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Die „neue“ Eden
ОглавлениеEtwa drei Wochen, nachdem ich meine Eltern besucht hatte, war mein Wochenende auf ein Neues verplant. Die letzten beiden Samstage hatte ich gearbeitet, die Sonntage auf meinem Balkon oder dem Sofa verbracht und mich bereits mit der Frage gequält, was ich mit den zwei freien Tagen anfangen sollte. Es war eine Sache, einen Tag in meiner Wohnung herumzulungern, sich mit dem liegengebliebenen Haushalt zu beschäftigen und Bücher zu lesen. Da konnte ich mir einreden, wichtige Dinge zu tun, statt mich zu verkriechen. Aber ein ganzes Wochenende?
Zum Glück gab es in meinem Leben nicht nur Sephie, sondern meine Kochclubmädels. Und während bei mir gerade alles auf Stillstand gepolt war, überschlugen sich bei Grace die Veränderungen. Erst einmal hatten sie und Alec sich endlich wieder versöhnt. Ich hatte schon befürchtet, dass sie sich scheiden ließen, so wie es bei Abygail passierte. Dass ihre Ehe auf diese Weise zu Ende ging, beschäftigte mich beinah ebenso wie die Tatsache, wie es zu der Verbindung gekommen war. Ich verstand Abygails Beweggründe und doch konnte ich sie nicht gut heißen. Es war merkwürdig, Jim alles Gute zu wünschen und für ihn zu hoffen, dass er glücklich wurde. Wo ich eigentlich auf Abbys Seite sein müsste und mir mehr Gedanken um ihr Glück machen sollte.
Grace jedenfalls ließ sich glücklicherweise nicht scheiden. Alec war es nicht so sehr um seine Beziehung gegangen, oder darum, dass seine Frau nun seine Chefin war. Ihr Ehrgeiz und ihre Begeisterung hatten nur immer wieder daran gerüttelt, wie unglücklich er in seinem Job war. Dass es einen Teil gab, den er so viele Jahre verschwiegen und vor sich selbst verleugnet hatte.
Grace und ich hatten ein langes Gespräch über die Sache mit Alec geführt. Mit Abby hatte Grace nicht richtig reden können. Die verstand Alec nämlich nicht und sobald sie gesehen hatte, dass Grace mit den Veränderungen klar kam und bei ihr und Alec alles wieder okay schien, war das Thema für sie vom Tisch. Henna hatte genug eigene Sorgen. Nicht nur das ihre Schwägerin Joanna zuhause rausgeflogen war, und es nun zwischen ihr und den Eltern ständig krachte, auch in Hennas eigener Familie war gerade viel los. Seit ihre jüngste Schwester Mischa einen festen Freund hatte, schienen es ihre Eltern mit dem Beschützen zu übertreiben. An beiden Fronten war Hennas Fingerspitzengefühl gefragt, um die Wogen zu glätten, und die Familienharmonie wiederherzustellen. Tamsyn war Single und schied damit irgendwie aus. Also war es mir ganz logisch erschienen, dass Grace ein paar Tage nach Alecs Offenbarung, gefragt hatte, ob ich Zeit hatte, vorbeizukommen.
Bei einem Eistee hatte ich dann endlich die ganze Geschichte erfahren und begriffen, dass ich Alec verstand. Er hatte verdrängt, dass sein Vater sich zu Tode getrunken und dabei die Farm, den wichtigsten Ort für Alec, gleich mit versoffen hatte. Er hatte all das aus seinem Leben gestrichen. Und schließlich war der Punkt erreicht, wo alles so weit weg gewesen war, dass es nicht mehr real schien. Das verstand ich von allem am Besten. Mir erschien auch so vieles nicht länger real. Hatte ich wirklich mal geheiratet? Und war mein Mann tatsächlich vor einem Jahr gestorben und ich auf seiner Beerdigung gewesen, leer vom vielen Weinen, das dennoch nicht aufhören wollte?
Vielleicht war es so gewesen, doch ich hatte all das immer mehr verdrängt. Ich hatte keine andere Idee, wie ich je aufhören sollte, mit dem im Leben stehen bleiben. Wie sollte ich weitergehen, wenn diese Erinnerungen mich wieder und wieder zurück in die Vergangenheit zogen?
Das Verdrängen half nicht, die Leere zu besiegen, die mich erfüllte. Aber wenigstens versuchte ich nicht länger, bei allem, was ich tat, was ich sah und erlebte, an Simon zu denken. Ich fragte mich nicht mehr, hätte Simon das gemocht? Hätte ihm das Essen geschmeckt? Würde ihm eher das dunkelblaue oder das violette Oberteil an mir gefallen?
