Читать книгу Wolkenschwäne - Mila Brenner - Страница 3
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ОглавлениеGanz bewusst ließ ich den Blick durch den hellen Raum streifen. Die Wände waren blassrosa. Vor ein paar Jahren war der Ton eher ein in Perlmutt glänzendes Puderrosa gewesen, aber die Sonne hatte den Glanz gestohlen. Doch auch ohne den gab die Farbe dem Zimmer einen mädchenhaften Anstrich. Ich war zu alt dafür. Mir war das durchaus klar. Trotzdem hatte diese Tatsache meine Flucht erleichtert. Hier war es mir einfacher gefallen, meinem Leben zu entkommen. In eine Zeit zu fliehen, in der mein Leben noch schön und unbeschwert gewesen war. Warum sonst war ich zurück zu meinen Eltern gezogen, wenn nicht, um mich in meinem alten Zimmer vor dem Leben zu verstecken? Um die Schatten, die Ängste, die Sorgen und die Wut auszusperren.
Mein Blick glitt über die weiß gebeizten Holzmöbel, das französische Messingbett mit den flauschigen Rüschenkissen, bis zu den hellen Gardinenschals, die sich im Frühlingswind aufblähten.
Ja, es war zu mädchenhaft für eine Frau, die vor drei Wochen 30 geworden war. 30 Jahre und ich hatte immer noch nicht gelernt, mich den dunklen Seiten des Lebens zu stellen. Stattdessen lief ich weg, sobald es schwierig wurde. Nicht schwierig sondern hart. Wenn ich nicht weiter wusste, rannte ich nach Hause. Ich verhielt mich nur halb so erwachsen, wie ich vorgab zu sein. Natürlich hatte ich kein Jahr gebraucht, um das zu erkennen. Aber ich hatte fast so viel Zeit benötigt, um die Kraft zu finden, dieses Zimmer zu verlassen und damit die Blase der Sicherheit.
Meine Eltern hatten mich gerne wieder bei sich aufgenommen. Meine Mutter, von der ich die Unsicherheit und den Fluchtinstinkt hatte, hatte mir erst gestern erneut gesagt, dass sie nicht verstand, warum ich schon wieder auszog. Bei der Erinnerung an die Liebe in ihren Augen, huschte ein Lächeln über mein Gesicht und ich trat ans Fenster.
Schon wieder.
Ja, so sah meine Mutter das. Für Isabel Hawkins war es schön gewesen, mich hier zu haben. Mich trösten, aufpäppeln und rundherum bemuttern zu können. Vielleicht wäre es für sie leichter gewesen, mich gehen zu lassen, wenn ich Geschwister gehabt hätte. Aber ich war ein Einzelkind und als solches war ich immer schon das Epizentrum ihrer mütterlichen Aufmerksamkeit gewesen. Um nicht zu sagen, der Mittelpunkt im Leben meiner Eltern.
Ich liebte sie von ganzem Herzen und war ihnen für alles dankbar. Dennoch hatte ich die Versuche meiner Mutter, mich hier zu halten, sanft abgeblockt. Es war an der Zeit wieder hinauszufliegen und nicht nur durch die Fenster in den Garten meiner Eltern zu gucken. Die Apfelbäume standen noch in der Blüte, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Gewand gegen die ersten kleinen Früchte tauschten, die bis zum Herbst heranreiften. Die Kirschbäume waren den Apfelbäumen schon voraus und hatten ihr wunderschönes blassrosa Kleid bereits verloren. Auch das bewies mir, dass es an der Zeit war. An der Zeit endlich aufzubrechen, und dem Leben nicht mehr nur zuzusehen. Dafür war es zu kurz und niemand wusste das besser als ich.
Ich löste mich von dem Anblick der Baumreihen und den blühenden Sträuchern, die dazwischen standen und diesmal schloss ich die Tür hinter mir, ohne mich noch mal umzudrehen.
