Читать книгу Eiserner Wille - Mike Tyson - Страница 9

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Am 20. Juni 1980 änderte sich mein ganzen Leben. Eigentlich war es erst eine Woche darauf. Ich ging bereits seit ein paar Monaten rauf zu Cus und hörte mir seine Versprechungen von Ruhm und Reichtum an, aber ich war noch nicht so weit. Ich wusste nicht, wie ich der Kerl werden sollte, von dem Cus dauernd sprach. Aber dann, als ich wieder in Tryon war, sahen wir uns die Wiederholung des ersten Kampfes von Sugar Ray Leonard gegen Roberto Durán an. Und plötzlich war alles klar. Endlich verstand ich, was Kämpfen wirklich bedeutet. Diese beiden waren gleichermaßen aggressiv und ausweichend, und sie kämpften sich den Arsch ab. Es war atemberaubend.

Die Menschen applaudierten wie verrückt und mein Schwanz wurde hart. Ich wollte, dass die Menschen mir applaudierten. Die Energie meiner Gedanken verschmolz mit der Energie meines Körpers. Ich wusste, dass alles, was mit meinem Leben geschehen sollte, in diesem Ring geschehen würde, und ich dachte: „Ich werde mein Leben dem allem hier widmen. Wenn das nicht geht, dann sterbe ich lieber.“

Eigentlich sollte ich erst im Oktober aus Tryon entlassen werden, aber Cus traf sich mit Mrs. Coleman, meiner Sozialarbeiterin, und weil ich vierzehn und so groß war, entschieden sie, dass ich wie die anderen im September mit der Schule anfangen sollte. Sie war völlig vernarrt in Cus. Er war einer dieser Weißen, der wusste, wie man mit Minderheiten sprach. Eigentlich sollte ich die siebte Klasse besuchen, aber sie steckten mich in die achte, weil ich so verdammt groß und furchteinflößend war.

Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, mich anzupassen. Ich komme aus der Gosse, aus einer Strafanstalt, und auf einmal bin ich ein Mittelschichtskind in einem Weißenviertel. Du kommst aus der Hölle und findest dich im Himmel wieder, aber du bist noch immer der Teufel. Es ist kaum zu glauben, ich war vierzehn und hatte in meinem Leben noch nie eine Rose gesehen, außer im Fernsehen. Ich dachte, nur reiche Leute hätten Rosen. Das erste Mal, als ich mich bei Cus im Haus aufhielt, fragte ich Camille, ob ich ein paar Rosen haben dürfte. Ich schnitt sie ab und nahm sie mit in die Besserungsanstalt. Ist das irgend so eine Scheiße von armen schwarzen Wichsern, oder was? Ich wusste nicht, dass ich eine Rose für zwei Dollar kaufen konnte. Ich sah eine Rose und dachte, ich wäre in Fort Knox. Direkt nach meinem Einzug stahl ich Geld aus Teddy Atlas’ Geldbörse. Es war einfach ein Reflex. Teddy ging zu Cus und sagte: „Er hat das Geld gestohlen. Es kam noch nie etwas weg, bevor er hierherkam.“ Cus sagte: „Nein, er war es nicht.“ In Gedanken plante ich schon, Cus ebenfalls zu bestehlen. Aber als ich mich eingelebt und an Cus’ Mission gewöhnt hatte, war ich über diese Scheiße hinweg.

Die Schule war ziemlich unangenehm für mich. Ich war so viel größer als meine Klassenkameraden. Ich wog mittlerweile 95 Kilo. Als ich in meine neue Klasse kam, dachten alle, ich wäre der Lehrer. Ich fühlte mich scheiße. Ich wollte nicht zur Schule gehen, war nie Teil dieses Systems gewesen. Ich wollte immer nur ein Kämpfer sein. Ich kannte nicht sehr viele Schwarze in der Schule. Vielleicht zwanzig Prozent dort waren schwarz, und die lehnten mich ab, weil ich bei einer weißen Familie lebte. Sie nannten mich King Kong, weil ich so groß war. Ich kannte zwar ein paar Jungs von der Sporthalle, aber es war nicht einfach, neue Freunde zu finden, weil ich so schüchtern war. Ich freundete mich mit einigen der anderen Außenseiter an, den Kiffern. Ich hing in ihren Häusern rum und rauchte Pot. Dann fand ich heraus, dass mein Zimmergenosse Frankie auf Gras war, und wir rauchten zusammen.

Der Hauptgrund, warum ich die Schule hasste, war, dass sie mich vom Training abhiel. Ich wachte gegen vier Uhr morgens auf und ging joggen. Dann ging ich in mein Zimmer zurück und machte ungefähr fünfhundert Sit-ups und Push-ups. Danach lief ich manchmal noch zehn Runden über das Gelände, einfach hin und her. Und das alles vor der Schule.

Als Bobby Stewart das erste Mal, nachdem ich eingezogen war, zu uns kam, um mit mir zu sparren, sagte ihm Cus: „Unterschätz Mike nicht. Glaub mir, er hat sich immens verbessert.“ Später erst fand ich heraus, dass Bobby zweimal am Tag trainierte, um mit mir mithalten zu können. Wir begannen zu sparren, und weil er sehr viel besser war als ich, fing ich an zu weinen.

Ich war ein Perfektionist. Wenn das, was ich mir vorstelle, nicht klappt, dann ist mein Leben zu Ende, dann zieh den Stecker – das ist meine Mentalität. Ich wollte mein Ziel unbedingt erreichen. Und ich wollte es für Cus schaffen. Das erste Mal in meinem Leben sagte mir jemand, dass es keinen Besseren gäbe als mich.

Cus war vom Boxen genauso besessen wie ich. Er dachte an nichts anderes mehr. Er ging nie ins Kino und sah sich keine Fernsehshows an. Er wusste nicht, wer die berühmten Entertainer dieser Ära waren. Wenn dein Name nicht John Wayne, Judy Garland oder James Cagney lautete, kannte er dich nicht. Alles, worüber er sprechen wollte, war das Boxen. Und ich freute mich darüber, dass ich ihn mit Fragen zu all den Kämpfern löchern durfte, über die ich in der Box-Enzyklopädie gelesen hatte. Als ich ins Haus eingezogen war, begann Cus mir zu erzählen, wie er zum Boxen kam.

Im Jahr 1936, als er achtundzwanzig Jahre alt war, eröffnete Cus das Gramercy Gym an der 14. Straße in Manhattan. Er wollte die Erinnerung an seinen Bruder Gerry aufrechterhalten, aber er wollte auch einen Champion haben. Einer von Cus’ Helden war „Slapsie“ Maxie Rosenbloom, der damals weltweit beste Weiße im Halbschwergewicht. Er sah, dass Maxie im Rolls Royce mit Chauffeur durch die Stadt fuhr und die Menschen ihn wie einen König behandelten. „Wenn du erst Weltmeister bist, wirst du ebenfalls einen Rolls Royce mit Chauffeur haben“, sagte Cus zu mir. Plötzlich war mein Leben darauf festgelegt, es diesem Juden Maxie gleichzutun.

Cus fand ein großes Loft in der 14. Straße und begann zu überlegen, wie er die monatliche Miete von vierzig Dollar aufbringen konnte. Jahre zuvor hatte er einem seiner Freunde geholfen, nachdem er die Baupläne für eine große Schnellstraße in der Bronx namens Bruckner Express Way gesehen hatte. Er gab diesem Freund den Tipp, dass es dort bald ein hohes Verkehrsaufkommen geben würde, und der eröffnete vier Tankstellen an dieser Strecke. Damit hatte er einen Haufen Geld verdient, und jetzt erklärte er sich gern bereit, die monatliche Miete für Cus zu übernehmen. Es gab vielleicht schon zehn andere Sporthallen in der Stadt, aber Cus vertraute auf sein Wissen über den Boxsport, das erheblich größer war als das der anderen Trainer, und deshalb war er überzeugt davon, dass er Erfolg haben würde.

Cus bekam von einem alten Boxer einen gebrauchten Ring und seine Brüder halfen ihm, den Rest der Sporthalle auszubauen. Aber es war mitten in der Wirtschaftskrise, und anfangs verirrte sich niemand in die Halle. Dann, eines Tages, kam eine Abordnung von ungefähr sechs Müttern vorbei, um mit Cus zu sprechen. Sie baten ihn, ihre Kinder von der Straße und den Problemen wegzuholen. Lower Manhattan war damals ein raues Viertel, und es gab keine Sozialprogramme der Polizei oder irgendetwas anderes, was einen guten Einfluss auf diese Kinder ausgeübt hätte. Die Mütter hatten kein Geld, um Cus zu bezahlen, aber das machte ihm nichts aus. Tatsächlich verlangte er in den nächsten dreißig Jahren von niemandem einen Cent dafür, dass er in seiner Sporthalle sparren durfte. Einer der Gründe, warum Cus diesen Standort ausgewählt hatte, war, abgesehen von der günstigen Miete, sein Wissen, dass die besten Kämpfer aus gefährlichen Gegenden kamen. Und Cus hatte eine Regel: Wenn einer sich gut anstellte und ein Profi werden wollte, dann managte er ihn.