Ich war weit davon entfernt, über seinen Tod hinweg zu sein. Ganz sicher war ich nicht bereit, loszulassen und weiterzugehen. Aber ich fand mich immer besser in meine Rolle als neue Eden ein. Ich lächelte, sobald jemand erwartete, dass ich lächelte. Ich wirkte ehrlich, wenn ich ihnen versicherte, dass es okay war, in meiner Gegenwart von Männern und von der großen Liebe zu reden. Wenn ich behauptete, es wäre kein Problem, Simons Namen zu erwähnen und das ich gelernt hatte, mit dem zu leben, was passiert war, klang es als meinte ich es so. Es schmeckte nur für mich falsch, wenn sich die Lüge über meine Lippen hinaus in die Freiheit schlich.
Trotz meines Kummers gelang es mir, mich ehrlich für Grace zu freuen. Sie war immerhin meine Freundin und sie völlig am Ende zu erleben, hatte mich zu sehr daran erinnert, wie meine eigene Welt zusammengebrochen war. Ich wusste, wie es war in einem Scherbenhaufen zu sitzen und nicht zu wissen, wie man aufstehen sollte, ohne sich zu verletzen. Mittlerweile glaubte ich, dass es unmöglich war, unbeschadet aus so einer Situation herauszukommen. Doch bei Grace heilten die Wunden. Sie hatte Alec eine zweite Chance gegeben und er liebte sie und seine Kinder genug, um diese nicht achtlos mit Füßen zu treten und wegzuwerfen. Er war, wie sagte Grace immer: schwierig, eigen und kompliziert. Aber er war nicht blöd.
Als meine Freundin also am Mittwoch angerufen hatte, um zu fragen, ob ich beim Umzug helfen könne, stimmte ich sofort zu. Ich hatte keine Ausrede. Sie wusste ja, dass ich mich an den Wochenenden, an denen ich nicht arbeitete, zuhause verkroch. Außerdem versteckte sich die neue Eden nicht. Wenn ihre Hilfe gebraucht wurde, war sie zur Stelle und scheute auch nicht die Gesellschaft einer großen Menschenmenge. Ich hatte damit gerechnet, dass mich viele Helfer erwarten würden, und reagierte daher nicht überrascht, als ich ausstieg und bereits ein buntes Treiben vor dem Haus der Valmonts herrschte.
„Grace?“, rief ich, als ich durch die geöffnete Tür herein kam. Dabei wich ich Marcus aus, der mit einem Umzugskarton beladen an mir vorbei ging und mir zur Begrüßung zunickte.
Draußen vor dem Haus standen zwei LKW's mit dem Logo eines Bauunternehmens, sowie Alecs Volvo. Da Tammy und Henna erst am Nachmittag dazu stoßen würden, hatte ich gar nicht erst nach ihren Wagen Ausschau gehalten.
„Grace? Abygail?“, versuchte ich es ein weiteres Mal und wandte mich linker Hand zur Küche. Mein Instinkt funktionierte offensichtlich prima. Denn dort fand ich die Frauen. Grace räumte die Schränke aus, Abygail packte die Kartons und die junge, blonde Frau, die das Geschirr, das Grace ihr reichte, in Packpapier einhüllte, musste dann Rina sein. Sie war das jüngste Mitglied des Kochclubs. Denn nachdem wir beschlossen hatten, noch ein bis zwei Frauen mit einzuladen, hatte Grace die Floristin kurzerhand gefragt und sie hatte tatsächlich zugestimmt.
„Eden!“ Grace hatte mich entdeckt, stellte eine Suppenschüssel auf die Anrichte und kam auf mich zu. Ihre Umarmung war fest, herzlich und ihre blauen Augen blitzen voller Tatendrang. Ich bewunderte, wie leicht es ihr gelungen war, umzuschalten. War sie vor ein paar Wochen noch völlig am Ende gewesen, hatte sie nun ein neues Ziel vor Augen und wirkte wie ein Gummiball, immer in Bereitschaft vorwärtszukommen, ohne sich dabei zu verausgaben. Ihre Energiereserven schienen unerschöpflich.
Abygail fing meinen Blick auf und deutete ihn gewohnt richtig. Sie hätte genauso gut Psychologin werden können, statt Allgemeinmedizinerin. Allerdings war sie dafür zu direkt. Dinge schonend auf den Punkt zu bringen, war nicht Abbys Stärke.