„Geschafft?“
Ich sah auf und in die Augen meines Vaters. Er behauptete gerne ich hätte seine Augen, doch das stimmte nicht. Meine waren braun mit einer Spur grün von meiner Mutter. Er dagegen hatte Reh Augen. Hellbraun mit ein bisschen Bernstein. Nicht mysteriös sondern warm und sanft. Sie passten perfekt zu ihm. Er wirkte zwar nicht sehr redselig, aber wenn man das richtige Thema fand, konnte man seine Schale wie eine Nuss knacken. Am besten funktionierte das bei Gesprächen über Gärten und Natur. Die Leidenschaft zu dieser verband uns beide seit ich laufen konnte, und damit alt genug war, um ihn auf seinen stundenlangen Spaziergängen zu begleiten.
Als ich vor knapp einem Jahr zurück nach Greeley gekommen war, hatte ich mich zunächst im Haus meiner Eltern verschanzt. Ich wollte auf keinen Fall nach draußen. Die Angst, alles könnte mich an Simon erinnern, war zu groß. Zwar waren wir beide viel öfter in der Umgebung Boulders unterwegs gewesen, doch wir hatten Besuche bei meinen Eltern stets mit Ausflügen in Greeleys schöne Gegend verbunden. Es gab selbst hier zu viele Plätze und Orte, die mich an ihn und damit an uns erinnerten. Nach fünf Monaten war es meinem Vater schließlich doch gelungen, mich aus meinem Zimmer zu locken. Beständig wie ein Fels hatte er immer wieder gefragt. Jeden Tag aufs Neue und kein nein meinerseits hatte ihn entmutigt. Seine Beharrlichkeit zahlte sich an einem Tag im Januar aus. Der Schnee lag mittlerweile recht hoch, aber es war dieser wunderschöne, eisige und dennoch weiche Pulverschnee, den wir in Colorado so lieben. Die Sonne zeigte sich bei milden Minusgraden und verwandelte die zugedeckte Landschaft in ein funkelndes Wintermärchen.
Bereits als kleines Mädchen hatte ich den Winter geliebt, der für mich nicht nur aus Weihnachten bestand. Sobald der Herbst langsam vorüberging, die Bäume ihr Blätterkleid verloren und den Tannen die Bühne überließen, begann meine Lieblingsjahreszeit. Wenn die Luft nicht nur klar, sondern kalt wurde, so dass der eigene Atem Wölkchen bildete. Wenn die Sterne an einem klaren, dunkelblauen Himmel heller strahlten und der erste Schnee in der Luft lag. Obwohl ich weder Ski noch Snowboard fahren konnte, liebte ich den Schnee. Vielleicht war deswegen schon immer Schneewittchen mein Lieblingsmärchen gewesen. Meine Mutter hatte mir die Geschichte als kleines Mädchen jeden Abend vor dem Schlafen gehen vorlesen müssen. Mit 8 hatte ich sogar versucht, mir die Haare schwarz zu färben, weil ich so traurig war, dass mein Haar nur dunkelbraun und nicht so schwarz wie Ebenholz war. Meine Mutter hatte beinah einen Herzinfarkt bekommen.
An dem Tag, als es meinem Vater gelang mich zum ersten Spaziergang nach Simons Tod zu überreden, sprachen wir über jene Kindheitsanekdote.
„Ich war unglaublich geschockt. Nur dein Vater blieb ganz gelassen.“
Dad sah unschuldig zu uns.
„Stimmt doch“, forderte meine Mutter ein, ihr zuzustimmen.
„Du hast dich doch als Kind auch ständig verkleidet, Izzy, und bist mit den Kleidern deiner Großmutter durchs Haus gelaufen. Was kann ich dafür, dass unsere Tochter ganz nach dir kommt?“
Unabsichtlich hatte er mich mit diesem Ausspruch zum Lachen gebracht. Das allererste Mal seit Simons Tod. Als ich abrupt innehielt, war es in der Küche so still, dass man eine Stecknadel fallen gehört hätte. Jeder von uns Dreien schien die Luft anzuhalten und meine Mutter hatte Tränen in den Augen. Nachdem ich das sah, drehte ich mich um, holte meine Jacke und fragte meinen Vater, ob er mit mir ein bisschen spazieren gehen wollte. Sein Lächeln war nicht überrascht, sondern erfreut. Größer als an Weihnachten beim Auspacken der obligatorischen Gartenhandschuhe und den selbstgestrickten dicken Socken für seine dazu passenden neuen Gummistiefel. Meine Mutter war zu pragmatisch, was Geschenke anging, um besonders romantisch zu sein. Doch genau dafür liebte mein Vater sie ja.