Die Sporthalle lag im dritten Stock des morschen Treppenhauses. Wenn du unten an der Treppe standest, konntest du bis ganz nach oben sehen. Es war, als würdest du eine Himmelsleiter emporklettern. Wenn du dann ganz oben angekommen warst, sahst du eine Tür mit einem großen Loch, das mit Maschendraht zusammengeflickt war, und einen riesigen Wachhund, der sich gegen den Maschendraht warf und dabei wie verrückt bellte. Cus sagte immer, dass die Art, wie ein Junge die Treppe hochkam, eine Menge über dessen Charakter aussagte. Er nannte diesen Weg „das Gericht“. Wenn ein Jugendlicher alleine dort hochkam, sich vom Hund nicht abschrecken ließ, die Tür aufstieß und sagte, dass er Boxer werden wollte, dann wusste Cus, dass er mit ihm arbeiten konnte. Doch wenn einer hergebracht wurde, war das eine andere Geschichte. „Denn wenn er von jemandem gebracht wurde, wusste ich, dass es keinen Sinn hatte. So einer besaß weder die Disziplin noch die Willensstärke, um aus freien Stücken hierherzukommen, die Tür zu öffnen und zu sagen: ‚Ich will Boxer werden‘“, sagte Cus.

Von Anfang an war Cus nicht damit zufrieden, nur Trainer zu sein. Er strebte auch danach, Manager zu werden. „Ein guter Manager muss jeden Aspekt des Boxens kennen. Er muss sich mit Gefühlen, mit Publicity und Management auskennen, und er muss wissen, wie man einen Boxer trainiert. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Ein Manager muss die Kontrolle über die Situation behalten, und wenn er die Angelegenheit nicht selbst regelt, muss er Anweisungen geben können, wie was zu machen ist“, sagte Cus einmal in einem Interview. Zu diesem Job gehört auch, die richtigen Gegner für einen Kampf auszuwählen. Cus war unglaublich vorsichtig mit seinen Boxern, denn eine hohe Niederlage kann sich verheerend auf die Psyche des Boxers auswirken. „Ich bin nicht in diesem Geschäft, um meine Schützlinge massakrieren zu lassen“, sagte er der New York Times.

Gegner auszusuchen war nicht immer einfach. Einmal wurde Cus hereingelegt und stimmte einem Kampf gegen einen Kerl aus Long Island zu, von dem er vorher noch nie gehört hatte. „Schon als die Glocke erklang, war mir klar, dass mein Junge nicht gegen einen Anfänger kämpfte. Er wurde regelrecht verdroschen und ging zehnmal zu Boden. Ich schrie den Ringrichter an: ‚Aufhören! Aufhören!‘, weil ich nicht wollte, dass mein Junge ruiniert wurde. Nach dem Kampf ging ich in die Kabine, und der Junge sah auf und sagte: ‚Cus, es tut mir leid, ich habe dich im Stich gelassen.‘ – ‚Du hast mich nicht im Stich gelassen, sondern ich dich. Ich habe dir einen zu starken Gegner gegeben‘. Danach ging ich rüber, um das Geld zu holen. Als ich das Telefon klingeln hörte und jemand sagte, es sei ein Ferngespräch, irgendwer wolle sich nach dem Ergebnis des Kampfes erkundigen, da wusste ich, dass dieser weiße Junge kein Amateur aus Long Island war; er war aus einem anderen Teil des Landes hergebracht worden.“ Cus war wütend und schlug seine recht Faust in seine linke Handfläche. „So etwas passiert mir nie wieder!“

Cus gab gerne Box-Unterricht. Einmal trainierte er sogar ein paar Showgirls und brachte ihnen für eine Show, die gerade zusammengestellt wurde, einige Moves im Boxen bei. Anfangs spezialisierte sich Cus darauf, taubstumme Boxer – oder „Dummies“, wie sie in jener politisch unkorrekten Zeit genannt wurden – zu trainieren, und hatte einen gewissen Ruf darin. Er hielt sie für großartige Kämpfer, weil ihre Sehfähigkeit außergewöhnlich gut war. „Die Fähigkeit zu sehen ist das größte Plus eines Boxers und Dummies sind so viel besser darin, die kleinen Anzeichen dafür, dass im nächsten Moment ein Schlag folgt, zu erkennen und sofort zu reagieren. Sie sind sehr schwer zu treffen“, sagte Cus. Um mit ihnen arbeiten zu können, lernte Cus Zeichensprache. Ich sah ihm dabei zu. Es war so seltsam, denn er reihte die Zeichen so verbissen und schnell aneinander, dass es fast brutal wirkte. Es sah aus, als würde er kämpfen. Er nutzte auch seine Fähigkeit, von den Lippen zu lesen. Das war praktisch, denn in der Zeit, in der ich mit Cus zusammen war, war er schon fast taub. Er sagte oft zu mir: „Lass mich dich erst ansehen. Jetzt kannst du mit mir reden.“ Er erzählte mir, dass er immer zwischen den Runden über den Ring geblickt hätte, und wenn der andere Trainer Cus nicht gerade den Rücken zugedreht hatte, konnte er erahnen, was der Typ zu seinem Kämpfer sagte.

Cus war so bekannt für seine Arbeit mit taubstummen Kämpfern, dass die Boxwelt anfing, ihn Dummy D’Amato zu nennen. Noch hatte er im Boxgeschäft nicht viel gerissen, als er nach sechs Jahren im Gramercy 1942 eingezogen wurde. Kaum war er in die Armee eingetreten, verordnete sich Cus eine strenge Form von Selbstdisziplin. Gay Talese erzählte er: „Ich ging auf den Tod vorbereitet zur Army.“ Aber ich bin sicher, er musste gewusst haben, dass ihn sein kaputtes Auge vor einem militärischen Kampfeinsatz bewahren würde. Dennoch begann er, Raubbau an seinem Körper zu treiben, nur um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Er fing damit an, auf dem Boden seiner Sporthalle zu schlafen. Die Hälfte der Zeit schlief er auf einem Klappbett im Büro, so war es nicht ganz so schlimm. Aber dann stellte er nachts zwischendurch immer seinen Wecker, um sich anzugewöhnen, immer frisch und munter aufzuwachen, egal zu welcher Uhrzeit. Er ging bei eiskaltem Wetter ohne Mantel nach draußen.

Als er dann in der Kaserne war, führte er seine Selbstkasteiung weiter fort. Er schlief auf dem Boden, was bei überraschenden Kontrollen sehr nützlich war. Er rasierte sich nur mit kaltem Wasser. Als Cus in der Army war, kannte er nur einen Gedanken: „Ich werde jeden Befehl ausführen!“, und das trieb er bis zum Äußersten. Manchmal stand er stundenlang in Habachtstellung und übte wie verrückt das Salutieren, bis es perfekt war. Als seine Truppe im Feldlager war, gab es dort so viele Fliegen, dass es unmöglich war, zu essen. Cus fasste den Entschluss, das nächste Insekt nicht mehr wegzuschlagen. Was dann kam, war eine Spinne, keine Fliege, und Cus legte ein Stück Brot über sie, schloss die Augen und aß die Spinne mitsamt dem Brot! Wegen dieses Typen bin ich heute ein so ein verrückter Kerl. Es ging ihm nur darum, sich selbst zu disziplinieren – bis hin zur Ablehnung sämtlicher Annehmlichkeiten.

Sein kaputtes Auge bewahrte Cus schließlich vor gefährlichen Einsätzen. Er sollte seinen Dienst drei Jahre lang als Officer der Militärpolizei daheim in den Staaten ableisten. Im wurde die Aufgabe zugewiesen, russische Deserteure zu bewachen, die für die Deutschen gekämpft hatten und nun Kriegsgefangene waren. Nach einigen Schichten verweigerte er den Dienst, weil er Mitleid mit den Russen hatte, die von amerikanischen Soldaten gequält wurden. Cus war der Mustersoldat schlechthin, und deshalb wurde er von dieser Aufgabe befreit.

Noch wütender war Cus jedoch darüber, wie schwarze amerikanische Soldaten sowohl von den Kameraden aus den Südstaaten als auch von den Zivilisten aus dem Norden behandelt wurden. Cus trainierte ein Box-Team, das hauptsächlich aus schwarzen GIs bestand. Einmal nahm er sie mit in ein Restaurant in Trenton, New Jersey, um mit ihnen einen Happen zu essen, bevor es nach Fort Dix ging, wo die Kämpfe stattfinden sollten. Cus fragte nach einem Tisch für zehn Personen. Sechs davon waren Schwarze. Der Kassierer nahm Cus zur Seite und sagte: „Wir können Sie bedienen, aber nicht die da“, und zeigte auf die schwarzen Boxer in Uniform. Cus rastete aus und fing an zu brüllen, die schwarzen Soldaten würden auch Menschen wie ihn beschützen, und er sollte sie gefälligst bedienen. Mittlerweile waren alle Blicke auf ihn gerichtet, und er musste von seinen Kämpfern zurückgehalten werden. Sie zogen ihn aus dem Restaurant, und Cus brüllte noch immer die Gäste an, die schon weiteraßen.

