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Holly „I trust him without knowing I can. I just do.“

Miami, 03.03.2017

Der Himmel war hellblau mit weißen Wolken, wie aus einem Bilderbuch für Kinder. Die Sonne schien sie mit ihren warmen Strahlen zu locken. Sie hatte die Fenster des Wohnzimmers geschlossen, aber es bestand ohnehin nicht die Gefahr, dass sie hier oben Vogelgezwitscher gehört hätte. Ihre Wohnung lag in Downtown Miami und sie hatte ein 2-Zimmer-Apartment in der vierzehnten Etage eines Hochhauses. Vögel hörte man hier oben nicht mehr.

Holly war einerseits erleichtert darüber, anderseits fühlte sie heute ein besonders starkes Verlangen nach etwas so Friedlichem, wie Vogelgezwitscher. Friedlich und schön. Sie redete sich ein, so besser ihr Heimweh in seine Schranken weisen zu können. Das war Quatsch und Holly wusste es auch. Aber sie wollte es glauben. Sie hatte keine andere Wahl, denn sie konnte es sich nicht erlauben, auch nur an zuhause zu denken. An ihre Eltern. An Michael und seine Familie. Er war jetzt Vater, was sie zur Tante machte. Aber Andrew Martin, ihren Neffen, der Anfang Januar zur Welt gekommen war, kannte sie nicht. Holly hatte ihn bisher nicht einmal gesehen. Gleich im Oktober, als sie endlich wieder nach Miami zurückgekommen war, hatte sie ihre Profile auf Facebook und Twitter gelöscht. Paranoide Wahnvorstellungen. So hatte es der Therapeut genannt, den sie einige Wochen lang besucht hatte. Das, was sie erlebt hatte, schien Form eines Traumas zu sein, ausgelöst durch Schock und eventuell verstärkt durch ihren Sturz und die schwere Gehirnerschütterung, die sie erlitten hatte. So lautete seine ärztliche Diagnose. Den gesamten November und auch den Dezember hatte sie damit verbracht, ihn davon zu überzeugen, dass er sich irrte. Dass sie nicht unter Wahnvorstellungen oder paranoiden Angstattacken litt, sondern das in dieser Grabkammer etwas … Übersinnliches passiert sein musste. Im Januar war sie nicht mehr zu ihm gegangen. Denn trotz der Sitzungen verschwanden weder Angstzustände, die Panikattacken und schon gar nicht die Träume. Sie verschwanden nie. Nicht nur des Nachts, sondern zu jeder Sekunde des Tages erinnerte Holly sich. Sie glaubte ihre eigenen schrillen Schreie in den Ohren zu haben und den eisenhaltigen, bitteren Geschmack von Blut auf der Zunge zu spüren. Ein Albtraum, der in Dauerschleife durch ihr Bewusstsein lief und nie endete. Holly zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück. Sie ignorierte die Briefe und Mails ihrer Familie und auch ihre Anrufe. Zu Anfang hatte ihre Familie sich die Mühe gemacht Nachrichten zu hinterlassen. Holly hörte nicht so sehr auf das, was sie sagten. Allein der Klang ihrer Stimmen waren tröstende Streicheleinheiten für ihre Seele. Sie wärmten Holly und verdrängten für Sekunden die eisige Kälte, die seit Oktober statt Blut durch ihren Körper floss. Obwohl sie die tröstenden Streicheleinheiten so nötig gehabt hätte, untersagte sie sich weiterhin jeden Kontakt aus Angst, Unheil über ihre Familie zu bringen. Denn auch wenn sie nicht mehr darüber sprach, konnte Holly nicht vergessen, was wirklich passiert war. Vielleicht war das normal für Menschen, die nicht mehr schliefen, es sei denn die Erschöpfung übermannte sie und ließ sie eindösen. Dann fing sie an zu träumen. Die Träume kamen immer und wenn sie schreiend und vor Angst zitternd erwachte, wusste Holly, dass ihre Erinnerungen wahr waren. Egal was andere Menschen ihr weismachen wollten. Wenn sie wegen der Albträume nicht mehr schlafen konnte, lenkte sie sich meistens mit Fernsehen ab. Sämtliche Serien, die aktuell im Programm liefen, hatte Holly gesehen. Das Genre war ihr egal. Bei den meisten Serien hätte sie sich nicht mal an den Titel erinnert oder worum es wirklich ging. Bei der Hälfte der Sachen, kannte sie nicht mal wirklich die Namen der Charaktere. Das alles war nur Schall und Rauch. Das, was sie sah, verflüchtigte sich wie Nebel in der Sonne. Übrig blieben nur ihre Erinnerungen, die sie von innen auffraßen. Holly wartete auf den Moment, da nichts mehr von ihr übrig war. Was passierte dann mit ihr? Den Februar verbrachte Holly zunächst reglos, wie ein Tier in Todesstarre. Jeden Tag, beinah jede Stunde rechnete sie damit dem Dämon gegenüberzustehen, der sein Werk beenden wollte. Aber natürlich passierte nichts dergleichen. Im Gegenteil. Die Träume ließen nach. Zuerst nur tagsüber. Doch immerhin so lang anhaltend, dass sie dazu in der Lage war, zu duschen, ohne in einen Weinkrampf auszubrechen. Sie