„Gräme dich nicht, Schätzchen“, Abby lachte. „Das sind die Hormone einer Schwangeren. Dagegen können wir nur verlieren.“
„Was soll das denn heißen?“, empörte sich Grace und hatte dabei ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Sie zeigte es nicht deutlicher, aber das Lächeln verriet mir ausreichend, wie sehr sie sich auf den Familienzuwachs freute. Wie glücklich sie war. Das Bild der weinenden und völlig aufgelösten Grace verschwand und obwohl ich den Stich Eifersucht merklich spürte, war ich froh. Froh das Bild gehen zu lassen. Die Welt war wieder im Gleichgewicht. Alles wie immer. Abby beherrschte das Chaos und schien damit zufrieden, ihr Leben in der eigenen Hand zu haben. Nicht mal ein Tornado könnte ihr Angst machen. Henna lebte ihr konservatives Leben, um das sie jeder beneidete, egal wie langweilig es war. Denn obwohl nie etwas Aufregendes passierte, war sie offensichtlich glücklich. Michelle war eben Michelle. Erfolgreich, gutaussehend und trotzdem sie in einem Monat vierzig wurde, ließ sie dieser runde Geburtstag völlig kalt. Sie hatte alles, was sie wollte und dank mexikanischem Blut lief in Sachen Leidenschaft im Bett alles blendend. Das hatte sie uns beim letzten Treffen versichert, nachdem sie ein paar Cocktails zu viel getrunken hatte. Wir zweifelten es nicht an. Und Tamsyn? War wie immer auf der Suche nach dem großen Glück. Ich wusste, dass ich von allen Frauen aktuell mit ihr am meisten gemeinsam hatte. Und dennoch trennte uns so viel. Tammy hatte lange gewartet und sich ganz auf ihren Beruf konzentriert und bei ihrer Suche nach Mr. Right besaß sie scheinbar nicht das glücklichste Händchen. Ich war schon einmal glücklich gewesen. Mein Leben war genauso langweilig, schlicht und doch perfekt, wie das von Henna oder Grace gewesen. Aber dann hatte sich alles verändert. Es war schwer nach etwas zu suchen, wenn man wusste, dass man es verloren hatte. Worin lag da noch der Sinn?
„Eden?“
Ich schreckte aus meinen weit abgedrifteten Gedanken auf und fand zurück ins Jetzt. Grace warf mir einen kritischen Blick zu. Ich ahnte, was sie dachte. Wie sie versuchte einzuschätzen, ob sie mir nicht zu viel zugemutet hatte, als sie mich gefragt hatte, ob ich helfen wolle.
Es war Zeit zu handeln, bevor meine Tarnung als neue Eden, mit der alles in bester Ordnung war, aufflog. Gerade in Abygails Gegenwart konnte ich es mir nicht leisten, auch nur das leiseste Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Wenn ich Abby auf meine Fährte brachte, hätte sie mich bestimmt innerhalb von Minuten entlarvt und zudem versucht, genau zu analysieren, warum ich mich fühlte, wie ich mich fühlte. Und das wollte ich auf keinen Fall. Ich hatte die letzten Monate zu hart dafür gearbeitet, diese Fassade aufzubauen. Und es funktionierte. Es machte den Umgang mit meinen Mitmenschen einfacher. Ich konnte wieder Freude an der Arbeit empfinden, und scheute den Kontakt zu meiner Kundschaft nicht länger. Es machte mir wieder Spaß zu kochen und zu essen. Ich überlegte mir sogar, was ich morgens anzog und war beim Friseur gewesen. Die neue Eden war innen vielleicht nicht vollständig, sondern fühlte sich einsam und unecht an, aber nach außen tat sie mir gut. Ich brauchte sie und konnte nicht zulassen, dass meine Freundinnen sie mir wegnahmen. Nicht mal aus Fürsorge.
„Schon gut. Ich war für einen Moment beeindruckt von deiner Organisation. Das sieht ja fast wie bei einem richtigen Umzugsunternehmen aus.“
Abygail sprang auf meine Worte an. „Na klar. Du weißt ja, wie Grace ist. Das wird vorher im Internet recherchiert und dann komplett durchgeplant. Sie hat sogar Alec einen Zettel ausgedruckt auf dem steht, in welcher Reihenfolge die Männer die Kisten in die Wagen tragen sollen.“
Lachend kam ich endlich in den Raum und wandte mich an Rina.
„Hi, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Eden.“
Die Blonde griff meine Hand und drückte sie. Ihr Lächeln war schüchtern, aber es ließ ihre hellen Augen warm leuchten. „Ich bin Rina. Die Floristin.“
„Das dachte ich mir.“ Ich stemmte die Hände in die Hüften und musterte Grace. „Und was hast du für mich vorgesehen?“
„Kannst du eventuell im Kinderzimmer die Sachen packen? Die Kleidung ist bereits verpackt, das habe ich gestern schon gemacht, aber die Spielsachen und Bücher habe ich nicht mehr geschafft.“ Sie erklärte mir, dass die Männer mit dem Keller und der Garage angefangen hatten. „Danach nehmen sie sich das Wohnzimmer, das Bad unten und das Büro vor.“
„Was ist mit den Möbeln?“, fragte ich nach. „Du weißt handwerklich begabt bin ich so gar nicht.“
„Keine Sorge. Alec hat die meisten Möbel mit Marcus und Macs Hilfe die Woche über schon auseinandergenommen. Das meiste ist also geschafft und beim Rest hilft dir dann“, fragend sah sie zu Rina.