Als das Team zu Schaukämpfen in den Süden fuhr, wurde es noch schlimmer. Hotels weigerten sich, den schwarzen Boxern ein Zimmer zu geben, und Cus übernachtete mit ihnen in einem öffentlichen Park. Diese schwarzen Kämpfer vergaßen niemals, was Cus für sie getan hatte. Diese Art von Rassendiskriminierung war gang und gäbe, sogar bei Profiboxern. Wenn schwarze Box-Champions in eine Stadt kamen, in der sie niemanden kannten, dann mussten sie im Park schlafen und am darauffolgenden Abend ihren Titel verteidigen.

Cus war äußerst bestürzt über den Rassismus der Soldaten aus dem Süden. Er erzählte mir die Geschichte, wie er seinen Freund, einen Sergeant namens Murphy, der eigentlich Italiener war, vor einem Haufen Südstaatler rettete. Cus bekam für das Managen des Box-Teams ein wenig Geld und hatte somit genug, um sich mit Zigaretten und Keksen zu versorgen. Wenn diese Südstaatler zum Schnorren kamen, gab Cus ihnen immer etwas ab. Aber eines Tages zeigten sie ihr wahres Gesicht. Sie waren betrunken und sangen Lynchlieder. Cus war wütend darüber, dass sein Freund Murphy von den Südstaatlern umzingelt und in die Enge getrieben wurde. Deshalb schnappte er sich ein paar seiner schwarzen Boxer und plante, seinen Freund zu retten. „Hört ihr, was sie singen?“, fragte er. „Wir müssen Murphy da rausholen.“ Die schwarzen Soldaten hatten Angst, aber Cus überredete sie und sie „retteten“ Murphy. Cus war so stolz darauf. Es hörte sich an, als wäre er ein General gewesen, der seine Truppe versammelte und Murphy sicher zurück nach Hause brachte.

Cus behauptete, er hätte in der Army nichts gelernt, weil er die Selbstdisziplin bereits gehabt hatte. Während ich bei ihm wohnte, hatte ich einmal die absurde Idee, dass ich vielleicht zur Army gehen sollte.

„Bist du verrückt?“, schrie er. „Du willst, dass das Militär für dich denkt? Du willst alles tun, was sie sagen? Du willst zurück in die Sklaverei?“ Das war das letzte Mal, dass ich ihm gegenüber diese Idee erwähnte.

Cus galt stets als einer der ersten Trainer, die sich auf die Psychologie ihrer Boxer konzentrierten. Im Laufe seiner Karriere sagte er öfters, dass das Boxen zu fünfzig, sechzig und manchmal sogar fünfundachtzig Prozent eine mentale Angelegenheit sei. Er begann schon früh, psychologische Verhaltenstheorien zu entwickeln, die beim Boxen angewandt werden konnten. Zunächst beschäftigte er sich mit den Arbeiten von Sigmund Freud. „Die Leute sagten immer, ich würde Freud lesen, aber alles, was ich jemals von ihm gelesen habe, waren zehn Kapitel aus einem dieser Taschenbücher, das ich irgendwo fand“, sagte er Sports Illustrated. „Ich las diese zehn Kapitel, und dann wurde es immer technischer, deshalb legte ich das Buch weg.“ Freud „sagte mir nichts, was ich nicht schon wusste“, sagte er einem anderen Reporter.

Cus begann mit meinem psychologischen Training erst richtig, nachdem ich in das Haus eingezogen war. Als Erstes gab er mir ein Buch von Peter Heller mit dem Titel „In This Corner …!“ Es war ein großartiges Buch, weil es Interviews mit zeitlos vorbildlichen Kämpfern enthielt. Cus war der Meinung, man solle es unbedingt lesen, weil sich all die Unsterblichen in diesem Buch ihre Ängste eingestanden. Die Angst zu beherrschen und sie für dich arbeiten zu lassen, war ein Eckpfeiler von Cus’ Lebensphilosophie. Giganten wie Jack Dempsey waren ebenso ängstlich wie ich. Er war Krebs wie ich, sehr emotional. Aber wenn er in den Ring stieg, hättest du niemals geglaubt, dass er ein ängstlicher Kerl war. Tief im Inneren hielt er sich für einen Feigling, genauso, wie es mir geht. Aber wenn er in diesen Ring stieg, war er die Unbeugsamkeit in Person. Das ist doch was, oder?

Auch Henry Armstrong war, wie Dempsey, während der großen Wirtschaftskrise ein Vagabund gewesen. Sie sprangen auf Züge auf, kamen in eine andere Stadt, kämpften ums Überleben, wurden zusammengeschlagen, und so lernten sie zu kämpfen. Armstrong stand morgens auf und lief fünfzehn Meilen zur Arbeit und danach wieder fünfzehn Meilen zurück nach Hause, und dann trainierte er. Wisst ihr, was sein Job war? Nägel in Eisenbahnschienen schlagen, acht Stunden am Tag. Mann. Er war der Einzige, der drei Weltmeistertitel gleichzeitig hatte, drei von zwölf. Cus war der Meinung, er sei der Inbegriff der Entschlossenheit und Willenskraft gewesen und hätte so die Kampfmoral seiner Gegner zunichtegemacht.

Aber das beste Beispiel dafür, was Angst wirklich bedeutet, war die Geschichte von Willie Ritchie. Durch seine Geschichte bekam ich Nerven wie Drahtseile. Ritchie war ein polnisches Leichtgewicht, der 1912 die Meisterschaft gewann. Er kämpfte gegen einen Kerl, der etwas größer war. Der Kampf war hart und wurde als unentschieden gewertet. Der Veranstalter klatschte Willie auf den Rücken und sagte: „Hey, du hattest Glück heute Abend, Junge. In zwei Wochen gibt es eine Revanche.“ Ritchie war starr vor Schreck. Er war der Meinung, das Unentschieden wäre ein Geschenk gewesen, denn der Kerl hatte ihn richtig verprügelt. Von da an hatte er solche Angst, dass er eine Stunde brauchte, um seine Scheißschuhe zu binden, seine Shorts anzuziehen und in die Sporthalle zu gehen, um zu trainieren. Er schwitzte beim Wiegen. Er konnte nicht essen, er war krank vor Angst, umgebracht zu werden. Als er gerade beim Wiegen war, kam der Trainer seines Gegners an, klatschte ihm auf den Rücken und sagte: „Okay, letztes Mal haben wir es dir leicht gemacht, heute Abend schlagen wir dich im Nu k. o.“ Ritchie war ein emotionales Wrack, aber er ließ sich seine Furcht nicht anmerken. Er war drauf und dran, den Kampf abzusagen, aber er nahm sich zusammen und stellte sich auf die Waage. Dann wartete er auf den anderen Kerl. Nach ein paar Stunden war klar, dass sein Gegner sich nicht blicken lassen würde. Ritchie bekam das ganze Preisgeld. Er lernte eines daraus: Egal, wie viel Angst er gehabt hatte – und er hatte sich gefürchtet, als ob der Teufel hinter ihm her wäre –, sein Gegner hatte noch mehr Angst vor ihm gehabt. Als ich diese Geschichte las, wurde mir klar, dass ich den Vorteil hatte, zu wissen, wie sich die anderen fühlten – aber sie wussten nicht, wie es in mir aussah. Obwohl ich vor den Kämpfen Angst hatte, dachte ich immer: „Sie haben mehr Angst vor mir als ich vor ihnen.“

Cus gab mir nicht nur dieses Buch, sondern auch etwas, das er „das Gespräch“ nannte. Er spürte, dass die meisten Kids, die Boxer werden wollten, nie gelernt hatten, mit ihren Gefühlen umzugehen. Er meinte, um einen Boxer zu unterrichten, müsse man zuerst seine seelischen Probleme lösen, und zwar auf eine Weise, dass es dem Schüler nicht mehr peinlich ist, so etwas wie Angst zu empfinden. Cus nannte das „die Persönlichkeitsschichten abtragen“. Seine Theorien waren jenen von Wilhelm Reich, einem Schüler Freuds, sehr ähnlich. Reich sprach von der besonderen biologischen Energie eines Menschen, der „Orgonenergie“, die sich im Körper als eine Art Panzer festsetzt. Diese „Panzerung“ müsse angegangen und bearbeitet werden, bis die Energie freigesetzt werden kann. Wenn die Kindheitstraumen und Schamgefühle Schicht für Schicht abgetragen sind, dann bist du bereit für Cus’ Unterricht.

Ich hörte hundert verschiedene Versionen von Cus’ Zugang zur Angst. Aber die Art, wie er in den Sechzigerjahren darüber sprach, als er für ein Video interviewt wurde, das Jim Jacobs produzierte – der übrigens mein erster Manager wurde –, ist besonders gut.