konnte auch wieder vor die Tür und einkaufen. Eine Hürde, die noch im Dezember unüberwindbar gewesen war. Sie hatte sich nur noch von Essen ernährt, das geliefert werden konnte. Ihre Rechnungen stapelten sich zwar nicht, aber fast all ihre Ersparnisse und Reserven waren aufgebraucht. Ihr Lebensstil war ebenso zerstörerisch gewesen, wie ihre Ernährung oder ihr Schlafentzug. Aber all das war ihr damals egal. Aus dieser Blase des Egal-Seins war sie langsam erwacht. Jeden Tag, den sie freier atmen konnte, ein bisschen mehr. Die letzten vier Wochen hatte sie sich zurück in eine Alltagsroutine gekämpft, die beinah normal war. Holly ging wieder zum Friseur, sie ging einkaufen, sie telefonierte mit Susan Peterson von der Universität. Das war die Sekretärin und Hollys Kontakt zu ihrem Professor. Der hatte ihr nach ihrer Genesung eine Auszeit von einem halben Jahr empfohlen. Doch seit ein paar Tagen spielte sie mit dem Gedanken, schon jetzt wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Die Arbeit würde sie mehr beschäftigen, als die langweiligen Fernsehserien oder die Bücher, die sie allesamt kannte. Ihr fehlte nicht das Budeln im Sand, der Gedanke allein war immer noch mit ihren nächtlichen Albträumen verknüpft, die gegenüber den Tagalbträumen nicht weniger geworden waren. Aber ihr fehlte das Zeichnen. Das Recherchieren. Das Enträtseln und das Gefühl sich mit Dingen zu beschäftigen, die tausende von Jahre alt waren und die daher so herrlich ungefährlich waren. Das fehlte ihr. Das Workaholic-Dasein. Ihr Leben. Aber Holly war sich noch nicht sicher, ob es ihr wirklich gelang, es sich zurückzuholen. Sie war nicht dumm. Das, was passiert war, begleitete sie. Die ständige Angst war immer allgegenwärtig. Auch jetzt noch. Aber sie hatte gelernt, sie zurückzudrängen und zu vergessen. Nichts war richtig normal und doch fing sie an, sich wieder so zu fühlen. Sie beschloss, sich der Meinung der anderen Menschen anzuschließen. Sie gab dem übersinnlichen Horror nicht länger Macht über ihr Leben. ‚Vielleicht’, wisperte eine leise Stimme, ‚war alles doch nur eine Wahnvorstellung’. Die Stimme war leise und doch löste sie Hoffnung aus. So intensiv, dass Holly sie noch stärker spürte, als die Sonne, die sie wärmte. Sie raste durch ihren Körper, ließ sowohl ihre Zehen als auch ihre Haaransätze kribbeln. Sie war endlich frei und konnte das Geschehene hinter sich lassen. Schließlich löste Holly sich von dem Anblick ihres Fensters und ging zur Tür hinaus. Sie hatte schon vor einer halben Ewigkeit zum Einkaufen aufbrechen wollen. Genau das tat sie jetzt. Bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit hatte sie es nicht weit. Ihre Kondition hatte spürbar unter der Zeit gelitten, die sie zuhause gehockt hatte. Aber das Brennen in ihren Muskeln hatte etwas Belebendes an sich. Die Sonne wärmte noch ihre Haut, obwohl der Nachmittag mit dem Einsetzen der Dämmerung gerade in den Abend überging. Holly lächelte, als sie das pulsierende Leben sah, was sie umgab und aufnahm, wie eine verlorene und lang vermisste Tochter. Sie gehörte wieder dazu. Sie war wieder ein Teil der ganz normalen Welt. „Vorsicht!“ Die Warnung kam zu spät. Holly prallte mit ihrer Papiertüte, die sie vor der Brust trug und die bis zum Rand mit Lebensmitteln gefüllt war, direkt gegen jemanden. Sie griff erschrocken die Tüte etwas fester und drückte so die oben aufliegenden Äpfel und Tomaten heraus. Die Sachen fielen auf den Bürgersteig und machten ein ungesundes, ploppendes Geräusch. Holly verzog das Gesicht. „Mist!“ „Ein Glück, das sie keine Eier gekauft haben.“ Zum ersten Mal sah sie zu dem Mann, den sie angerempelt hatte. Sie war davon ausgegangen, dass er längst weitergegangen war. In einer vor Leben pulsierenden Stadt war das Stehenbleiben eine Seltenheit. Doch ihr Auffahrunfall war nicht einfach nur stehen geblieben, er hockte vor ihren Füßen auf dem Boden und sammelte ihre Lebensmittel ein. Verdutzt starrte sie ihn an. Erst zeitverzögert bemerkte sie, wie unhöflich sie sich verhielt. „Entschuldigen Sie!“ Holly hockte sich ebenfalls auf den Boden und stellte die Papiertüte ab. Zum Glück war das Päckchen losen Schwarztees nicht auch herausgefallen. Den hatte sie in ihrer Lieblingsteehandlung gekauft. Der Laden importierte aus den besten Gegenden, und füllte den Tee in durchsichtigen Tütchen ab. Die waren jedoch nur vorsichtig mit einem Sticker zugeklebt. Holly war sich sicher, den Schwarztee überall auf dem Boden verstreut zu finden, wäre er hinausgefallen. Schicksal sei Dank, war er verschont geblieben. „Schwarztee?