Flöte.

Mein erster Auftritt fand während des dritten Jahres bei einer Schulversammlung statt, wo ich eine Solo-Fassung von „Michael Rowed The Boat Ashore“ zu Gehör brachte. (Das Programm an dem Abend beinhaltete noch „Dry Bones – A Negro Spiritual“ und endete mit dem Schullied „Deo Parere Libertas“.)

Ich gehörte zum Schulchor, obwohl meine Stimme nicht sonderlich gut klang. Als wäre das nicht schon schlimm genug, stieß so ein Idiot meine Gitarre – die ein Klassenlehrer für mich gestimmt hatte – vor dem Auftritt um. So musste ich die ganze Aufführung mit einer schrecklich verstimmten Gitarre bestreiten. Ich war ein eher introvertierter und schüchterner Mensch, doch noch zu jung, um mich von solchen Nichtigkeiten aus der Bahn werfen zu lassen. Unbeeindruckt kämpfte ich weiter. Der Erfolg des Abends übermannte mich so sehr, dass ich daraufhin eine Band gründen wollte.

Die Chesters bestanden aus fünf Mitgliedern, obwohl nur zwei Instrumente spielten. Dimitri Griliopoulis und ich. Er war Schlagzeuger, und so lag es auf der Hand, dass wir uns zusammenschlossen. Wir machten uns natürlich keine Gedanken darüber, dass die drei anderen nur aus Spaß mitmachten. Hauptsache, man konnte damit angeben, in einer Band zu spielen – das war uns allen klar! Ein Instrument spielen zu können, darum ging es erst mal nicht.

Wir leiteten den Gruppennamen von der Tatsache ab, dass The Leas nur 15 Minuten von Liverpool entfernt lag, einer Stadt, aus der die wichtigsten musikalischen Impulse kamen. The Liverpools klang nicht besonders gut, und so entschieden wir uns für Chesters, dem nächstgelegenen größeren Ort, dessen Namen wir mochten.

Wir übten in der Haupthalle. Scheinbar jedes Mal schaute ein Musiklehrer vorbei und riet uns, dass wir einen Querflötisten oder Blockflötisten aufnehmen sollten, obwohl das für unser Image nicht hilfreich gewesen wäre – ebenso wenig wie die Kricketpullover, die Dimitri und ich auf den Promo-Fotos trugen.

Während eines Ferienaufenthalts überredeten wir Nicky verzweifelt dazu, sich mit uns ablichten zu lassen. Sie sah tatsächlich so aus, als gehöre sie zu einer Band, was man von Dimitri und mir nicht gerade behaupten konnte.

Dimitri und ich schrieben einige Songs mit Textzeilen wie: „We used to be so happy / We said one day we’d marry.“ Als er sich klammheimlich mit den Echoes, der anderen Band in The Leas verbündete, nahm ich ihm das nicht übel, denn ich hatte genug damit zu tun, das Spiel auf der neuen E-Gitarre zu erlernen.

Mit Mum einen Gitarrenladen zu besuchen, mag nicht sonderlich vorteilhaft ausgesehen haben. Sie trug ein Kleid aus Tweed und ein Kopftuch, aber auch ich gab mit meinen Shorts und den Start-rite-Sandalen sicherlich kein gutes Bild ab. Mum kleidete mich immer schick und hatte eine Bürste in ihrer Handtasche parat, mit der sie meine Haare kämmte, bevor wir irgendwo hin gingen.

Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was für eine Gitarre ich haben wollte, und der Laden raubte mir fast den Atem. Die Instrumente, die an den Wänden hingen, wirkten recht cool und schüchterten mich ein wenig ein. Der Verkäufer hätte uns jede nur erdenkliche Klampfe andrehen können, was er dann auch machte. Ich verließ das Geschäft mit einer Fender Jazz-Gitarre, deren Seitenabstand zum Griffbrett mehr als 0,6 Zentimeter betrug. So eine Höhe wünscht man keinem Anfänger. Mein Verstärker war ein Selmer Little Giant – eindrucksvoller Name, aber ein winziges Ding, in der Größe 30 cm x 45 cm. Vor diesem Tag hatte ich überhaupt nicht darüber nachgedacht, einen Verstärker zu benötigen. Die Zeitungen waren damals voller Cartoons von langhaarigen Typen, die in ihren Zimmern E-Gitarre spielten, während die Eltern – meist waren es die Väter – die Augen voller Entsetzen und Qual verdrehten. Das Gitarrenkabel führte bei den Zeichnungen eigentlich immer zur Steckdose. Ich fand das plausibel.