Die lächelte. „Danny.“
„Genau, Danny macht das, sobald du sie ausgeräumt hast. Du musst ihm dann nur Bescheid sagen.“
„Danny?“, fragte ich nach. „Wer ist Danny?“
„Der beste Freund meines Freunds.“
Ich musterte Rina und sie lachte leise. „Zu viel?“
Ehrlich nickte ich. „Aber macht nichts. Ich habe ja den ganzen Tag Zeit durchzublicken. Danny also. Wie sieht er aus? Ich meine, wo und wie ...“
Grace und Rina sahen sich an und dann fingen beide an zu lachen. Nicht auf meine Kosten und wenn ja, wäre ich nicht böse gewesen. Doch der Grund ihres Lachens war anderer Natur. Ich erkannte ihn, als ich ihren Blicken folgte, mich umdrehte und einem Mann gegenüberstand, der mich zurückhaltend ansah.
„Ich bin Danny. Wofür brauchst du mich, Lass?“
Er war nicht besonders groß, ein wenig kleiner als Alec vielleicht. Aber er hatte breite Schultern, ein breites Kreuz und er wirkte gut in Form. Warum mir das auffiel, wusste ich nicht. Vielleicht lag es an dem sportlichen weißen T-Shirt, dass er über der Jogginghose trug. Seine kleinen, schmalen Augen lagen freundlich auf mir und ich versuchte es mit einem Lächeln.
„Hi“, begrüßte ich ihn erstmal. „Ich bin Eden und eigentlich hast du mir schon geholfen.“
Irgendwie war ich froh das Tammy nicht hier war. Sie hätte sich bestimmt köstlich über mein unbeholfenes Gehabe amüsiert. Die anderen waren so nett so zu tun, als bemerkten sie nicht, wie verlegen mich die Situation machte.
„Ich bin eingeteilt, das Kinderzimmer leer zu räumen.“
„Ach so.“ Er lächelte nun und mir fiel auf, dass man es kaum bemerkte. Selbst wenn sich seine Lippen glätteten, wirkte er freundlich. Er hatte das, was man allgemein als positive Ausstrahlung bezeichnete, obwohl ich ihn nicht sonderlich charismatisch fand. Ihn umgab eine gewisse Direktheit, die nicht darauf hindeutete, dass er viel von großen Reden oder Wortmanipulationen hielt.
„Dann ruf einfach nach mir, wenn du so weit bist. Ich baue danach die Schränke ab. Ist schnell gemacht.“
Er drehte sich um, griff nach einer Flasche Wasser, die Grace in großer Menge an der Tür gestapelt hatte, und verließ die Küche. Ich wandte mich daraufhin wieder zu meinen Freundinnen.
„Das war also Danny.“
Rina nickte.
„Lass?“, fragte ich nach. „Was hat es damit auf sich?“
„Blair kommt aus Inverness.“ Sie erklärte, Blair sei ihr Freund.
„Dann ist Danny auch Schotte?“
„Ja, die beiden kennen sich schon ewig. Sie sind zusammen aufgewachsen und haben später mit Blairs Cousins die Firma gegründet.“
Deswegen war er also hier. Grace hatte mir am Mittwoch erzählt, dass Rina die Hilfe von Blair und seinen Leuten zur Verfügung gestellt hatte. Danny gehörte dazu.
„Ich verstehe.“
„Lass klingt doch irgendwie nett, oder?“ Abygails Kommentar zog Schweigen nach sich. „Na es ist charmanter als Baby oder Darling. Ich hasse es, von Männern Darling genannt zu werden.“
„Jim hat dich nie so genannt, stimmt's?“, stellte Grace mehr fest, als das sie wirklich nachfragte.
„Nein“, antwortete Abby trotzdem. „Er hat es nicht mal versucht. Einer der Vorteile, wenn man nicht auf Wolke sieben durch die Ehe fliegt.“
Ich erkannte, dass das ihre neue Art war. Also besaß auch Abygail so was. Einen Umhang, den sie sich umlegte. Nur wirkte er bei ihr wie eine zweite Haut. Abbys neue Geheimwaffe? Ihr schwarzer Humor. Allerdings hatte sie schon vor dem Eheaus mit Jim dazu geneigt, böse Witze zu machen.