“ Überrascht sah sie zu dem Fremden. Der hatte gerade ihre Tomaten in die Tüte gelegt und dafür das Päckchen Tee herausgenommen. Er lächelte nicht direkt. Aber seine Mundwinkel zeigten freundlich nach oben. Es hätte fast ein Lächeln sein können. Jedoch erreichte es nicht seine Augen. Die waren so grün wie … Oliven vielleicht? Vielleicht auch Frühlingsgras. Sie konnte es nicht genauer sagen, denn die Sonne blendete sie. Anders hätte sie sich den Goldschimmer in seinen grünen Augen nicht erklären können. Denn hätten sie dann nicht warm und freundlich aussehen müssen? Seine Augen sahen aber viel mehr untersuchend, abwartend und beinah … beinah gefährlich aus. Holly schüttelte den Kopf. Sie durfte nicht schon wieder anfangen, Gespenster zu sehen, wo keine waren. Seit wann waren grüne Augen – Goldschimmer hin oder her – gefährlich? „Sie trinken also keinen Schwarztee?“ „Was?“ Sie sah wieder zu ihm und damit weg von ihren angeschlagenen Äpfeln. So viel zu dem knackigen Obst, was sie sich hatte gönnen wollen. Nach Wochen des Fastfood sehnte sie sich nach etwas Gesundem. Scheinbar wollte das Schicksal ihr mitteilen, dass Vitamine vollkommen überbewertet wurden. „Sie wirken abwesend. Fühlen Sie sich nicht gut?“, fragte er. Oh verdammt! Es war was völlig anderes unter Menschen zu sein, anstatt ständig allein in ihrer Wohnung zu hocken. Wenn man mit anderen Menschen zusammen war, musste man Unterhaltungen führen. Holly musste sich schleunigst wieder abgewöhnen, so in ihre Gedankenwelt abzudriften. „Tut mir leid. Ich bin bloß etwas zerstreut, wie es scheint. Ich wollte Sie wirklich nicht anrempeln.“ „Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Um die Wahrheit zu sagen, ist dies ein höchst willkommener Zufall.“ „Okay, wieso das?“ Holly musterte ihn fragend. „Sie haben unmöglich den ganzen Tag damit zugebracht, darauf zu warten, von jemandem angerempelt zu werden.“ Sie lachte bei ihren Worten. Er sah jedoch so ernst zu ihr, dass sie sich nicht sicher war, ob er ihren Scherz verstanden hatte. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Ich sollte jetzt wohl besser gehen.“ „Ihr Schwarztee!“ Sie sah auf die Packung, die er in der Hand hielt. „Lady Grey. Eine gute Wahl“, sagte er mit einem Lächeln und reichte ihr den Tee. Er kannte sich mit Schwarztee aus? Das war keine direkte Seltenheit in ihrer Heimat. Aber das sich hier jemand damit auskannte schon. Zuhause war sie es gewohnt, stundenlang über Tee zu reden. Jeder hatte was dazu zu sagen, eine Meinung zur richtigen Zubereitung und zur richtigen Sorte. Ob man Earl Grey oder Lady Grey lieber mochte, konnte schon mal von einer Diskussion in einen kultivierten Streit ausarten. Ob nun zuerst der Tee oder die Milch in die Tasse kamen, ebenso. Dafür hatten Amerikaner ihren Erfahrungen nach so überhaupt kein Verständnis. „Sie trinken also gerne Schwarztee?“, wollte er wissen. Die Art der Frage rang ihr augenblicklich ein Lächeln ab. „Ja, ich liebe Schwarztee. Am liebsten zur Beruhigung oder zum Nachdenken. Manchmal auch einfach zum Entspannen. Aber mit Milch und ein wenig Zucker. Sonst mag ich ihn nur halb so gerne.“ Neugierig sah sie zu ihm. „Welche Sorte trinken Sie?“ „Assam.“ Sein Lächeln erreichte seine Augen. Es ließ sie viel wärmer erscheinen. Er wirkte dadurch offener und so nett, dass sie sich tatsächlich fragte, wie alt er wohl war. Doch da schloss er schon wieder die Augen und der Moment war vorbei. Sein Lächeln glättete sich sofort. Aber seiner Stimme hörte sie es noch an. „Mit Milch, aber ohne Zucker“, verriet er ihr. „Täte dem Assam auch Gewalt an, ihn mit Zucker zu trinken.“ „Ist das so?“ „Warum kräftigen, bitteren Schwarztee trinken, wenn man ihn dann doch süßt?“ „Ich werde mich hüten, Ihnen zu widersprechen.“ „Ach ja?“ „Einer Dame widerspricht man nicht.“ Okay. Schwarztee, nein, Assam mit Milch. Und er nannte sie eine Dame. „Sie sind kein Amerikaner oder?“ Holly musterte den hellgrauen Anzug und da stach ihr die Graham Uhr ins Auge, die er trug. Eine der beliebtesten Uhrenmarken Großbritanniens. Ihr Vater trug sie auch. „Woher kommen Sie?“ „London.“ Holly nickte bestätigend. „Das dachte ich mir. Dass Sie Brite sind. Es ist die Art, wie Sie reden.“ Jetzt passte auch sein Akzent ins Bild. Er war ihr so vertraut. Ein Stück Heimat, dass ihr wie selbstverständlich erschien und erst jetzt auffiel, da sie wusste, woher er kam. „Sie kommen auch aus London?“ „Nein. Ich lebe in Downtown Miami. Aber ich bin gebürtige Engländerin.