„Wenn ich einen neuen Schüler habe, halte ich ihm als Allererstes einen Vortrag. Und obwohl ich nicht von ihm verlange, dass er sich komplett alles merkt, was ich ihm sage, erwarte ich doch von ihm, dass er sich nach dem Wiederholen der Lektion in der passenden Situation an meine Worte erinnert und sich deshalb von der Situation, mit der er konfrontiert ist, nicht einschüchtern lässt“, sagte Cus. „Die Lektion über die Angst lautet ungefähr so: Alle Menschen haben Angst. Angst zu haben ist eine ganz normale, gesunde Sache. Wenn jemand keine Angst hätte, müsste ich ihn zu einem Psychiater schicken, um herauszufinden, was mit ihm nicht stimmt. Die Natur gab uns die Angst, um zu überleben. Und natürlich ist die Angst unser bester Freund. Ohne die Angst würden wir alle sterben, wir würden vielleicht einen Fehler machen oder etwas völlig Dummes tun, was unseren Tod verursachen oder uns zum Krüppel machen könnte. Aber Angst ist auch etwas, was kontrolliert werden muss. Ich vergleiche sie immer mit dem Feuer. Angst muss, wie ein Feuer, beherrscht werden, denn wenn sie einmal außer Kontrolle gerät, kann sie wie ein Feuer alles um dich herum zerstören, alles, nicht nur den einzelnen Menschen. Aber wenn du die Angst wie ein Feuer kontrollierst, kann sie dir zugutekommen. Ohne Feuer hätten wir nicht die Zivilisation, die wir heute als selbstverständlich betrachten. Aber der Kämpfer, der seine Angst beherrscht, kann in einer Weise funktionieren, zu der er vorher nicht ansatzweise fähig war. Egal, wie hässlich ein Mensch ist, egal, ob er badet oder nicht – wenn er mein Leben rettet, wenn er immer da ist, wenn ich in Schwierigkeiten stecke, dann vergesse ich, wie abstoßend er äußerlich ist. Ich sehe ihn als meinen Freund und akzeptiere ihn als solchen. Nun, das ist die Bedeutung von Angst. Die Angst ist dein Freund, und die Natur gab uns die Angst, damit wir überleben. Ich ziehe gern das Beispiel eines Hirsches heran, der eine Lichtung überquert und in den Wald geht. Sein Instinkt sagt ihm, dass in den Bäumen Gefahr lauert, vielleicht in Form eines Berglöwen. In dem Moment schütten die Nebennieren Adrenalin in den Blutkreislauf aus, das Herz schlägt schneller und befähigt so den Hirsch zu Höchstleistungen. Mit dem ersten Sprung springt er zehn, zwölf Meter weit [ein Hirsch kann das], was ausreicht, um der unmittelbaren Gefahr zu entkommen, und die angeborene Schnelligkeit, die ihm die Natur mitgegeben hat, ist seine Rettung. Nun, wir als Menschen unterdrücken meiner Meinung nach diese Qualitäten, dennoch schlummern sie in uns. Wir leben in einer zivilisierten Umgebung. Werden wir aber mit einer Situation konfrontiert, in der uns die Intuition eine bestehende Gefahr signalisiert, kommen die Instinkte, die uns die Natur zum Überleben gegeben hat, zum Vorschein. Wenn wir dann nicht in Panik ausbrechen, sondern diese Instinkte unter Kontrolle haben, können wir sie nutzen. Dann werden sie uns nicht nur unmittelbar helfen zu überleben, sondern uns durch dauerhaften Erfolg eine starke Sicherheit geben und ein Fundament, das so kraftvoll ist, dass wir uns mit der Zeit in der Lage sehen, mit nahezu allem fertigzuwerden.“

„Also sagen Sie Ihrem Boxer, dass die Angst, die er vor jedem Kampf empfindet, normal und gesund ist, und er sich darüber keine Sorgen machen soll?“, fragte Jimmy.

„Nicht nur das, ich sage ihnen auch vor jedem Kampf, was sie an Erfahrungen sammeln werden. Er wird in der Nacht vor seinem ersten Kampf – sagen wir, es ist ein Amateurkampf – nicht schlafen können. Ich sage ihm: ‚Wenn du am Morgen aufwachst, wirst du denken: Wie in aller Welt soll ich denn kämpfen? Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen.‘ Das Einzige, was ich ihm zum Trost sagen kann, ist, dass es seinem Gegner genauso geht. Und so ist es eigentlich ein gerechter Kampf. Zweitens, wenn er sich in seine Ecke stellt und über den Ring hinweg seinen Gegner ansieht, wird dieser Kerl die größte und stärkste Person der Welt sein. Wenn er in der Ecke steht und Lockerungsübungen macht, wird dieser Kerl genauso wie die meisten erfahrenen Kämpfer aussehen, obwohl es sein allererster Kampf ist. In der Fantasie wird der Gegner übermächtig. Aber wenn er sich an die Dinge erinnert, die ich ihm sage, weiß er, dass genau das passieren wird, und dann wird er darüberstehen. Und wenn er das weiß und das auch versteht und sich dieser Situation so stellt, wie ich es ihm lange bevor er in den Ring stieg erklärt habe, ist sein Gegner weniger einschüchternd. Hoffentlich werden ihn einige meiner Worte in diesem Zustand der Angst erreichen, bevor die Glocke läutet.“

Cus hat etwas aus seiner Zeit in der Army mitgenommen. Ihm wurde ein Taschenbuch mit dem Titel Psychologie für den Kämpfer: Was du über dich selbst und andere wissen musst zum Lesen ausgehändigt. Es wurde vom National Research Council’s Emergency Committee on Psychology herausgegeben. Einige der führenden Psychologen Amerikas hatten ihren Teil dazu beigetragen, darunter Gordon Allport und E. G. Boring von der Harvard University. Das Buch konzentrierte sich auf das Seelenleben eines stinknormalen GIs, nicht auf das der ranghöheren Offiziere, und es war voll von konkreten Informationen darüber, wie man die Moral steigern kann und sich an das Leben in der Army am besten anpasst.

Das Buch enthielt auch eine offene Diskussion über die Angst. Wenn man es liest, erkennt man, wie es Cus dabei half, seine Theorien über die Angst und die Bedeutung traumatischer Kindheitserfahrungen zu verfeinern. „Die mentalen Gewohnheiten in der Kindheit ziehen sich für gewöhnlich in mehr oder weniger verkleideter Form durch das ganze Leben. Das ist manchmal gut und manchmal weniger gut für den Erwachsenen, je nachdem, was für eine Kindheit er hatte.“ Im neunten Kapitel sprechen die Autoren darüber, dass der Erwerb einer Routine zum Lernerfolg beiträgt. „Keine Handlung wird allein dadurch automatisiert, dass man ihren Ablauf in der Theorie lernt, ohne sie tatsächlich zu üben. Durch die wiederholte Bedienung einer Maschine oder eines Gewehres wird diese Handlung zur Gewohnheit und fast mechanisch ausgeführt.“ Das bildete die Basis von Cus’ Überzeugung, dass das Boxen am besten durch ständige Wiederholungen erlernt werden kann. Und es spiegelt sich auch in Cus’ Trainingsinnovation mit dem „Willie Bag“ wieder, auf die ich später noch eingehen werde.

Cus ließ diese Unterrichtseinheiten nie theoretisch erscheinen. Er brachte immer seine eigene Lebenserfahrung mit ein und erzählte seinen Schülern, dass auch er seine Erfahrung mit der Angst gemacht hatte. Als er ungefähr vierzehn war, gab es einen Mann in der Bronx, der sich an einsamen Orten versteckt hielt und plötzlich hervorsprang und Leute angriff. Die Zeitungen nannten ihn den Gorilla-Mann. Eines Abends war Cus noch spät unterwegs und er entschied sich, eine Abkürzung über ein verlassenes Grundstück zu nehmen, auf dem das Gras so hoch stand, dass es ihm fast über den Kopf wuchs. Er ging den Weg entlang und sah auf einmal vor sich eine düstere Gestalt. Sie sah aus wie ein Riese mit ausgebreiteten Armen, bereit zum Angriff. Cus war sicher, dass es der Gorilla-Mann war. Sein erster Impuls war, einfach wegzurennen, aber dann beherrschte er sich doch. „Wenn ich jetzt losrenne, werde ich nie mehr fähig sein, diese Abkürzung zu nehmen“, dachte er. Deshalb stellte er sich seiner Angst und marschierte weiter. Und der „Gorilla-Mann“ war nur ein Baum, dessen Äste abgeschnitten waren. In der Dunkelheit sah seine Silhouette aus wie die eines Gorillas. Cus sagte, dies sei der Beweis dafür, dass nichts so schlimm ist wie in der Fantasie. Von da an sagte er sich jedes Mal, wenn er in seinem Leben mit Schwierigkeiten konfrontiert wurde: „Es ist nur ein Baum auf meinem Weg.“

Als Cus zwanzig war, hatte er seinen ersten Kampf in einer Sporthalle. Er hing in der Halle ab und schlug gegen die Sandsäcke, was einen anwesenden Manager sehr beeindruckte. Er fragte Cus, ob er boxen wolle. Dann ließ er ihn mit Baby Arizmendi in den Ring steigen, einem mexikanischen Boxer, der in dieser Sporthalle trainierte. Arizmendi hatte den großen Henry Armstrong zweimal geschlagen! „Während ich wartete, machte ich zum ersten Mal in meinem Leben Erfahrungen mit der Angst im Ring“, erzählte Cus einem Reporter. „Ich verstand damals nicht, was diese Gefühle in mir weckte. Mein Herz pochte. Vielleicht war es Angst, dachte ich, war mir aber nicht sicher. In diesen Ring zu steigen war wie der Gang auf den elektrischen Stuhl.“

Arizmendi schlug nach allen Regeln der Kunst auf Cus ein, brach ihm die Nase und verpasste ihm eine Gerade, die sein gesundes Auge zuschwellen ließ. Als er Cus fragte, ob er bereit für eine zweite Runde wäre, stellte der sich seiner Angst und sie boxten weiter. Am Ende kam Baby zu Cus herüber. „Was für ein zäher Affe du bist!“, beglückwünschte er ihn. Es war die Anerkennung dafür, dass Cus gelernt hatte, seine Angst zu besiegen. Cus machte seinen Boxern am Beispiel dieses Erlebnisses klar, dass sie sich niemals dafür schämen mussten, Angst zu haben, dass es normal war, Furcht zu empfinden.