„Nennt Blair dich Lass?“, fragte Abby Rina, und bevor das Gespräch nun zu romantisch wurde, nutzte ich den Moment zur Flucht.
„Okay, ich gehe dann mal hoch.“
„Bist du sicher, dass du klarkommst?“, wollte Grace wissen. „Soll ich dir nicht vielleicht helfen, oder ...“
„Mach dir mal keinen Kopf“, unterbrach ich sie mit einem selbstbewussten Lächeln. Das beherrschte die neue Eden meisterlich. Ein weiterer Erfolg auf der Checkliste für meine Tarnung. Ich fühlte mich wie ein Geheimagent auf wichtiger Mission. Geheimagenten hatten selten Glück in der Liebe und ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft James Bond nun schon eine Frau verloren hatte. Ich war James Bond Fan. Ja, auch ich hatte Klischees vorzuweisen.
Auf jeden Fall fühlte ich mich mit der Einsamkeit eines Geheimagenten verbunden und als ich das Kinderzimmer von Mary öffnete und von dem Chaos eines dreijährigen Mädchens umgeworfen wurde, wappnete ich mich für meine Mission. Sie lautete nicht, das Spielzeug möglichst schnell zu verpacken. Das war Graces Aufgabe für mich. Meine Mission war simpler und gleichzeitig schwieriger. „Verliere ja nicht deine Fassung und fang bloß nicht an zu heulen.“
Das waren meine Missionen und ich stolz auf mich, als ich bis mittags durchhielt. Grace war zwischendurch oben gewesen, hatte mir eine Flasche Wasser und ein paar Snacks gebracht. Die Frauen waren mit der Küche fertig.
„Ist es okay, wenn du noch das Zimmer von Phil machst?“
„Natürlich. Gerne.“
„Danny kann dich dann mit dem LKW mitnehmen.“ Sie erklärte, dass die anderen für die erste Tour fertig waren und auf der Farm gebraucht wurden, um auszuladen.
„Ist das okay für dich?“
Ich hatte den Faden verloren und runzelte die Stirn. Meine Gedanken hatten sich an das Farmhaus gekrallt und ich hatte mich gefragt, wie es wohl aussah. Graces neues Heim. Mit Mann und bald drei Kindern. Der Griff um das Kinderbuch in meiner Hand wurde eisern.
„Was ist okay?“, fragte ich zögerlich.
„Mit Danny nachzukommen? Im LKW.“
„Aber sicher, Grace.“ Es war einerlei. Für mich waren alle Menschen im Augenblick eine Herausforderung. Allerdings hatte ich schnell herausgefunden, dass es mir leichter fiel Fremde zu täuschen, als meine Freunde. Fremde kannten mich schließlich nicht und wussten nicht, dass es früher mal eine andere Eden gegeben hatte. Eine, die fröhlicher und unternehmungslustiger gewesen war. Die mit mehr Herz und Begeisterung die Dinge angepackt und das Leben in vollen Zügen geliebt hatte. Danny konnte mir nicht so gefährlich wie Abby oder Grace werden.
„Ist eine gute Idee, Grace, wirklich“, fügte ich energisch an, als sie mich immer noch so ansah, als sei sie nicht ganz überzeugt.
Vermutlich war es der Stress und das Abby nach ihr rief, die den Ausschlag gaben. Meine Freundin nickte mir jedenfalls zu und ging aus dem Zimmer. Ich widmete mich den letzten Büchern und ein paar losen Spielzeugen, die ich noch unter dem Bett und zwischen zwei Schränken gefunden hatte. Als ich damit fertig war setzte ich mich auf Marys Bett, griff nach der Wasserflasche und trank etwas. Ich war so konzentriert bei der Sache, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie anstrengend es war, einem Kleinkind hinter herzuräumen. Woher hätte ich die Erfahrung haben sollen? Ich hatte weder Geschwister mit Kindern, noch selbst welche. Und als Babysitter hatte ich mich auch nie betätigt. Alles, was nicht mit Büchern zu tun hatte, konnte mich als Teenager nur schwer begeistern. Ohne Sephie hätte ich nichts anderes gemacht, als zuhause zu sitzen, zu lernen und zu lesen. Oder mit meinem Vater endlose Spaziergänge zu unternehmen. Nicht besonders aufregend, aber es hatte mir nie etwas ausgemacht. Im Gegenteil. Ich hatte nichts mehr geliebt, als diesen schlichten Alltag. Durch all die Abenteuer, die ich in Büchern erlebte, kam mir mein Leben alles andere als langweilig vor. Auch wenn es nach außen so gewirkt haben mochte. Simon, der selbst das wissenschaftlich orientierte Leben eines Geologie Dozenten führte, hatte sich nie daran gestört. Er war kein großer Partygänger und mit dem Flatirons und den Rocky Mountains vor der Tür war sein Wunsch zu reisen nicht besonders groß gewesen. Wir hatten perfekt zusammen gepasst. Aber geändert hatte das nichts. Jetzt hatte er mich allein gelassen und nichts fühlte sich mehr richtig an. Weder die Dinge, die mir früher etwas bedeutet hatten und mich heute an ihn erinnerten, noch alles hinter mir zu lassen und mich neu zu definieren. Ich versuchte es ja. Und obwohl es mir gelungen war, spürte ich, dass es dabei nur um eine äußere Fassade ging.