“ So langsam wurden ihr die Arme schwer. Aber sie wollte noch nicht gehen. Seit Wochen, ach was Monaten, war dies das erste Gespräch das sie mit jemand anderem, als sich selbst, dem Anrufbeantworter oder Susan führte. Das hier war nett. Auf eine merkwürdige und völlig verdrehte Art. „Was für ein Zufall. In der Tat. Was machen Sie hier? Urlaub? Oder sind Sie geschäftlich unterwegs?“ „Geschäftlich.“ „Ach so.“ Sie lächelte. Das hätte ihr klar sein müssen. Seine Antwort kam nicht überraschend. „Genau genommen war ich auf der Suche nach Holly Martin, aber wie mir scheint, hat der Zufall mich direkt zu Ihnen geführt.“ Sie kniff die Augen zusammen und befeuchtete nervös die Lippen. Es war ihr, als hätten sich die ersten Wolken über die Sonne geschoben und es wurde merklich frischer. „Woher kennen Sie meinen Namen?“ „Das würde ich vorziehen, nicht auf offener Straße zu bereden. Sie sehen außerdem so aus, als sollten Sie die Tasche nach Hause tragen. Wenn Sie möchten, kann ich das übernehmen.“ „Ach ja?“ „Ich war sowieso auf dem Weg zu Ihnen. Da kann ich auch Ihre Tasche tragen.“ Er sagte das so völlig selbstverständlich, dass sie verblüfft Luft holte. „Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie?“ „Mein Name ist James Wescott. Ich bin hier, weil ich Grund zur Annahme habe, dass Sie in Gefahr sind, Ms. Martin. Ich bin hier, um Ihnen Schutz anzubieten, den Sie unbedingt annehmen sollten.“ „Bitte, was?“ Ein bitteres Lachen staute sich in ihrer Kehle an, aber sie würgte es hinunter. Das Schicksal hatte wirklich einen seltsamen Sinn für Komik. Begrüßte sie an einem sonnig schönen Nachmittag zurück im Leben der Normalität, um ihr dann einen Spinner zu schicken, den sie gerade noch nett gefunden hatte. „Tut mir leid. Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln, Mr. Wescott.“ „Das denke ich nicht.“ Sie drehte sich um und ließ ihn stehen. Das war unhöflich von ihr, aber Holly war es egal. Sie ging stur weiter, obwohl er sie unbeeindruckt anredete und dabei nicht lauter wurde. „Sie wissen, dass es ihn gibt. Sie wissen, was wirklich passiert ist in Ägypten. Holly! Es zu vergessen, ihn zu ignorieren ist ein Fehler, der tödlich enden wird. Machen Sie das nicht!“ Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte sie zusammen. Ihre Füße wollten plötzlich nicht weitergehen. Wusste er wirklich, was in Ägypten passiert war? „Ich kann Ihnen helfen.“ Sie spürte, dass er eine Antwort wollte. Dass er ihr gefolgt war. Diese Vorstellung reichte, um ihre Füße wieder in Bewegung zu setzen. „Lassen Sie mich bloß in Ruhe!“ Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, wie er ihr folgte. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht“, zischte sie und war sich sicher, er hatte ihre Worte gehört. Er zog es bloß vor, sie zu ignorieren. Holly drehte sich um und beschleunigte ihre Schritte. Genau das, was ihr gefehlt hatte. Ein Spinner, der sie mit der Sache von damals belästigte. Als hätten all die aufdringlichen und ihre Intimsphäre in keinster Weise berücksichtigenden Reporter nicht ausgereicht. Es schien als gäbe es kein interessanteres Thema als eine unter Schock stehende, von Bestien faselnde Archäologin. Wobei das eigentliche Wunder des Interesses wohl das war, das sie die einzige Überlebende des tragischen Unglücks war, dass die gesamte Universität und das Museum of History entsetzt und bestürzt hatten. Wochenlang hatte Holly die Journalisten ertragen und in die Schranken weisen müssen. Schließlich hatte sie sich sogar per Anwalt gewehrt, um die Aufdringlichkeit der Presse zu unterbinden und endlich in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatte so sehr gehofft, das alles hinter sich gelassen zu haben. Und nun tauchte so ein Kerl, wie der auf. Nein! Sie hatte damit abgeschlossen. Mit der Vergangenheit. Mit allem. Ein Blick über die Schulter verriet Holly, dass er es aufgegeben hatte. Das konnte sie zwar nicht glauben, weil die meisten Spinner, die sie kennen gelernt hatte – und das waren nach Ägypten nicht gerade wenig gewesen – hartnäckiger waren. Aber umso besser, wenn er anders war. Hauptsache sie war ihn los. Sie lief so zügig nach Hause, dass sie sich im Aufzug, der sie in die vierzehnte Etage fuhr, keuchend gegen die Wand lehnen musste. Das Metall kühlte ihre erhitzten Wangen. Unangenehm wurde sie sich dem Schweiß bewusst, der ihr sowohl vom Nacken den Rücken hinab, als auch von der Stirn, den Hals und dann zwischen ihren Brüsten hinab lief. Sie trat aus dem Aufzug, stellte die Tasche ab, kramte nach ihrem Schlüssel, schloss die Wohnung auf, schloss hinter sich zu und gab den Pin in ihre Alarmanlage ein. Normale Sicherheitsvorkehrung, wie sie sich immer sagte. Klappte gerade nicht so gut wie sonst. Die Begegnung mit ihm hatte sie mehr aufgewühlt, als es ihr lieb war. Holly spürte die Bilder. Wie sie da im Dunkeln ihrer Seele lauerten und darauf warteten, dass die Sonne sich senkte, das Licht und alles Gute in der Welt mitnahm, um dann über sie herzufallen und sie quälen zu können, bis sie nur noch ein wimmerndes Wrack war. Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie stand in der Küche, starrte auf die Papiertüte und wandte sich dann ruckartig ab. „Schluss damit! Hör auf dich da wieder in etwas hineinzusteigern, Holly Martin!“ Sie ging ins Bad. Dort zog sie sich die verschwitzten Klamotten aus. Schweiß erinnerte sie an Hitze. Was sie wiederum an Ägypten erinnerte. An Sand und Blut. So viel Blut … Mehr genervt als entsetzt raufte sich Holly durchs Haar und warf dann angewidert die Kleider in die Waschmaschine. Dann stellte sie sich unter die Dusche, die sie nach und nach immer kälter drehte, bis ihre Haut prickelte und brannte. Das Gefühl, lebendig und nicht etwa tot und unter Sand begraben zu sein, kehrte endlich wieder zurück. Dankbar stellte sie das Wasser aus und blieb noch für ein paar Sekunden mit geschlossenen Augen reglos stehen. Abwartend. Aber das Gefühl verflüchtigte sich nicht. Es war keine Einbildung. Sie war wieder sie selbst. Oder was von ihr noch übrig geblieben war. Was für ein jämmerlicher Gedanke. Holly belächelte sich selbst und kletterte aus der Dusche. Nachdem sie sich abgetrocknet und die Haare gekämmt hatte, öffnete sie die Badtür. Nackt ging sie ins Schlafzimmer und stellte zufrieden fest, dass ihre Schritte wieder den gewohnt leichten Gang hatten. Trotz ihrer ungesunden Ernährung hatte sie im letzten halben Jahr ab- statt zugenommen. Oft hatte Holly gar keinen Hunger gehabt und von einer Pizza nicht mehr als ein Stück gegessen. Sie sollte wirklich wieder anfangen, gesund und vor allem regelmäßig zu essen. Sie zog sich an, wobei sie sich für eine bequeme Haremshose entschied und darüber ein dunkelblaues T-Shirt zog. Da es mittlerweile kurz vor Sonnenuntergang war und frischer wurde, zog sie sich noch eine Sweatshirtjacke darüber. Ihr feuchtes Haar ließ sie offen. So trocknete es schneller. Da sie Locken hatte, konnte sie es sich erlauben, die Haare an frischer Luft zu trocknen. Sie gingen ihr mittlerweile wieder fast bis zu den Schultern. Nach Hollys letztem Friseurbesuch vor drei Wochen hatte die Friseuse ihre Haare bis zum Kinn abschneiden müssen. Sie waren so sträflich von ihr misshandelt worden, dass mehr von ihrer bis zu den Hüften gehenden Haarpracht nicht zu retten war. Allerdings hatte Holly sie normalerweise sowieso nur bis zu den Schultern getragen. Daher hatte sie nicht um das verlorene Haar geweint. Im Gegenteil sie fühlte sich von einer enormen Last befreit. Als schälte sich nach und nach ihr altes Ich hervor, das sich die ganze Zeit versteckt gehalten hatte. Das geflohen war, um sich selbst zu schützen. ‚Vor einer Einbildung brauchst du dich nicht schützen!’ Und mehr war er nicht. Sie glaubte sich. Das erste Mal seit Monaten glaubte sie sich. In der Küche packte Holly die Tasche aus und ließ das Päckchen Schwarztee auf der Anrichte stehen. Sie wollte sich eine Kanne Tee kochen. Genau das Richtige, um den Abend zu begrüßen. Heute würde sie keine Angst vor der Dunkelheit haben und sich wie ein Kind an die letzten Strahlen der Sonne klammern. Sobald das Wasser aufgekocht war, schüttete sie es auf den Filter in ihrer dunkelblauen Kanne. Der Geruch, der daraufhin aufstieg, war so vertraut und so wohltuend, dass Holly ihn mit geschlossenen Augen einatmete. Dann schloss sie den Deckel der Kanne, damit ja nichts von dem Aroma entfliehen konnte, und freute sich bereits auf den Moment, da sie den Deckel wieder lüftete, um den Beutel herauszunehmen. Über was für einfache Dinge sie sich freuen konnte. Es war verrückt und dennoch schön. Kostbar war es. Holly trat an den Kühlschrank, öffnete ihn, um die Milch herauszunehmen. Sie schloss die Kühlschranktür, das offene Päckchen Milch in der Hand und zuckte zusammen, als sie den Schatten wahrnahm. Der Aufschrei blieb ihr in der Kehle stecken, sobald sie erkannte, wer vor ihr stand. Satek. „Hallo, Holly.