Meine leicht naturfarbene Gitarre in dem mit grünem Plüsch ausgeschlagenen Koffer zu sehen war an sich schon ein aufregendes Erlebnis. Wieder in Far Hills angekommen, eilte ich auf mein Zimmer und spielte einen nicht sonderlich musikalischen Rhythmus. Sogar ich empfand den Klang als laut, wunderschön laut, doch ich kann mir schwerlich vorstellen, wie das bei Dad ankam, denn seine Generation kannte keine verstärkte Musik.

Seitens meines Vaters bestand eine weitläufige Verwandtschaft mit Percy Bysshe Shelley, dem Dichter aus der Epoche der Romantik. Die Mutter der Mutter meiner Großmutter war die Schwester von Shelleys Mutter, und so erwartete Mum wohl eine künstlerische Ader in mir. „Liebling“, sagte sie. „Es liegt dir im Blut: Es ist Shelleys Blutlinie!“ Dad jedoch – obwohl er mich nie an der Musik hinderte – muss wohl besorgt gewesen sein, zumindest, was das Haus anbelangte. Jedes Mal, wenn ich spielte, schritt er das Gebäude ab und klopfte an das Gemäuer. Er glaubte wohl, dass ich den Putz von den Wänden rockte (was möglicherweise zutreffen mag – aber nur ein bisschen). Trotzdem beschwerte er sich nie bei mir. Ach ja, es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass das Haus niemals einstürzte.

Abgesehen von Dimitri schloss ich in The Leas Freundschaft mit einem Jungen namens David Sandford, der aus Irland stammte. Während des letzten Schuljahres lud man mich dorthin ein. Es war meine erste Flugerfahrung, und David Sandfords Vater, ein Truthahnzüchter aus Strangford, holte mich vom Belfast Airport in einem klapperigen alten Rover ab.

Ich schätze mal, dass Mr. Sandford meinen Aufenthalt möglichst gewinnträchtig nutzen wollte, denn David und ich mussten beim Füttern seiner Truthähne und der Ernte helfen. Es hielten sich dort auch noch einige ältere Jungen auf. Wir wohnten in einem eigenen Caravan hinter der Scheune. Für Davids Vater bedeutet mein „Urlaub“ eine kostenlose Arbeitskraft, doch ich verspürte das Gefühl der Freiheit: Im Alter von zwölf Jahren fühlte ich mich wie ein Erwachsener.

Zu der Zeit rauchte ich gelegentlich eine Player’s No. 6, doch in diesen zehn Tagen durfte ich so viel rauchen wie ich wollte (was ich auch tat). Darüber hinaus machte ich die Entdeckung, dass der Cidre, den die älteren Jungs tranken, recht erträglich war. Als Heranwachsender hatte ich es immer auf den Sherry meiner Eltern abgesehen. Gin Tonic und Gin mit Wermut interessierten mich nicht, denn der Sherry zog mich aufgrund der lieblichen Farbe an. In einem Jahr boten die beiden mir ein Glas an. Ich fand den Geschmack ekelerregend, obwohl ich ihnen das nicht sagen durfte. Mit einem „Mm! Schön!“ zwang ich mir das Zeug durch die Kehle. Cidre stellte eine eindeutige Verbesserung dar.