Bevor ich jetzt in Tränen ausbrach, schraubte ich die Flasche wieder zu und beschloss in Phils Zimmer zu gehen und da weiter zu machen. Vorher aber wollte ich Danny Bescheid sagen, dass ich fertig war.
Ich ging nach unten und mir fiel sofort auf, wie still es im Haus war. Es hatte etwas Unheimliches, durch die ausgeräumte Küche und den leeren Flur zu gehen. Ich fand Danny schließlich im Wohnzimmer. Er war gerade dabei, eine Schrankwand auseinander zu bauen. Noch hatte er mich nicht gesehen und so beobachtete ich ihn eine Weile, ohne mich bemerkbar zu machen. Ich erkannte, wie konzentriert er zu Werke ging, und wie routiniert seine Handgriffe waren. Denn obwohl das nicht seine Möbel waren, schien er trotzdem zu wissen, wo welche Schraube saß, wann er wie umgreifen musste, so dass ihm kein loses Brett aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Schließlich trafen sich unsere Blicke, als er sich umdrehte, um ein Regalbrett an die Wand zu lehnen. Statt verlegenem Schweigen erntete ich ein freundliches Lächeln. Das hob meine Unsicherheit auf und half mir über den peinlichen Moment. Im Gegensatz zu ihm war mir nur zu gut bewusst, dass ich ihn beobachtet hatte und wenn er mich nicht entdeckt hätte, hätte ich das vermutlich noch immer. Auf das „warum“ hatte ich keine Antwort und daher war ich nur zu gern bereit die Sache schnell zu vergessen.
„Hi“.
Sein Lächeln wurde breiter.
„Hi“, erwiderte er. Als ich schwieg, deutete sein Kopf in einer knappen Bewegung nach oben. „Bist du fertig mit dem Kinderzimmer?“
Dankbar, dass ihm das Reden leichter fiel, nickte ich schnell.
Ich wirkte tatsächlich superkommunikativ. Schon immer war ich eher zurückhaltend gewesen, aber es war mir nie schwergefallen, nett zu sein. Und Danny machte es einem wirklich einfach mit seiner offenen Art. Zum Glück war er lieb genug, sich nicht anmerken zu lassen, wenn er mich für unhöflich oder gar unfreundlich hielt, weil ich trotzdem so kurz angebunden mit ihm umging.
„Wenn ich hier fertig bin, komme ich hoch.“
„Danke.“
Ich ging zur Tür und blieb dann doch wieder stehen.
Jetzt reiß dich zusammen, Eden, mahnte ich mich selbst. Ich wollte wirklich nicht, dass er mich für unmöglich hielt. Nicht weil Rina, wenn sie das erfuhr, schlecht von mir denken könnte. Ich wollte ganz einfach nicht, dass er das von mir annahm, da es nicht stimmte. Ich war weder schrecklich noch kannte ich nicht das Wort Hilfsbereitschaft.
Ich drehte mich also wieder zu ihm und erkannte, dass er bereits weiter arbeitete.
„Soll ich dir helfen?“
Er sah über die breiten Schultern zu mir. „Bist du denn schon fertig da oben?“
„Das kann ich doch machen, während du die Möbel im Kinderzimmer abbaust. Die sind nur halb so hoch und schwer wie das da.“ Ich deutete bei meinen Worten auf die halb abgebaute Schrankwand, die an der Wand lehnte, damit sie nicht umfiel.
Danny nickte. „Klingt vernünftig. Kannst du damit umgehen?“
Ich sah auf den Schraubenzieher in seiner Hand. „Handwerklich bin ich völlig unbegabt.“ Trotzdem streckte ich die Hand aus, als ich zu ihm kam, und nahm ihm den Schraubenzieher ab. „Aber das kriege ich schon hin.“
„Klingt wie eine Kampfansage.“ Er sah von mir zum Schraubenzieher und wieder zu mir. „Hoffentlich an den da gerichtet und nicht an mich.“
Ein Lächeln huschte über mein starres Gesicht. „Was soll ich mit dem jetzt machen?“, lenkte ich unsere Aufmerksamkeit auf das Monster von Schrankwand.