„Edie? Alles gut, mein Mädchen?“
Vaters Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich schüttelte mich kurz, um die Benommenheit der Erinnerungen abzuschütteln.
„Ja“, ich lächelte ihn an. „Ich musste nur an unseren Winterspaziergang denken.“
„Welchen?“, witzelte er.
Wir waren seit diesem Tag beinah jeden Tag zusammen draußen gewesen. Und mittlerweile war es April. Ich hatte gespürt, wie das Laufen mir gut tat. Als könnte ich mir all die Sorgen, die Ängste und vor allem die Wut von der Seele laufen. Die Winterkälte hatte es unmöglich gemacht zu reden und ich genoss die Stille. Die Anstrengung meinen Körper an seine Grenzen zu führen und das Gefühl grenzenloser Freiheit, wenn ich über die verschneiten, unendlich wirkenden weißen Wiesen und Felder blickte. Sobald mir bewusst geworden war, wie gut das Laufen mir tat, war ich nahezu süchtig danach geworden. Da war es auch egal, dass längst kein Schnee mehr draußen lag, sondern überall der Frühling erwachte.
„An keinen Bestimmten“, flunkerte ich, weil ich wusste, dass mein Vater ganz genau ahnte, welchen Spaziergang ich meinte.
„Eden? Jack? Seid ihr da oben?“
„Wo sollen wir sonst sein Schatz“, rief mein Vater und zwinkerte mir zu.
Gemeinsam gingen wir nach unten, wo meine Mutter gerade in den Flur trat. Sie hatte die Hände voll mit einer Platte, auf der noch eine Schüssel stand. Und um ihren Arm trug sie einen aus Weidenholz geflochtenen Korb, der bis zum Rand gefüllt war. Meine Mutter besaß nicht nur so manche altmodische Ansicht, sie war auch was Dekoration und Materialien anging absolut naturversessen.
Ich schüttelte nicht deshalb den Kopf, sondern weil ich wusste, was sich alles darin befand.
„Meinst du nicht, du übertreibst ein bisschen, Mom?“
Mein Vater schob sich an mir vorbei und nahm ihr die Platte und die Schüssel ab. „Stell den Korb ab, Liebes.“
„Aber Eden braucht das alles.“
„In Boulder gibt es Lebensmittel zu kaufen und ich kann sogar kochen, Mom.“
Meine Mutter warf nicht mir, sondern meinem Vater einen bösen Blick zu. Gelassen wie immer überging er das einfach. Stattdessen nahm er den Korb auf, reichte meiner Mom die Platte und die Schüssel und sah sich dann zu mir um.
„Hast du alles, Edie?“
„Das Auto ist fertig beladen.“
„Hast du auch noch mal im Bad nachgesehen? Meistens vergisst man doch was. Dein Vater hat das letzte Mal, als wir Tante Harriet besucht haben, seine Zahnbürste vergessen.“
„Ich bin sicher, eine neue Zahnbürste zu kaufen, würde Eden nicht dazu bringen, wieder zurückzufahren. Obwohl du insgeheim darauf hoffst, dass sie zurückkommt.“
Erneut erntete er einen bösen Blick, aber diesmal lächelte meine Mutter danach. Sie seufzte. „Na schön, du hast ja Recht.“
Ich kam zu ihr und umarmte sie fest. Sie hatte mich gebeten, dass ich mich drinnen von ihr verabschiedete. Sie wollte allein sein, wenn sie anfing zu weinen. Während mein Vater vor zum Auto ging, nahm ich die Platte, auf der sich selbstgemachtes Brot befand und die Schüssel mit Vanillepudding. Das Brot bekam ich, weil meine Mutter von Bäckerbrot nichts hielt und wusste, dass ich keine Zeit und Lust hatte, selbst zu backen. Der Pudding war für die erste Nacht in meiner neuen Wohnung. Denn es war ihr eisernes Gesetz das mit sahnigem Vanillepudding jedes Problem zu bewältigen, zumindest aber auszuhalten war. Da ich ihren Pudding wirklich liebte, lächelte ich und gab ihr einen Kuss.