Die Schattenseite der Reise nach Irland lag in der geringen Entfernung des Caravans zu 17.000 Truthähnen, denn das Gefährt stand nur wenige Meter vom Gehege entfernt. Allein beim Gedanken an Strangford zieht mir ein penetranter und anhaltender Ammoniak-Gestank durch die Nase. Seit dieser „Truthahnerfahrung“ und dem Sherry hat sich mein Weihnachtsessen grundlegend verändert …

Mal von einigen Zwischenfällen in der Vorschule und den „berauschenden“ Irlandferien abgesehen, kann man mich als einen Jungen mit guten Mainieren beschreiben. Mein Vater hat mir immer die Bedeutung von Höflichkeit, Vertrauen und Ehre eingetrichtert, und ich glaube, dass er für diese Charakterzüge in den Krieg gezogen ist.

1941 kehrte er mit seinem Schiff, der „Excellent“ zu einer Generalüberholung in den Hafen von Portsmouth zurück – einen Tag nach dem ersten schweren und überraschenden Bombenangriff. Er war schockiert, die „rauchenden Ruinen unseres Heimathafens“ zu sehen.

Ich ging an Land, um mich umzuschauen. Mich überkam ein unverhältnismäßiger Wutausbruch. Ich inspizierte den Schaden an den Pubs, wo wir so manche fröhliche Stunde verbracht hatten, wo wir die Bedienung nach der Sperrstunde zu einer Tanzveranstaltung in den lokalen Versammlungsräumen einluden (die man allgemein mit den weniger schicklichen Namen „Arsch- und Bauchbude“ bezeichnete). Mir erschien es niederträchtig und in keiner Weise eines Gentlemans würdig, den Pub eines Mannes in Schutt und Asche zu legen – das war vergleichbar mit der Zerstörung seines Golfschlägers und der Fahrräder seiner Kinder.

Mein Vater begrüßte das Ethos von The Leas, denn als ich 1964 das Internat verließ, schrieb er dem Schulleiter:

Wir sind höchst erfreut, dass Michael sich als Leasianer bewährt hat, indem er sich auf dem Gebiet der Leibesertüchtigung und im Rahmen des Gemeinschaftslebens der Schule hervortat, zum Hauspräfekten wurde und zufriedenstellenderweise nach Charterhouse wechselte.

Wir freuen uns auch darüber, das Michal in diesen wichtigen frühen Jahren unter Ihnen und Ihresgleichen weilen und die anschaulichen Beispiele und Einflüsse genießen durfte, die den Charakter Ihres Instituts ausmachen.

In diesen Tagen ist es nicht leicht, eine Einrichtung zu finden, die auf den grundlegenden Tugenden basiert, die von einem aufrichtig religiösen Leben untermauert werden. Solche charakterbildenden Maßnahmen werden heute von sogenannten fortschrittlichen Denkern als dumm und überholt kategorisiert. Man würde die Ansichten dieser Personengruppe zumindest tolerieren, wenn sie adäquate Alternativen böten.

Dem Brief lag auch ein kleiner Beitrag für die Orgel bei. Ich halte das nur für angemessen, denn Michael hat während der letzten sechs Jahre seinen Beitrag zur Abnutzung des alten Instruments geleistet! Das stimmte auch!

Ich weiß nicht, ob Dad tatsächlich glaubte, dass ich „zufriedenstellenderweise“ nach Charterhouse wechselte. In Surrey gelegen, war Charterhouse eine der besten Privatschulen des Landes, was sich auch an dem hohen Schulgeld ablesen ließ. Im letzten Jahr in The Leas hatte Dad mich für ein Marine-Stipendium angemeldet, durch das die gesamten Kosten gedeckt worden wären. Die Entscheidung für das Stipendium fand auf der Basis eines Bewerbungsgesprächs statt, was zuerst gut lief. Scheinbar konnte ich die mir gegenübersitzenden, über und über mit Medaillen behangenen Würdenträger der Marine überzeugen. Doch dann fragte mich einer der Herren, ob ich Geschichtsbücher über die Marine gelesen habe.

„Oh, ja, viele sogar“, antwortete ich.

„Tatsächlich? Welche denn?“

Totenstille.

Damit war auch das Stipendium Geschichte.

Rhythmen des Lebens - Die erste Genesis-Autobiografie

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