Danny zeigte mir immer genau, welche Schrauben ich lösen sollte und es bestand keine Gefahr, etwas falsch zu machen. Ich war fasziniert davon, wie eingespielt wir zusammenarbeiteten. Nach nur einer Viertelstunde waren wir bereits fertig.
„Das ging schneller, als ich gedacht habe“, gab ich zu und Danny lachte.
„Sagen Frauen immer.“ Er sagte das nicht herablassend. Es war nicht mal so gesagt, als wäre er der Meinung das Frauen kein handwerkliches Geschick besaßen.
„Warum sagst du das?“, fragte ich. Ich konnte mir auf die Äußerung keinen Reim machen, wenn sie nicht so gemeint war, wie man einem Mann im Allgemeinen unterstellte.
„Frauen sehen die vielen Schrauben und denken, das braucht ewig. Männer sehen die Schrankwand und wissen, es ist nur ein Möbelstück. Das kann nicht ewig dauern.“ Er grinste mich an. „Auf dem Bau lernt man die Unterschiede in der Betrachtungsweise beider Geschlechter schnell kennen. Vor allem da, wo Frauen mit im Team sind.“
Ich überlegte, was Rina mir über Blairs Firma erzählt hatte.
„Ihr habt Frauen in eurer Firma angestellt?“
„Angestellt nicht direkt. Deena ist sowas wie eine ständig arbeitende Aushilfe. Sie hat genau so viel Talent, wie ein Mann für den Job mitbringen muss. Aber sie ist eine Frau.“
„Was heißt das?“
„Die Arbeit ist nicht gut für sie, Lass. Zu schwer. Ein paar Jahre zu viel und ihre Knochen sind hinüber.“
Das leuchtete mir ein. Ein Job auf dem Bau war harte körperliche Arbeit und nicht unbedingt ein Frauenjob. Bevor ich Danny fragen konnte, wer Deena war und warum Blair sie als Aushilfe beschäftigte, wenn sie es nicht für richtig hielten, deutete er nach oben.
„Lass uns weiter machen. Der LKW ist beladen und wartet darauf, dass wir ihn zur Farm fahren.“
„Stimmt ja.“ Ich ging voraus nach oben und widmete mich Phils Zimmer. Das ging viel schneller, denn er hatte bereits einen großen Teil seiner Sachen selbst gepackt. Ich war fast fertig, als Danny dazukam und damit begann, auch Phils Möbel abzubauen. Den Schreibtisch und das Bett bauten wir schließlich zusammen ab und dann hatten wir es tatsächlich geschafft. Erst anderthalb Stunden war vergangen, seit Grace und die anderen zur Farm aufgebrochen waren.
Der Weg zur Farm dauerte etwa zwanzig Minuten meinte Danny und ich merkte, wie meine Hände schweißnass wurden. Was sollte ich so lange mit ihm im LKW anfangen? Bisher hatte das mit uns ganz gut funktioniert, weil wir immer was zu tun gehabt hatten. Aber während er den LKW fuhr, saß ich da und hatte das nagende Gefühl, etwas sagen zu müssen. Doch es fehlte mir an Worten und so begann ich nervös meine Hände zu kneten. Mein Blick floh zwischen dem Fenster und seiner Hand auf dem Schaltknüppel hin und her.
„Du wirkst wie ein Vogel im Käfig.“
Ich sah zu ihm und in seinen Augen spiegelte sich ein amüsiertes Lächeln. „Normalerweise beiße ich nicht.“
Seine Worte entlockten mir einen gequälten Versuch gehobener Mundwinkel. „Tut mir leid. Ich bin im Augenblick ...“, unterbrach ich meinen angefangen Satz mit einem ehrlichen Seufzer. Was brachte das. Ich wollte nicht mit einem Fremden über meine Situation sprechen. Ich sah Danny sowieso nie wieder.
„Warum bist du heute hier?“, lenkte ich also von mir ab und stellte eine Frage, die mir erst jetzt einfiel, die aber eigentlich ganz offensichtlich war. Sie hatte nichts mit einem erzwungen Versuch zu tun, ein Gespräch anzufangen.
„Rina sagte, sie bräuchte Hilfe für den Umzug einer Freundin. Blair kann solche Sachen nicht ausschlagen. Wenn sie danach fragt, sowieso nicht.“ Dannys Worte wurden von einem zurückhaltenden Lächeln begleitet. Ich wusste nicht, wie er zu dem stand, was er mir erzählte.
„Aber warum bist du hier?“, hakte ich nach.