“ Sie wollte schreien. Ihre Angst hinausbrüllen, damit sie nicht an ihr erstickte. Aber das Entsetzen war zu groß. ‚Wie bist du in meine Wohnung gekommen?’Der Griff um die Milch wurde fester. Holly zitterte am ganzen Körper, so dass Milch hinausschwappte, an ihrer Hand hinunterlief und zu Boden tropfte. Sie schluckte, kämpfte gegen den Kloß an, der in ihrer Kehle saß. Die Angst. Das Entsetzen. Das … „Willst du uns beiden nicht einen Tee machen? Ich glaube er ist bereits fertig gezogen.“ Was? Was wollte sie? Ganz bestimmt nicht! Sie schüttelte den Kopf und erntete ein Lächeln. Bilder drängten an die Oberfläche. Dieses Lächeln. Die Grausamkeit in den schwarzen Augen, die endlos und leer waren. Immer noch. Es waren tote Augen, die kein Leben kannten, kein Gefühl. Nur Grausamkeit und Tod. Woher wusste sie das? Und wieso dachte sie solchen Unsinn, anstatt endlich um Hilfe zu rufen? Oder wegzulaufen. „Du weißt, dass dir keiner helfen kann. Du rennst nicht weg, Holly, weil ich es so will. Ich halte hier die Fäden in der Hand. Du lebst, weil ich es will. Und wenn ich es will, wirst du …“ „Nein!“ Das Wort presste sich über ihre Lippen und endlich konnte sie wieder Luft holen. Ihre Stimme fühlte sich an, als habe sie endlos geschrien. Nur das ihre Schreie tonlos verklungen waren. Ungehört. „Nein!“ Sie sah ihn an, trat zwei Schritte zurück. Zögernd. Als klebten ihre Füße am Boden fest. „Du kannst mir nichts tun. Du bist nur eine Einbildung. Du bist nicht echt!“ Sein Lächeln prägte sich aus. Wurde breiter. Kälter. Ihr war so kalt. Eine Gänsehaut zog sich über ihren ganzen Körper und sie hatte das Gefühl, von innen heraus zu erfrieren. Ihre Lippen zitterten. Sie kämpfte gegen die Tränen an. Sie würde nicht weinen. Nicht betteln und nicht flehen. Sie würde nicht akzeptieren, dass er real war. Sie würde nicht aufgeben, wofür sie zu hart gekämpft hatte. Der Albtraum durfte nicht gewinnen. Nicht nach allem, was sie durchgemacht hatte. „Du willst immer noch glauben, ich sei nicht echt? Willst nicht wahr haben, welche Macht ich habe?“ Sie drehte sich um und trat zu der Kanne. Als sie den Deckel abnahm, zogen die Aromen an ihr vorbei, ohne das Holly es überhaupt wahrnahm. Vergessen war das wohlige Gefühl frisch gekochten, blumigen Tees. Angestrengt blinzelte sie. ‚Was tue ich hier?’ Ihm den Rücken zuzuwenden, war gefährlich! Langsam. Wie in Zeitlupe gelang es Holly, sich umzudrehen und ihn anzusehen. Er spielte mit einem Messer aus ihrem Messerblock. Ihr Gesicht verlor jedes bisschen Farbe und sie wollte an der Theke zusammensinken und davon kriechen. Als er ein Schritt auf sie zukam, ertönte ein Wimmern, das sie erst nachträglich als ihr eigenes erkannte. Vergessen war der edle Gedanke, nicht fliehen und nicht betteln zu wollen. Jeder Widerstand brach in sich zusammen. Vielleicht hatte es ihn nie wirklich gegeben und er war nur eine Illusion gewesen. Im Gegensatz zu … „Ja …“, forderte die hohle Stimme sie auf, die so schön war, dass sie nicht zu der Grausamkeit seiner Augen passen wollte. Sie war zu schön und dadurch hässlich. Unecht. So falsch, so … Rasselnd holte Holly Atem und sah ihn noch einen Schritt auf sich zukommen. „Du weißt, ich brauche das hier nicht wirklich. Um dich zu verletzen …“ In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Erinnerungen, Bilder dessen, was gleich passieren konnte. Szenarios, eines schlimmer als das nächste. Weglaufen, zusammensacken, schreien, weinen, flehen, beten. All die Möglichkeiten rasten wie ein Schnellzug durch ihren Kopf und doch fühlte Holly sich seltsam erstarrt und ruhig. Als sähe sie sich selbst beim Sterben zu. „Weg von ihr!“ Die Stimme riss sie aus dem Bann, unter dem sie gestanden hatte. Beinah ruckartig wandte sie den Kopf zur Küchentür. Sie sah zu dem Mann … dem ... Schwarztee. „Was machen Sie denn hier?“ Lächerlicherweise war das das Erste, was ihr durch den Kopf schoss. Dabei war ihre Stimme ihr selbst fremd. „Ach, der Retter. Ist er endlich hier? Hast du gefunden, was du suchst?“ Was passierte hier? Offensichtlich konnte noch jemand anders sehen, was sie sah. Satek war definitiv keine Einbildung. Was unweigerlich bedeutete, dass sie die Wahrheit gesagt und gesehen hatte. Dass alles, was sie erlebt hatte, kein Albtraum gewesen war. Holly spürte, wie Galle ihre Kehle hinaufstieg und hastete zur Spüle. Dabei lief sie auf Satek zu, anstatt vor ihm weg. Aber ihre Gedanken schienen nicht mehr richtig zu funktionieren. Ihr Körper gehorchte seinen eigenen Gesetzen und sie kotzte sich die Seele aus dem Leib, während um sie herum die Welt, die falsche Sicherheit, die eingebildete Normalität zusammenbrach. Sie wusste, dass sie sie unmöglich wieder aufbauen konnte. Woher sollte sie die Kraft dazu nehmen? Warum machte sie sich über so was Gedanken? Sie würde ohnehin gleich sterben. Warum war der Spinner ihr gefolgt? Was glaubte er, was er hier tat? Vorsichtig hob sie den Kopf, trocknete den Mund an einem Tuch ab und drehte sich um. Das Bild war zu bizarr, um es zu begreifen. Sie blinzelte ein paar Mal. Sah von rechts nach links. Aber von Satek war nichts zu sehen. Er war weg. „Wo ist … was ist passiert?