Cus erzählte mir, dass er in all den Jahren im Boxgeschäft nur zwei Boxer gesehen hätte, die völlig furchtlos waren. Der erste war ein Taubstummer, den Cus managte und der regelmäßig fürchterlich verdroschen wurde. Der andere Kerl war ein jüdischer Boxer namens Artie Diamond. Diamond war an seinem ersten Tag als Zeitungsverkäufer entdeckt worden, als er einen älteren Mann zusammenschlug, der die Ecke als Standplatz hatte, die Artie haben wollte. Nach einem Abstecher in die Navy kam Artie zurück und begann unter Cus zu trainieren. Dass Artie kein normaler Bursche war, wurde Cus bewusst, als der Typ sich zu seinem ersten Amateurkampf auf den Weg in den Ring machte. „Ich steige in den Ring und halte das Seil nach unten. Plötzlich höre ich einen Hund knurren“, erzählte Cus einem seiner Schüler. „Ich frage mich: Wer zum Teufel hat hier einen Hund? Und ich schaue mich um und sehe Artie unter dem Seil hindurchschlüpfen, knurrend, mit Schaum vor dem Mund.“ Die Glocke ertönte und Artie stürmte auf seinen Gegner los und schlug wie wild auf ihn ein.

„Artie wurde auch verprügelt und bewies, dass er keine Angst hatte“, sagte Cus. „Nicht, dass er ein Macho gewesen wäre. Er war einfach ein Verrückter.“ Trotz einer 18:2-Amateurbilanz, inklusive fünfzehn ordentlicher K. o.s, zwang Cus Artie dazu, sich nach einigen Jahren als Profi mit zweiundzwanzig zur Ruhe zu setzen, weil er zu viele unnötige Strafen kassierte. Ein paar Wochen später klauten Artie und ein paar Freunde in der South Bronx einen gepanzerten Truck. Im Kampf schoss Artie dem Wachmann in den Kopf, sodass dieser sein Leben lang gelähmt blieb. Er wurde zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, von denen er mindestens siebeneinhalb in Sing Sing absitzen musste. An seinem ersten Tag im Gefängnis spazierte Artie durch den Hof und rauchte eine Zigarre, als ein großer schwarzer Häftling auf ihn zukam.

„Hey, komm mal her, du Schönling“, zischte der Schwarze.

Artie konnte nicht glauben, dass er mit ihm redete.

„Weißer Junge, ich rede mit dir.“

„Wie kann ich dir helfen?“, fragte Artie und stellte sich dumm.

Der Schwarze zog Artie zu sich und sagte ihm, er würde einen angenehmen Aufenthalt haben, mit Zigarren und geschmuggelten Lebensmitteln, so viel er wollte – so lange er ihm sexuell zu Diensten sei. Artie nickte zustimmend und nahm den Kopf des Schwarzen in seine Hände. Er beugte sich nach vorne, als wollte er ihm süße Worte ins Ohr flüstern. Doch dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus und biss ihm ein großes Stück von seinem Ohr ab. Als der Schwarze schmerzerfüllt davonrannte, sah Artie gelassen auf sein breites Publikum im Hof, spuckte Stücke des Ohrs aus und knurrte. Jahre später sollte Artie sagen: „Alle saßen lachend da, und ich drehte mich um und spuckte sie damit an. Das ist das Einzige, was ich in meinem Leben bereue. Ich hätte es kauen und hinunterschlucken sollen, um ihnen zu zeigen, wie böse ich wirklich war.“

Artie kam für einen Monat in den Bau und an dem Tag, als er rauskam, fragte er herum, um herauszufinden, wer die Bosse der jeweiligen ethnischen Gruppen im Gefängnis waren. Dann begann er damit, jedem einzelnen von ihnen die Seele aus dem Leib zu prügeln – alles an einem Tag. Acht Jahre später gelang es Cus, Artie aus dem Knast zu holen, und er stellte ihn als José Torres’ Konditionstrainer an. Ich wette, José folgte Artie aufs Wort. Artie machte noch einige Abstecher ins Gefängnis und bekam danach einen Job als Sicherheitschef eines spanischen Nachtclubs. Bei einem Streit mit einem Stammgast kam er durch einen Schuss ins Herz ums Leben. Artie hatte niemals Angst gehabt, „er konnte auf gar keine andere Weise sterben“, sagte Cus.

Cus lernte bei jenem ersten Kampf gegen den großen Mexikaner Arizmendi nicht nur, seine Angst zu besiegen, sondern machte auch eine sehr ungewöhnliche Erfahrung. Während der zweiten Runde dieses Sparrings hatte Cus plötzlich ein „Bild im Kopf“, wie er es nannte. Er sah sich zur Seite ausweichen und Baby einen Aufwärtshaken direkt aufs Kinn zu verpassen. Er war mitten im Kampf völlig losgelöst von seinem Körper. Er wurde immun gegen die Schläge, die Arizmendi ihm verpasste, so als ob sie jemand anderen treffen würden. Es war, als würden seine Gedanken jemand anderen im Ring leiten. Cus erzählte mir von einer weiteren außerkörperlichen Erfahrung, die er gemacht hatte: Er lag in seinem Bett und plötzlich war ihm, als würde er an der Decke schweben und auf sich selbst herabblicken.

Durch diese Erfahrungen wurde Cus klar, das es ein Schlüsselelement für den Erfolg eines Boxers ist, intuitiv und unpersönlich zu handeln und befreit von der Last seiner Emotionen in den Ring zu steigen. Es reichte nicht aus, nur wachsam zu sein wie seine taubstummen Boxer, die nicht von Geräuschen abgelenkt wurden. Wichtiger war es, einen intuitiven Sinn dafür zu entwickeln, was der Gegner tun würde. Wenn du einen Sekundenbruchteil vorher weißt, dass ein Schlag deines Gegners kommen wird, dann kannst du fast beiläufig reagieren. Du fängst an, dich zu bewegen, und der Hieb wird dich verfehlen. Bei Cus ging es immer darum, das zu vermitteln, was du vermitteln möchtest. Du musst immer als das erscheinen, was dein Gegner niemals sein kann. Du musst die Regeln aufstellen. Es ging darum, den Gegner psychologisch fertigzumachen, den Feind zu verwirren.

Immer wenn Cus über all das mit mir sprach, betonte er, dass das, was er mit „intuitiv denken“ meinte, das unbewusste Handeln war. Intuitives Denken ist frei von emotionalen Beeinträchtigungen. Du wirst zu einem Roboter oder einem Computer. Wie es in diesem Werbespot von Nike so schön heißt: Mach es einfach. Oder wie Cus immer sagte: Der Körper kennt Dinge, von denen der Kopf nicht weiß, dass er sie kennt. Du musst es in einem Sekundenbruchteil tun – du hast keine Chance, darüber nachzudenken. Wenn du es dennoch tust, beziehst du Prügel.

Jahre nachdem Cus diese Theorie der Kontrolle von Emotionen und des Erreichens des intuitiven Zustands entwickelt hatte, sprach er eines Tages mit Norman Mailer darüber, in Mailers Haus in Stockbridge. Cus schilderte diese Unterhaltung einem Mailer-Biografen. „Wir unterhielten uns länger und wohl auch intensiver als zuvor über die Gedanken und Emotionen beim Boxen. Ich gab ihm meine Definition eines richtigen Profis: ein Mann, der vollkommen unpersönlich sein kann, der seinen Emotionen nicht erlaubt, sich an dem, was er tut, zu beteiligen, der dazu fähig ist, konstant objektiv zu sein. Ich möchte nicht mit jedem über diese Dinge sprechen, sonst sagen die Leute: ‚Das ist doch nur ein Spinner‘, aber mit einem Menschen wie Norman ist das okay. Und während wir redeten, entschuldigte er sich plötzlich und kam mit einem Buch zurück: Zen in der Kunst des Bogenschießens. Er fragte, ob ich es gelesen hatte, und ich antwortete, dass ich noch nie von Zen gehört hätte. Er sagte: ‚Bist du sicher? Du kennst es vielleicht nicht, aber du praktizierst es.‘ Später, als ich das Buch ein paarmal gelesen hatte, erkannte ich, dass diese Dinge mit meinem Prinzip des Erreichens eines emotionslosen Zustands zusammenhängen. Wir sprachen über Angst, darüber, dass du die Angst beherrschen kannst, wenn du unpersönlich wirst, sie von deinem Geist und deinem Körper abkoppelst. Durch meine Konzentration spürte ich die Schläge nicht, von denen ich getroffen wurde. Ich war da, aber außerhalb meines Körpers: Ich konnte mich selbst dabei beobachten, wie ich Schläge austeilte, so als würde ich jemand anderen beobachten, und es passierte automatisch, intuitiv.“

Als ich zu Cus kam, benutzte er das Zen-Buch bereits als Teil seines Lehrplans. Cus dachte wohl, das Lesen würde mir mit vierzehn zu schwer fallen, deshalb las er mir vor. Das Buch erzählt von einem deutschen Philosophieprofessor, der in den 1920er-Jahren eine Form des japanischen Bogenschießens erlernte. Schon als mir Cus die Einleitung des Buches von Daisetz Suzuki, einem berühmten Zen-Schüler, vorlas, erkannte ich, dass dies nicht nur Lektionen für das Boxen waren, sondern für das Leben überhaupt.