„Ich bin nicht allein hier. Blair hat mich und Rick gefragt. Er brauchte uns zum Anpacken und um die LKW's zu fahren.“
„Das ist nur eine halbe Antwort.“
Amüsiert grinste Danny mich an. „Aye, was möchtest du hören, Lass?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Ich wundere mich nur. Was ihr hier macht, macht man für besonders gute Freunde. Für Familie. Das ist kein freundschaftlicher Dienst, den man mal eben für Fremde zur Verfügung stellt.“
„Stimmt. Weißt du, wie ich fahren muss?“
Ich sah auf die Straße. „Da vorne links.“
„Danke.“
Wir verließen die Stadt und fuhren auf die Landstraße in Richtung des Chautauqua Parks.
„Rina sagt, Grace ist eine Freundin.“ Er lächelte mich an, als ich überrascht Luft holte.
„Sie hilft gerne, Blair hilft gerne. Und da wir sowieso hätten arbeiten müssen, ist es Rick und mir einerlei, ob wir hier beim Umzug helfen oder auf der Baustelle stehen.“
„So einfach ist das also.“
Er lachte. „Aye, so einfach ist das.“ Ich spürte, wie sein Blick einen Moment auf mir ruhte.
„Was?“, fragte ich verunsichert.
„Warum ist das so schwer vorstellbar?“
„Ist es nicht. Es hat mich überrascht. Aber es ist nett.“ Ich wollte ihm nicht erklären, wieso es mir im Augenblick nicht leicht fiel, dem Leben zuzugestehen, dass es nett sein konnte.
„Und wo wärst du jetzt, wenn du heute nicht deiner Freundin helfen würdest?“
„Zuhause.“
Als ich nicht weitersprach, warf ich Danny einen Blick zu. Er lächelte und wirkte entspannt, aber abwartend. Er gab sich nicht mit diesem einen Wort zufrieden, so viel erkannte ich in seinem Schweigen. Ich gab also nach.
„Ich arbeite in einer Buchhandlung in der Pearl Street und habe dieses Wochenende frei. Ansonsten arbeite ich oft auch samstags und ... na ja verkaufe eben Bücher.“
„Eine Buchhändlerin. Das gefällt mir.“
Überrascht sah ich ihn an. Mit der Reaktion hatte ich nicht gerechnet. „Warum das? Magst du Bücher?“
„Aye, Lass. Ich lese sehr gerne.“ Er sah mich an. „Was? Schon wieder überrascht?“
Ich lief rot an. Es war wirklich dumm von mir anzunehmen, dass er kein Buchliebhaber sein konnte, nur weil er Bauarbeiter war. Er musste mich entweder für arrogant oder aber für eine Frau mit vielen Vorurteilen halten.
„Tut mir leid.“
Er lächelte. „Dir tut ganz schön viel Leid.“ Er klang nicht wütend, sondern amüsiert.“
„Was liest du denn?“, lenkte ich ab. Ich hoffte, er ließ es mir durchgehen und das tat er. Wahrscheinlich machte er sich über das alles hier weniger Gedanken als ich.
„Kurt Vonnegut, Douglas Adams und Kevin J. Anderson sind meine Autoren. Ich habe all ihre Bücher.“
„Auch gelesen?“, fragte ich nach und war erleichtert, dass es mir gelang neckend zu klingen und nicht ungläubig. Dabei war ich wirklich erstaunt, in ihm einen ScFi-Fan zu entdecken. Er erweckte den Eindruck, Thriller oder Krimis zu lesen.
„Ja, Lass, gelesen. Manche Werke mehr als einmal. Aktuell habe ich Perry Rhodan für mich entdeckt. Verrückte Geschichten, aber ich mag sie. Hast du schon was von Perry gelesen?“
So gelang Danny das Unmögliche. Er bekam mich dazu, mich die letzten zehn Minuten unserer Fahrt in ein Gespräch zu verwickeln. Wir redeten über Bücher und Autoren und ihn schien das überhaupt nicht zu langweilen. Als ich begriff, dass er das nicht machte, um es mir leichter zu machen, mit ihm zu reden, taute ich auf. Am Ende war ich ein wenig traurig, als wir den LKW vor Ranch parkten.
Sobald wir ausgestiegen waren, kam Alec auf uns zu. Er, Marcus und Pablo, der gekommen war, würden nochmal fahren, um den Rest zu holen. Blair begleitete die Männer, weil er den LKW fuhr. Danny nickte. Ich ließ ihn bei Alec, der ihm und Rick, Blairs Cousin, erklärte, wohin sie die Möbel und Kisten aus dem LKW den wir hergefahren hatten, bringen konnten.
Ich ging ins Haus, um die Frauen zu finden und zu fragen, womit ich mich nützlich machen konnte. Dabei fiel mir gar nicht auf, dass ich seit Wochen wieder ein Lächeln im Gesicht trug, das sogar Abbys prüfendem Blick standgehalten hätte.