“ Holly hielt sich an der Anrichte hinter ihr fest, indem sie sich dort anlehnte. Der Geruch des Erbrochenen stach ihr in der Nase und ätzte sich durch ihre Speiseröhre. Aber sie war am Leben. Und Satek war fort. „Er ist weg.“ „Das sehe ich“, erwiderte Holly bissiger, als er verdient hatte. Sie hatte jedoch nicht die Kraft, sich zu entschuldigen. Sie fühlte sich auf einmal unendlich müde und erschöpft. „Sie zittern am ganzen Körper. Ist Ihnen kalt?“ Er kam auf sie zu. „Vermutlich der Schock. Kommen Sie.“ Er fasste nach ihrem Arm und Holly zuckte zusammen. Aber er ließ nicht los und schließlich gab sie nach und hielt sich an ihm, statt am Küchenschrank fest. „Ist das da Tee?“ Holly nickte. „Sehr gut. Ich bringe Ihnen gleich eine Tasse.“ Er führte sie zum Sofa, wo sie sich setzte. Ihre Gedanken schienen immer noch zu Eis gefroren. Alles ging so schwer, war so mühselig. Warum lebte sie immer noch? Warum war Satek Wirklichkeit? Warum passierte ihr das? Sie hatte sich solche Mühe gegeben, zu vergessen. Zu … „Verdrängen“, flüsterte sie. „Ich habe nie vergessen, nur verdrängt, dass du wahr bist.“ „Was sagen Sie?“ Ihr … Retter, denn das war er ja gewesen oder nicht? Er kam zu ihr, reichte ihr einen Tee. Er hatte sich gemerkt, wie sie ihn gerne trank. Er schmeckte dennoch nicht. Auch das war der Schock. Holly kannte das alles zu gut. Als nächstes würde die Panik einsetzen. Sie würde ihre Tasche packen und durch die ganze Stadt fahren, um in irgendeinem Hotel unterzukommen, weil sie sich einbildete, dass er sie dort nicht finden konnte. So hatten die Tage und Nächte nach ihrer Rückkehr ausgesehen. Jede Nacht ein anderes Hotel bei der Flucht vor einem Monster, das jetzt ein halbes Jahr später wieder so real war, wie ganz am Anfang, als niemand ihr geglaubt hatte. Sie sah zu dem Mann ihr gegenüber. Er hatte sich keine Tasse mitgebracht. Er trug immer noch seinen hellgrauen Anzug und sah gelassen aus. Ruhig. Unbeeindruckt. „Warum sind Sie mir gefolgt?“ „Das habe ich Ihnen doch gesagt. Ich wollte mit Ihnen reden.“ „Über ihn?“, fragte sie und ihre Stimme zitterte. Aber sie sprach. Das war gut. Es lenkte sie von der Panik ab, die ihren Körper zur Flucht antreiben wollte. Ziel: Überleben. „Über ihn. Darüber was Sie gesehen und erlebt haben. Ich möchte Ihre Version der Geschichte von Ihnen persönlich hören. Die ganze Wahrheit.“ Holly seufzte erschöpft. Reden wollte er. Was hatte sie auch anderes erwartet. Wie sollte er ihr helfen können? Niemand konnte ihr helfen. „Es war im September. Ich brach …“ „Halt!“ Erschrocken fuhr sie zusammen. Seine Stimme war so scharf, dass Holly entsetzt zu ihm sah. „Was denn?“ „Ich will nicht nur ein paar dahingesagte Worte. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, Holly. Ich will Sie beschützen.“ „Ich wüsste nicht, wie Sie das könnten. Sie haben ihn doch gesehen? Sie wissen, was er getan hat, oder? Sie wissen es.“ Sein Nicken bestätigte ihre Vermutung. „Sie können ihn nicht aufhalten. Ich weiß nicht, was er ist. Aber niemand kann ihn stoppen.“ „Ich kann ihn aufhalten. Wir können es.“ „Wir?“ „Nicht Sie und ich. Wir. Die Talamadre.“ „Die wer?“ „Hören Sie ich bin Oberer einer Geheimorganisation, die sich …“ Als sie diesmal zu lachen anfing, war es ein hysterisches und äußerst unvorteilhaftes Kichern. Sie verlor den Verstand. Sie war durchgeknallt! Das war also die Erklärung. Dabei hatte sie sich doch nie für eine dieser Frauen gehalten. Die davon fantasierten, von Bestien gejagt zu werden, damit sie ein James Bond-Verschnitt rettete. Er sah sie an, als verstand er genau, wie sie sich fühlte. Als verstünde er ihre Angst, ihre Panik. Die Einsamkeit und das Gefühl sich selbst verloren zu haben. Vielleicht konnte er ihr wirklich helfen. Sie wusste nicht, weshalb, aber sie glaubte es. Für den Moment, den sie sich ansahen, glaubte sie ihm. Alles. „Okay erklären Sie es mir.“ „Die Talamadre sind ein Geheimorden. Wir beschäftigen uns mit übersinnlichen Phänomenen. Wir jagen sozusagen das Böse in der Welt, vernichten es und sorgen dafür, dass Sie wieder unbesorgt schlafen können.