Читать книгу Eiserner Wille - Mike Tyson - Страница 6
ОглавлениеIch starre aus dem Fenster meiner Suite im Ritz-Carlton in Battery Park City in New York. Nebenan kümmert sich meine Frau Kiki um unsere beiden Kinder. Milan beschäftigt sich mit einer Bastelarbeit und Rocco tobt wie üblich im Zimmer herum. Ich bin wegen eines Gastauftritts im Barclays Center hierhergekommen, wo Deontay Wilder seinen WBC-Titel im Schwergewicht gegen Artur Szpilka verteidigt. Wilder? Szpilka? Früher hieß es immer, das Schwergewicht sei alles, was beim Boxen zählt. Diese Zeiten sind längst vorbei.
Ich schaue zur Gegend um die Wall Street hinüber und denke an die Zeit zurück, in der ich in Brownsville, Brooklyn, aufwuchs. Jedes Mal, wenn ich meiner Frau von meiner Kindheit erzähle, denkt sie, ich streichele nur mein Ego. Ich sage: „Baby, ich kann’s einfach nicht glauben, was für’n Scheiß ich früher erlebt hab.“ Meine Frau hat keine Ahnung davon, wie verdammt arm ich war. Dann mache ich die Straßen aus, in denen ich als Neunjähriger die Leute gegen die Hauswand stieß und ihnen ihre Halsketten klaute.
Wenn ich den Kopf ein wenig vorstrecke, kann ich den oberen Stadtteil in Richtung 42. Straße sehen. Das war unser Spielplatz. Ich hing in den Arkaden herum oder schaute im Bond’s International Casino vorbei und beklaute die Konzertbesucher. In der 42. Straße ging es jeden Abend zu wie am Wochenende. Aber die Zeiten am Times Square haben sich geändert. Jetzt laufen Disney-Figuren herum, die sich mit Touristen fotografieren lassen, und der Naked Cowboy spielt Gitarre. Jeder zieht seine Kamera raus und macht Selfies mit irgendwelchen Fremden. Stell dir das mit den Leuten vor, mit denen ich am Times Square herumhing: „Hey Mann, können wir ein Selfie mit dir machen?“ – Ein Selfie, Nigga? In den Siebzigern Fotos von Fremden zu machen, ging gar nicht. Da sagtest du nicht mal „Hallo“ zu Leuten, die du nicht kanntest. Der Wichser hätte dich ins Koma geprügelt und auf der Straße liegen lassen.
Damals befand ich mich in einem Teufelskreis. Ich klaute Geld und kaufte mir schöne Dinge davon, und dann kamen die älteren Kids und nahmen mir meine Sneakers, meine Jacke und meinen Schmuck ab. Wie konntest du dich gegen diese großen Monster wehren? Jeder hatte Angst. Aber irgendwie habe ich es geschafft, in solchen Situationen nicht draufzugehen. „Das ist Mike, Mann“, sagte dann einer meiner älteren hippen Freunde, und die bösen Jungs ließen mich gehen. Ich begann zu glauben, dass ich ein besonderes Schicksal hätte. Ich wusste immer, dass ich nicht in der Gosse sterben, dass irgendetwas Bedeutendes mit mir passieren würde. Ich war eine unsichere Kanalratte, aber ich wollte Ansehen, ich wollte berühmt werden, ich wollte, dass die Welt auf mich blickt und mir sagt, ich sei schön. Dabei war ich nichts als ein verdammt fettes, verwahrlostes Kind.
Es ist schon witzig, dass ich mich für etwas Besonderes hielt, nur weil ein weißer Baseballspieler Mike Tyson hieß. Er war ein Profispieler im Infield bei den St. Louis Cardinals, und weil ich denselben Namen wie dieser Typ hatte, wusste ich einfach, dass ich anders war und weit rumkommen würde.
Dann lernte ich einen weißen Typen kennen, einen alten italienischen Gentleman, der ebenfalls dachte, ich sei etwas Besonderes. Sein Name war Cus D’Amato, und er pflanzte mir Visionen von Ruhm und Ehre in den Kopf. Ohne diesen Mann würde ich nicht in einem schicken Hotel sitzen und aus dem Fester sehen. Vielleicht würde ich immer noch in Brownsville leben, in irgendeinem schäbigen Apartmenthaus, oder Chickenwings in einer billigen Uptown-Frittenbude essen, statt Pasta beim Zimmerservice zu bestellen. Vielleicht wäre ich auch schon tot.
Damals, als ich noch ein Kind war, hatte ich immer Angst, wieder in die 42. Straße zu gehen, weil mich vielleicht so ein Wichser vom Vortag erkennen könnte, mich verfolgen und mir die Seele aus dem Leib prügeln würde. Jetzt kann ich die 42. auch nicht hinunterlaufen, denn jemand könnte mich zu Tode lieben. Ist das nicht verrückt? Ich gehe die 42. entlang, und so viele wollen mit mir abklatschen, dass ich ins Auto fliehen muss.
Und das ist nicht nur an meinen früheren Tummelplätzen so. Ich kann fast nirgends auf der Welt die Straßen entlanggehen. Ist das nicht ein Wahnsinn? Wir können nicht mal in Dubai Schmuck kaufen gehen. Ich kann das Hotel nicht verlassen, ohne dass ich sofort umringt bin. Und das alles wegen Cus. Nein, ich will mich nicht beschweren, ich bin sehr dankbar für meine heutige Situation. Aber ich verstehe immer noch nicht, wie das alles geschah. Wie konnte dieser in Upstate New York im Exil lebende Boxmanager und -trainer vorhersagen, dass ich der jüngste Schwergewichtsweltmeister aller Zeiten sein würde, nur weil er mich weniger als zehn Minuten beim Sparring gesehen hatte, als ich dreizehn war?
Dieses Buch erzählt von unserer Beziehung zueinander. Cus D’Amato war einer der außergewöhnlichsten Menschen, die je auf diesem Planeten gewandelt sind. Er berührte das Leben so vieler Menschen und half ihnen, bessere Versionen ihrer selbst zu werden. Er machte die Schwachen stark. Und er machte einen fetten, ängstlichen Dreizehnjährigen zu einem Kerl, der nicht auf die Straße gehen kann, weil er das bekannteste Gesicht der Welt besitzt.