„Danke Mom.“
„Schon gut. Fahr vorsichtig. Und ruf an, sobald du da bist. Du weißt ja, dass ich sonst nicht schlafen kann.“
„Und ich will auf keinen Fall, dass du mir die Polizei hinterher hetzt“, witzelte ich. Dann küsste ich sie nochmal. „Ich pass auf mich auf. Mach dir keine Sorgen.“
Sie machte mir die Haustür auf und schloss sie direkt hinter mir. Vermutlich liefen die Tränen da bereits. Auch mein Herz wurde schwerer, als ich die Veranda hinunter ging und zu meinem Vater trat, der den Einkaufskorb schon auf den Beifahrersitz festgeschnallt hatte.
„Schade, so kannst du mich gar nicht mitnehmen.“ Er lächelte mich an. „Da muss ich wohl bei deiner Mutter bleiben.“
„Ja, so ein Pech.“
Er seufzte und umarmte mich. Es war keine so lange Umarmung, aber er hielt mich fest, und ich fühlte mich sofort wieder wie das kleine Mädchen von früher. Wenn mein Vater mich umarmte, hatte ich immer geglaubt, dass mir nichts in der Welt etwas anhaben konnte. Das perfekte Gefühl von Sicherheit.
Viel zu schnell gab er mich frei und klopfte auf das Autodach meines dunkelblauen Wagens.
„Fahr vorsichtig, mein Mädchen. Und steck ja nicht den Kopf in den Sand. Gerade im Frühling gibt es so viel zu entdecken und zu sehen.“
Ich nickte ergeben. „Ich verspreche hoch und heilig, mich nicht drinnen einzusperren.“
„Sehr gut.“
Er öffnete meine Autotür und ließ mich einsteigen. Die Jacke warf ich über den Korb, der neben mir stand. Danach schnallte ich mich an und fuhr los. Zurück nach Boulder.
Früher hätte ich gesagt zurück nach Hause. Aber für mich begann ein neuer Lebensabschnitt und in dem gab es kein zuhause mehr. Alles war jetzt anders und ich fühlte mich genauso aufgeregt und nervös, wie damals mit 18 als ich in Boulder in meine erste eigene Wohnung gezogen war.
12 Jahre später war ich um so viele Erfahrungen reicher. Ich war Besitzerin einer Buchhandlung, besaß Falten um die Augen und die Wangen und hatte zwei Umzüge hinter mir, denn das war meine dritte Wohnung. Ich hatte geheiratet und war jetzt verwitwet.
Es waren 12 aufregende und gute Jahre gewesen, die mit einem bösen und ganz und gar nicht märchenhaften Knall geendet waren. Ich wollte hoffen, dass dieser Neuanfang mehr wie der Anfang der vergangenen Jahre würde. Aber so sehr ich es wollte, fand ich noch nicht die rechte Überzeugung, dass es auch so kommen würde. Dagegen half bestimmt der geplante Abend mit Sephie. Sie war meine beste Freundin und kam heute um sieben vorbei. Ich wollte für sie kochen und anschließend würden wir es uns mit Mutters sahnigem Vanillepudding und dem frisch eingekochten Kompott auf meinem hoffentlich bequemen Sofa gemütlich machen. Da würde ich Sephie dann überzeugen, dass ich wieder ganz die Alte war und daran glaubte, ein wunderbares, neues Leben läge vor mir. Wenn mir das gelang, konnte ich danach nur selbst davon überzeugt sein. Denn Sephie war der einzige Mensch, den ich kannte, der es schaffte, lebensfroh und gleichzeitig die schlimmste Pessimistin aller Zeiten zu sein. Ich hatte sie vermisst. Sie und meine Arbeit waren die beiden Dinge in meinem Leben, auf die ich mich tatsächlich freute. Nach genau einer Stunde Fahrzeit ohne Stau oder zähflüssigem Verkehr erreichte ich das Stadtschild.
„Welcome in Boulder“.
Willkommen zurück, Eden. Zurück am Anfang, dachte ich, holte tief Luft und fuhr dann durch das Stadtzentrum in die Walnutstreet.