„Eine der bedeutendsten Eigenschaften der Kunst des Bogenschießens – und auch jeglicher anderer Form von Kunst, wie sie in Japan studiert wird und wohl auch in anderen fernöstlichen Ländern – ist, dass sie nicht nur nützlich ist oder dem puren ästhetischen Genuss dient, sondern auch dazu bestimmt ist, das Gehirn zu trainieren, es in Kontakt zu bringen mit der Realität. Das Bogenschießen wird somit nicht ausschließlich genutzt, um das Zielobjekt zu treffen, der Schwertkämpfer benutzt das Schwert nicht nur, um seinen Gegner zu übertreffen, der Tänzer tanzt nicht nur, um bestimmte rhythmische Bewegungen seines Körpers an den Tag zu legen“, schrieb Mr. Suzuki, „das Gehirn muss zuerst dem Unterbewusstsein angepasst werden. Wenn jemand wirklich ein Meister seiner Kunst sein will, ist technisches Wissen nicht genug. Man muss über die Technik hinausgehen, sodass die Kunst zu einer ‚unverkünstelten Kunst‘ wird, die aus dem Unterbewusstsein kommt. Im Fall des Bogenschießens sind Schütze und Treffer keine gegensätzlichen Dinge, sondern eine Realität. Der Bogenschütze hört auf, sich als jemanden zu betrachten, der damit beschäftigt ist, die Zielscheibe zu treffen. Dieser unbewusste Zustand kann nur hergestellt werden, wenn er, komplett leer und losgelöst von seinem Selbst, eins wird mit der Vervollkommnung seiner technischen Fähigkeit … Zen ist das ‚Alltagsbewusstsein‘ … Der Mensch ist ein denkendes Geschöpf, aber seine besten Arbeiten gelingen ihm, wenn er nicht kalkuliert, nicht überlegt. Das ‚Kindlichsein‘ muss durch lange Jahre des Trainings in der Kunst des Selbstlosen wiederhergestellt werden. Wenn das erreicht ist, überlegt der Mensch nicht mehr. Er denkt wie ein Regenschauer, der vom Himmel fällt, er denkt wie die Wellen, die im Ozean wogen, er denkt wie die Sterne, die den nächtlichen Himmel erleuchten; er denkt wie das grüne Laub, das in der sanften Frühlingsbrise dahinweht. Er ist tatsächlich wie der Regenschauer, der Ozean, die Sterne, das Laub. Wenn ein Mensch dieses Stadium der ‚spirituellen‘ Entwicklung erreicht, dann ist er ein Zen-Lebenskünstler. Er braucht weder Leinwand noch Pinsel und Farbe wie der Maler, noch benötigt er Bogen, Pfeil und Zielscheibe wie der Bogenschütze. Er hat seine Gliedmaßen, Körper, Kopf und weitere Körperteile. Seine Hände und Füße sind die Pinsel und das ganze Universum ist die Leinwand, auf der er sein Leben für siebzig, achtzig oder sogar neunzig Jahre darstellt. Dieses Bild wird ‚Geschichte‘ genannt.“

Cus griff auf eine Vielzahl von Methoden zurück, um diese Theorien umzusetzen. Einmal hatte einer seiner Amateurboxer namens Paul Mangiamele einen erfolgreichen Kampf gehabt und wurde daraufhin ein wenig eingebildet. Er schlug seinen Gegner nieder und sah in seine Ecke hinüber, wo Cus am Ring saß. Er blinzelte und formte lautlos mit den Lippen die Worte „Ich hab’s geschafft“. Als der Kampf vorüber war, gab Cus ihm Saures.

„Mach das nie wieder!“, brüllte er, „du sollst nicht in den Ring steigen und so eine Scheiße veranstalten. Konzentrier dich. Wenn du nicht bei der Sache bist, dann wirst du verletzt werden.“ Das war das letzte Mal, dass Paul etwas Derartiges abzog.

Mein Mitbewohner Frankie Mincelli war vor seinen Kämpfen immer wahnsinnig aufgeregt. Deshalb nutzte Cus eines unserer gemeinsamen Abendessen, um ihn zu beruhigen. „Du musst versuchen, dich komplett zu entspannen, um den Überblick zu behalten. Wenn ein Mensch zu sehr nachdenkt und sich zu große Sorgen darüber macht, dass er verprügelt werden könnte“, sagte Cus, „dann wird er tatsächlich verprügelt. Und dann, wenn du Schläge einsteckst, dann must du am gelassensten sein. Ein professioneller Boxer muss lernen, zuzuschlagen und nicht geschlagen zu werden, und gleichzeitig aufmerksam sein.“

Cus gab mir regelmäßig Unterricht darin, außerkörperliche Erfahrungen zu machen. Wenn ich vor dem Fernseher saß, kam er und sagte: „Lass uns eine Session machen.“ Er setzte sich neben mich und sagte dann: „Komm aus dir heraus. Konzentrier dich. Entspann dich, bis du siehst, wie du dich von außen betrachtest. Sag mir, wenn du dort angekommen bist.“

Für mich war sehr wichtig, zu lernen, wie man sich von seinen Gefühlen löst. Es ist, als ob du dir selbst beibringst, ein professioneller Lügner zu sein. Immer wenn ich mich im Ring nicht von meinen Emotionen lösen kann, komme ich mir schäbig vor. Ich bin zu emotional da draußen. Ich werde möglicherweise einem Typen einen harten Punch verpassen und Angst bekommen, wenn er nicht k. o. geht. Deshalb war das Lernen der Zen-Distanziertheit definitiv lebenswichtig für mich.

Für Cus waren die Beherrschung der Angst und das Sich-Lösen von seinen Gefühle im Ring von größter Wichtigkeit; darüber hinaus vertraute er auch sehr auf die Stärkung des Selbstbewusstseins durch die Kraft der Gedanken. Er war ein Verfechter des positiven Denkens, der Nutzung von Affirmationen zur täglichen Stärkung des Selbstbewusstseins.

Kurz vor dem Ende der Wirtschaftskrise gab es zwei Autoren, die darüber schrieben, wie du positives Denken einsetzen kannst, um im Leben Erfolg zu haben. 1936 schrieb Dale Carnegie einen Bestseller mit dem Titel Wie man Freunde gewinnt – Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden. Ein Jahr später schrieb ein Typ namens Napoleon Hill ein Selbsthilfebuch mit dem Titel Denke nach und werde reich. In den frühen Fünfzigern schrieb Dr. Norman Vincent Peale einen Weltbestseller, in dem er eine christliche Version des positiven Denkens vertrat, mit dem Titel Die Kraft positiven Denkens. Aber Cus hielt nicht viel von diesen Typen. Er glaubte, dass jedes positive Denken aus dem Unterbewusstsein kommen müsse, so wie bei den Zen-Bogenschieß-Übungen.

Cus hatte ein Buch mit dem Titel Die Selbstbemeisterung durch bewusste Autosuggestion ausgegraben, das 1922 in den Vereinigten Staaten von einem französischen Pharmazeuten namens Émile Coué veröffentlicht worden war. Es war klar, warum Cus diesen Typen liebte. Coué war brillant: Er führte seine Apotheke von 1882 bis 1910, dann eröffnete er eine Klinik, in der er Menschen durch positive Autosuggestion kostenlos behandelte. Als Apotheker hatte er gesehen, wie der Placebo-Effekt auf einige seiner Kunden wirkte, und so kam er auf den Gedanken, dass eine regelmäße Selbstbestärkung dasselbe bewirken konnte. „Ich habe niemals in meinem Leben jemanden geheilt. Alles was ich mache, ist, Leuten zu zeigen, wie sie sich selbst heilen können“, sagte er.

Coué war der Meinung, dass, um Krankheiten zu heilen, die Vorstellungskraft einer Person geweckt und gelenkt werden müsse. „Sie besitzen eine unbegrenzte Macht: den Geist. Er wirkt umgestaltend auf das Körperliche ein, wenn man ihn zu beherrschen weiß. Die Vorstellungskraft gleicht einem Pferd ohne Zaum und Zügel; wenn Sie so ein Tier vor ihren Wagen spannen, kann es alle möglichen Dummheiten, auch lebensgefährliche, anstellen. Aber wenn es richtig angeschirrt ist, brauchen Sie es nur mit sicherer Hand zu lenken, und es geht, wohin Sie wollen. Ganz so verhält sich auch der Geist, die Vorstellungskraft. Uns zum Heil müssen wir sie lenken.“ Das klingt sehr nach dem, was Cus über die Angst zu sagen pflegte.