“ Geheimorden, Jagd auf das Böse in der Welt. Holly atmete tief ein. Das klang alles total verrückt. Aber es spielte keine Rolle, ob er die Wahrheit sagte. Denn sie spürte, dass sie ihm glauben wollte. „Sie glauben, dass er da gewesen ist? Sie haben ihn gesehen, ja?“, wandte sie sich an ihn. „Ich glaube nicht, Ms. Martin. Ich weiß, dass er da gewesen ist. Glaube überlasse ich denen, die ihn nötig haben. Ich weiß Dinge, die Sie sich nicht mal vorstellen können.“ „Okay, aber Sie haben ihn gesehen?!“ „Ja, ich habe ihn gesehen. Er war da.“ „Und Sie können mich vor ihm beschützen?“ „Ich werde Sie beschützen.“ Sie sah in seine Augen, die selbstsicher ihren Blick erwiderten. Er hatte Satek vertrieben. Sie wusste nicht wie, aber es war ihm gelungen. Sie glaubte ihm, dass er sie beschützen konnte. „Gut, das reicht mir.“ „Dann kommen Sie.“ „Wohin gehen wir?“ „Weg von hier. Hier ist es auf Dauer zu gefährlich. Ich werde Sie dahin bringen, wo Sie für diese Nacht sicher sind und morgen früh besprechen wir, wie wir diesen Albtraum beenden.“ „Warum machen Sie das?“ Sie stand auf und sah ihn abwartend an. „Weil Sie so eine Art Bond-Helden-Komplex besitzen und ganz heiß darauf sind, die Welt zu retten?“ Er schüttelte den Kopf und strich dabei seine Anzugshose glatt. „Ich rette die Welt nicht. Ich gebe ihr den Schubs in die richtige Richtung. Kommen Sie jetzt?“ „Aber warum helfen Sie ausgerechnet mir? Warum jetzt?! Wo waren Sie vor sechs Monaten, als das alles angefangen hat?“ „Das erkläre ich Ihnen später. Im Moment zählt nur, dass ich hier bin.“ Er stand vor ihr und Holly fühlte wie die Sicherheit, die er ausstrahlte, auf sie überging. „Ich bin jetzt hier, Holly. Und ich gehe nicht, bevor Sie wieder in Sicherheit sind.“ „Warum?“, flüsterte sie und Tränen liefen ihre Wange hinunter, die er mit einer Handbewegung wegwischte. Es lag keine Zärtlichkeit darin. Aber der Blick, mit dem seine Augen sie gefangen nahmen, die augenblickliche Verbindung, die sie zu ihm spürte, gab dieser einfachen Geste etwas Magisches. Sie blinzelte angestrengt und er nahm den Daumen von ihrer Wange. „Ich denke“, räusperte er sich. „Wir sollten jetzt gehen.“ Sie folgte ihm, weil die Nachhaltigkeit in seiner Stimme sie zur Eile antrieb. „Wie sind Sie überhaupt reingekommen?“ Holly starrte auf die unbeschädigt aussehende Eingangstür. Keine Ahnung, was sie erwartet hatte. Aber nicht, dass sie aussah, als sei nichts Verrücktes passiert. Als sei ihre Welt nicht gerade zusammengebrochen. „Ich kenne ein paar Tricks.“ Sie schloss die Tür hinter ihnen und steckte den Schlüssel in die Jackentasche ihrer Sweatshirtjacke. Im Aufzug rief er mit seinem Handy ein Taxi. Sie warteten nicht lang, dann fuhren sie durch den Abendverkehr Miamis. Draußen flimmerten und blitzten Lichter auf. Aber sie hatten nichts Beruhigendes an sich. Holly fühlte sich einfach nur erschöpft und gähnte. Als sie den Mann neben sich ansah, wie er in die Nacht hinausstarrte, fiel ihr etwas ein. „Ich habe Ihren Namen vergessen.“ „James Wescott.“ „Warum helfen Sie mir, James?“ Sie konnte das Thema nicht fallen lassen. Es drängte sie, eine Antwort zu bekommen. Sie wusste nicht, was das ändern sollte. Aber sie wollte es wissen. So sehr, wie sie ihm glauben wollte. Als sie sein Gesicht sah, überraschte sie die Offenheit, die sie darin erkannte. „Sie geben nicht auf, was?“, fragte er. „Nein.“ „Ich denke, niemand sollte Angst haben, die Augen zu schließen. Niemand sollte Angst vor seinen Träumen haben. Noch weniger vor dem Leben.“ „Woher wissen Sie das alles von mir?“ Woher wusste er, wie es ihr ging? „Ich sagte doch schon, dass ich eine ganze Menge weiß.“ „Stimmt. Das sagten Sie.“ Er lächelte leicht und Holly erwiderte es zögernd. „Machen Sie sich keine Sorgen, Holly. Heute Nacht können Sie schlafen, ohne sich fürchten zu müssen. Bei mir sind Sie sicher.“ „Das soll ich einfach glauben?“ „Was Sie glauben, ist für mich unwichtig. Sie müssen mir vertrauen.“ „Aber ich kenne Sie doch überhaupt nicht.“ „Vertrauen Sie mir trotzdem.“ „Das ist aber kein Grund.“ „Weil ich Sie darum bitte?“ Er sah sie direkt an und ganz langsam nickte Holly. „Okay. Ich versuche es.“ „Okay. Das reicht mir“, wiederholte er die Worte, mit denen sie ihm im Wohnzimmer ihre Zustimmung gegeben hatte, seiner Geschichte zu glauben. Holly hoffte, sie tat das Richtige. Auf ihr Gefühl gegenüber Menschen konnte sie blind hören. Sie besaß einen guten Radar, was Menschen betraf. Das konnte sie von ihrem Radar für Unglücke und übernatürliche Bestien nicht behaupten.

Talamadre

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