Du kannst deine Vorstellungskraft durch die Wiederholung eines einfachen Satzes lenken: „‚JEDEN TAG WERDE ICH IN ALLEM IMMER BESSER.‘ Diese Formel muss mit leiser monotoner Stimme, wie beim Rezitieren einer Litanei, wiederholt werden (die Augen geschlossen, den Körper in entspannter Haltung – im Bett oder auf einem bequemen Stuhl). Die Worte müssen zwanzigmal wiederholt werden, morgens und abends. Du kannst dir dazu eine Schnur mit zwanzig Knoten zuhilfe nehmen, die dir das Zählen erleichtert, wie ein Rosenkranz. Dieses Hilfsmittel ist notwendig; es hilft dir beim mechanischen Wiederholen, was äußerst wichtig ist. Während du diese Worte aussprichst, die vom Unterbewusstsein aufgenommen werden, darfst du an nichts Bestimmtes denken, weder an deine Krankheit noch an deine Probleme. Du musst nur passiv bleiben, nur mit dem einen Wunsch, dass sich alles zum Guten wenden wird; die Formel tut in jeder Hinsicht ihr Übriges. Deine Wünsche sollten sich leidenschaftslos zum Ausdruck bringen, dezent und ohne Willenskraft, jedoch mit absolutem Glauben und Zuversicht … Die Willenskraft muss in diesem Moment nicht trainiert werden! Es muss nur die Vorstellungskraft ins Spiel kommen; sie allein ist die motivierende Kraft, aktiver als die Willenskraft, die normalerweise sehr fordernd ist. Hab Vertrauen in dich selbst … Glaub fest daran, dass alles gut werden wird. Autosuggestion bedeutet das Einpflanzen einer Vorstellung in einen selbst, durch sich selbst … Autosuggestion ist nichts anderes als Hypnose und wird bestimmt durch den Einfluss der Vorstellungskraft auf der seelischen und körperlichen Ebene eines Menschen. DIE WILLENSKRAFT DARF BEIM PRAKTIZIEREN DER AUTOSUGGESTION NICHT INS SPIEL GEBRACHT WERDEN, denn sie steht nicht im Einklang mit der Vorstellungskraft … Der Schlüssel zu meiner Methode ist das Wissen, dass die Vorstellungskraft der Willenskraft überlegen ist. Wenn beide in dieselbe Richtung gehen, wie zum Beispiel: ‚Ich will und ich kann‘, sind sie miteinander perfekt im Einklang; ansonsten wird die Vorstellungskraft immer der Willenskraft überlegen sein … Wir besitzen in uns eine unberechenbare Kraft, die nachteilig für uns ist, wenn wir unbewusst handeln. Wenn wir sie hingegen in ein bewusstes und vernünftiges Verhalten lenken, gibt sie uns Selbstbeherrschung und ermöglicht uns, uns nicht nur vor körperlichen und seelischen Krankheiten und Beschwerden zu schützen, sondern auch anderen zu helfen und unter allen Bedingungen ein verhältnismäßig glückliches Leben zu führen.“

Sobald ich bei Cus eingezogen war, begann ich mit den Affirmationen. „Tag für Tag werde ich in jeder Hinsicht besser und besser. Tag für Tag, in jeder Hinsicht …“ – das war Cus’ englische Übersetzung von Coués Satz.

Coué bestand darauf, dass ein Elternteil sein Kind möglichst früh im Leben auf diesen Weg bringen sollte. „Die Eltern sollten warten, bis das Kind eingeschlafen ist, dann sollte der Vater oder die Mutter leise das Zimmer betreten, sich dem Bett nähern und dem Kind zwanzig Mal all die Dinge zuflüstern, die es tun soll oder wie es sich in Bezug auf Gesundheit, Schlaf, Arbeit, Fleiß, Benehmen und so weiter verhalten soll, und sich dann so leise wie möglich wieder zurückziehen, immer darauf bedacht, das Kind nicht zu wecken … Wenn das Kind schläft, befinden sich sein Körper und sein Bewusstsein in der Ruhephase, aber sein Unterbewusstsein ist hellwach. Du sprichst somit alleine zu Letzterem und, da es sehr vertrauensselig ist, nimmt es ohne Widerrede all das an, was du sagst, und nach und nach wird das Kind zu dem, was die Eltern sich wünschen“, schrieb Coué. Und genau das tat Cus! Er kam in mein Zimmer, als ich gerade eingeschlafen war, und wiederholte wieder und wieder seine Affirmationen.

Coué verbrachte sein Leben damit, seine Patienten mit seinen Affirmationen zu heilen. Aber Cus benutzte sie dazu, um das Selbstvertrauen seiner Boxer aufzubauen. Ich sprach meinen Satz den ganzen Tag lang. Ich liebte es, mich über mich selbst reden zu hören. Cus sagte immer: „Stell dir einen Typen mit besten Erfolgsaussichten, wunderschönem Körper, wunderschönem Aussehen, großartigem Sex-Appeal vor; alles ist perfekt. Aber wenn du ihm das Selbstvertrauen nimmst und ihn so ins Leben entlässt, wird er scheitern. Stell dir auf der anderen Seite jemanden vor, der nichts hat, absolut nichts, und gib ihm Selbstvertrauen und wirf ihn in die Welt hinaus, dann wird er erfolgreich sein. Selbstvertrauen führt zu Erfolg und Erfolg zu Selbstvertrauen. Richtig eingesetztes Selbstvertrauen kann an die Stelle von Genialität treten.“ Ich bin sicher, dass ich deshalb manche Probleme jetzt richtig anpacke. Cus brachte mich dazu, zu denken, ich wäre Gott.

Cus war nicht der erste Manager, der begriff, wie wichtig Selbstvertrauen ist, wenn es darum geht, einen Boxer aufzubauen. Jack Dempsey wurde von Jack „Doc“ Kearns gemanagt, einem Gauner und Betrüger. Mit „Betrüger“ meine ich einen Schwindler, der sich dein Vertrauen erschleicht und dich dann abzockt. Kearns sah die Zerbrechlichkeit von Dempseys Ego und gab sich große Mühe, es zu stärken. „Wenn Kearns sagte, ich könne einen Eisbären schlagen, wusste ich, dass es stimmte. So beeinflusste mich Kearns damals“, sagte Dempsey später, „ich hatte Talent, das weiß ich. Aber ich hatte auch das größte Selbstvertrauen, das ein Mensch haben konnte. Ich bekam es durch Doc Kearns.“

Cus hörte nicht auf mit den Affirmationen. Er pflasterte die Wände unserer Sporthalle mit aufbauenden Sprüchen und Gedichten zu. Eines davon war ein Gedicht mit dem Titel „Gib nicht auf.“ Es hieß ursprünglich „Mach weiter“ und wurde dem Dichter Edgar Guest zugeschrieben, einem der ersten Autoren, die in Amerika gleichzeitig für mehrere Zeitungen schrieben. Er hatte eine Wohlfühl-Kolumne, den „Frühstücks-Chat“, und am 3. März 1921 veröffentlichte er dieses Gedicht. Es handelt davon, dass man niemals aufgeben soll, egal, wie übel einem das Leben gerade mitspielt, weil man manchmal gar nicht weiß, wie nahe man seinem Ziel war, das man erreicht hätte, wenn man nur weitergemacht hätte. Im letzten Vers hieß es:

„Kämpfe weiter, auch wenn du bekamst den härtesten Schlag,

Gib niemals auf, erst recht nicht an deinem schlimmsten Tag.“

Cus gab sich größte Mühe, meine Psyche zu stärken. „Dein Verstand ist nicht dein Freund, das weißt du doch, oder?“, sagte er. „Du musst mit deinem Kopf kämpfen, du musst ihn zurechtrücken.“ Für Cus war der Verstand einer Person ein Muskel. Je mehr du ihn trainierst, desto stärker wird er. Er sagte auch, dass dir dein Verstand ständig Streiche spielt. Ein Kerl kann noch so gut in Form sein, aber wenn er nicht kämpfen will oder Angst vor seinem Gegner hat, wird er sich selbst davon überzeugen, dass er nicht mehr kann, und sich an geeigneter Stelle auf den Ringboden legen.

Cus sagte immer, anhand von Beispielen ließe sich am besten unterrichten. Und ein Beispiel gab er selbst, indem er sich mit dem grauen Star in seinem kranken Auge beschäftigte. Jeden Tag machte er seine Affirmationen und konzentrierte sich darauf, sein Auge zu heilen. Dann deckte er sein gesundes Auge zu und sagte: „Ich kann gewisse Dinge sehen. Es wird besser.“ Cus war total gegen herkömmliche Medizin. Er stimmte Coué zu, dass der Verstand jede Krankheit heilen könne.

Der Schlüssel zur Beherrschung seines Verstandes lag für Cus darin, einen starken Sinn für Disziplin zu entwickeln. Er sagte, Disziplin bedeute, „etwas, was du hasst, so zu tun, als würdest du es lieben.“ Er war wie ein Mönch! Das muss der Grund dafür sein, warum ich heute so verrückt danach bin, mein Leben so zu leben, meine Wünsche zu unterdrücken – nur Work-out und wichsen. Mann. Wenn du dieses Level der Disziplin erreichst, dann wärst du in Cus’ Augen ein Profi. Es war schon faszinierend, einer Unterhaltung zwischen Cus und Muhammad Ali zuzuhören, während sie für eine Show, die Jim Jacobs produzierte, die Definition von „Professionalität“ diskutierten.

Ali: Wir reden über verschiedene Kämpfer und du sagst, Floyd Patterson wäre Profi. Aber werden nicht alle, die für ein Gehalt arbeiten oder mit Boxen Geld verdienen, als Profis betrachtet?

Cus: Nun, sie mögen vielleicht als Profis betrachtet werden, aber ich glaube nicht daran. Der Durchschnittsmensch assoziiert Professionalität mit Verlässlichkeit: Wenn er ein guter Kämpfer ist, Qualitäten hat, ist er ein Profi, diese Person kämpft für Geld. Aber meine Meinung über einen Profi ist vollkommen anders. Ich glaube, ein Mensch ist ein Profi, wenn es ihm gelingt, Dinge zu tun, die getan werden müssen, um das Ziel, das er sich gesteckt hat, zu erreichen, beim Boxen oder in anderer Hinsicht. Wenn ich in den Ring steige, um mit dir zu kämpfen, und Angst vor dir habe, werde ich dich dennoch schlagen, sofern ich die Disziplin habe, das zu tun, was meine Intelligenz, meine Erfahrung und mein Training mich gelehrt haben, ungeachtet dessen, wie ich mich innen drin fühle. Das verlangt Disziplin, und die Art von Disziplin, die ich gerade beschrieben habe, ist die, die einen Profi ausmacht. Solange ein Mensch das tun kann, was von ihm verlangt wird, ungeachtet dessen, wie er sich innen drin fühlt, ist dieser Mensch ein Profi in allem, was er tut.

Ali: Würdest du mich als Profi betrachten?

Cus: Nun, ich denke, du wurdest an dem Abend zum Profi, als du gegen Chuvalo gekämpft hast. Das ist meine Meinung.

Ali: Du meinst, all die Kämpfe gegen Sonny Liston, gegen Floyd Patterson und die bei den Olympischen Spielen hätten mich nicht zum Profi gemacht?

Cus: Ganz bestimmt nicht. Aber ich werde dir sagen, warum ich denke, dass du an diesem Abend zum Profi wurdest. An diesem Abend hast du bewusst Faustschläge eingesteckt, ohne mit der Wimper zu zucken, was auf eine hoch entwickelte Disziplin hindeutet. Du hast nicht auf die Art reagiert, wie du normalerweise reagiert hättest. Du hat genau das getan, was du tun wolltest, ohne Rücksicht auf die Auswirkung auf deinen Körper.

Cus glaubte außerdem fest an die kreative Visualisierung. Eine Person, die danach trachtet, ein Champion zu werden, sollte zu der Persönlichkeit werden, die er gerne sein würde. Wenn ich ein Champion im Schwergewicht werden wollte, musste ich anfangen, das Leben eines Schwergewicht-Champions zu leben, auch wenn ich erst vierzehn Jahre alt war. Ja, im Geiste war ich mit vierzehn ein Champion, weil ich das Leben eines Boxchampions lebte! Ich trainierte jeden Tag hart und dachte wie ein römischer Gladiator. Cus sagte mir, ich sollte wie im Kriegszustand leben, dabei aber immer ruhig und entspannt bleiben – damit die Leute es nicht mitbekamen, denn man verhält sich nicht so, als ob Krieg ausgebrochen wäre, wenn es keinen Krieg gibt. Gleichzeitig warnte mich Cus immer davor, zu ruhig und selbstbewusst zu sein. „Je großartiger der Einzelne ist, desto unsicherer ist er“, erzählte er mir. Sicherheit bedeutet Tod. „Wenn ein Mensch sich in seiner Position sicher fühlt, dann ist er in der Position, seine Position zu verlieren.“ Cus war so tiefsinnig.

Cus brachte uns allen bei, unseren Verstand zu trainieren, aber hin und wieder erzählte er davon, bis zu welchem Ausmaß er fähig war, seinen eigenen Verstand zu trainieren. Manches davon war etwas abgehoben. Er sagte mir immer, er wisse besser, was ich denke, als ich selbst. Er sagte auch, er könne sehen, wie sich die Rädchen im Kopf eines jeden drehen, wenn er ihn nur gut genug kannte. Für ihn war das wie ein Pokerspiel am Wochenende. Nach ein paar Spielen konnte er von jedem Spieler sagen, was er dachte, auch wenn der Betreffende versuchte, es vor Cus zu verbergen; er verriet sich durch die Art, wie er spielte und setzte. Wenn Cus mit Boxern arbeitete, die er schon lange genug kannte, um zu wissen, wie ihr Verstand arbeitete, versetzte er sich in einen außerkörperlichen Zustand und hatte ein genaues Bild davon im Kopf, wie jeder Boxer auf eine bestimmte Situation reagierte. Er sah, wie sich die Rädchen im Kopf drehten, und es war, als wäre er im Kopf seines Boxers! Da muss man sich mal geben, Mann.

Aber Cus ging noch weiter mit seinem Schwarze-Magie-Zeug. Als er seine Sporthalle in der vierzehnten Straße hatte, nahm er sein Fernglas, sah aus dem Fenster und wählte willkürlich jemanden aus, der unten auf dem Gehsteig entlang spazierte. Dann gab er ihm, wie er es nannte, „den Blick“. Mit der Kraft seiner Gedanken konnte er den Typen dazu bringen, anzuhalten, sich umzusehen, die Straße zu überqueren, was auch immer er wollte. Er praktizierte Telepathie. Ich habe tatsächlich gesehen, wie er diese Scheiße machte. Cus war ein sehr heller Kopf. Er wollte wissen, warum Leute gerade dann hereinschneiten, wenn man an sie dachte. Und er wollte die Fähigkeit erlangen, diese Verbindung jederzeit absichtlich herzustellen.

Cus behauptete sogar, er könne die Hiebe seiner Boxer telepathisch steuern. Er erzählte Al Caruso von einem Rocky-Graziano-Kampf, bei dem Grazianos Mutter, Bruder und Schwester im Publikum waren. Rockys Gegner war bereits nach dem ersten Treffer, den er einsteckte, angeschlagen. Aber als die Runde zu Ende war, ging Rocky in seine Ecke und wollte den Kampf beenden. Er hatte kein Selbstvertrauen. Cus wusste, mit den Verwandten im Publikum würde Rocky weiterkämpfen, wenn er ihn zurück in den Ring schob. Der Kampf ging in die zweite Runde, und Rocky schickte den Typen zweimal kurzzeitig auf die Bretter. Aber auch nach dieser Runde ging Rocky in seine Ecke und sagte: „Cus, ich kann das nicht. Ich bin zu müde. Ich will aufhören.“ Und Cus sagte: „Geh wieder rein, zum Teufel“, und stieß ihn wieder zurück in den Ring. Aber er sah, dass Rocky zu zaghaft war, um ordentliche Fausthiebe auszuteilen, deshalb benutzte er seine Willenskraft und brachte ihn dazu, seine Rechte einzusetzen – worauf sein Gegner k. o. ging.

Ich fand es seltsam, dass ein Mann, der so davon überzeugt war, dass jeder sein Schicksal beeinflussen konnte, wenn er an seinem Verstand arbeitete, an Astrologie glaubte. Cus war der festen Ansicht, er könne anhand deines Sternzeichens sehen, ob du ein guter Boxer wirst. Einmal brachte Al Caruso einen Freund mit ins Gramercy und Cus fragte ihn direkt nach seinem Sternzeichen. „Zwilling“, sagte der Typ. „Und, was machst du beruflich?“, fragte Cus. „Ich bin Schreiner“, antwortete der Typ. „Dann geh und bleib Schreiner“, sagte Cus und ging. Auch dem kanadischen Halbmittelgewichtsboxer Matthew Hilton warf er die Frage hin. „Ich bin Steinbock“, sagte Matthew. „Du wirst Champion werden“, prophezeite ihm Cus – und er behielt recht. Ich bestand Cus’ Test. Ich bin Krebs, und es gab nur drei Sternzeichen, unter denen jeder Champion im Schwergewicht geboren wurde. Krebs war eines davon.

Eine weitere Ironie lag darin, dass Cus, dem es ständig um Angstbeherrschung ging, bekannt für seine Flugangst war. Wann immer er zu einem meiner Turniere kommen musste, fuhr er mit dem Zug. Aber er hatte immer sehr gute Erklärungen, wenn die Jungs ihn mit seiner Flugangst aufzogen. „Schau, Cus, wenn deine Zeit um ist, dann ist deine Zeit um“, sagte mein Mitbewohner Tom Patti einmal.

Cus lächelte nur. „Ja, aber wenn die Zeit des Piloten um ist, dann gehen wir alle.“

Eiserner Wille

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