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Bonn-Beuel
Pützchens Markt
Samstag, 10. September, 16:45 Uhr
»Ach, was habe ich mich gefreut, dich wiederzusehen!« Die nur 1,60 m große, etwas stämmige Senta Rath drückte Janna fest an sich und trat dann einen Schritt zurück. »Tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit für dich habe, aber Peter ist vorhin los, um ein Ersatzteil für den Computer zu besorgen. Und mein Vater sitzt nicht gerne so lange an der Kasse, seit er den dritten Bandscheibenvorfall hatte.« Sie lächelte. »Er kümmert sich lieber um David. Inzwischen hat er sich zum regelrechten Musteropa gemausert.«
»Du kannst glücklich sein, dass du ihn hast«, stimmte Janna zu. »Wie geht es denn deiner Mutter? Kommt sie bald aus dem Krankenhaus?«
»Ja.« Senta nickte. »Sie kriegt so eine Schiene, die muss sie mindestens sechs Wochen tragen. Ich sage dir, sie wird es hassen! Sie hat sich derart aufgeregt, dass sie sich den Knöchel so unglücklich angebrochen hat ... Aber was soll’s. Sie wird es überleben. Und wir sind froh, wenn sie wenigstens stundenweise wieder mithelfen kann. Wir brauchen derzeit jede Hand. Es ist verdammt schwierig, heute noch zuverlässiges Personal zu bekommen.« Senta winkte ab. »Das soll deine Sorge nicht sein. Hier.« Sie griff in ihre Hosentasche und förderte eine Handvoll Fahrchips für den Autoscooter zutage. »Für deine zwei Rabauken.«
»O nein, du hast ihnen doch bereits Chips geschenkt«, wehrte Janna ab. »Das können wir unmöglich annehmen!«
»Ach was, nun nimm sie schon.« Senta grinste, schob ihre silbern gerahmte Brille ein Stückchen auf dem Nasenrücken hoch und ordnete ihr kurzes blondes Haar. »Ich weiß schließlich, wie wild die beiden auf den Autoscooter sind. Fast so schlimm wie du und Betty damals ...« Sie stockte. »Sorry, ich hätte nicht ...«
»Ach was, schon gut.« Janna winkte ab. »Ist doch so lange her.«
»Wirklich, es macht dir nichts aus?« Prüfend blickte sie Janna ins Gesicht.
Janna zögerte. »Ich habe Bettina seit ... der ... Sache nicht mehr gesehen.«
»Du weißt also nicht, wie es ihr geht?«
»Nein. Du?«
Senta schüttelte den Kopf. »Ich habe sie noch viel länger nicht gesprochen und weiß nicht mal, wo sie heute lebt.«
»Ich auch nicht.« Janna seufzte. »Ist wohl besser so.«
»Ich wollte dir nicht die Laune verderben.« Besorgt legte Senta ihr eine Hand auf den Arm. »Tut mir leid.«
»Das hast du nicht.« Janna rang sich ein Lächeln ab. »Aber ich will dich jetzt nicht mehr länger von deinen Pflichten abhalten.«
»Komm ruhig wieder vorbei, falls du in den nächsten Tagen noch mal hier bist. Ich freue mich immer, dich zu sehen.«
Die beiden Frauen umarmten einander ein zweites Mal, dann verließen sie gemeinsam den großen Wohnwagen, in dem Senta mit ihrer Familie während der Jahrmarktsaison lebte. Senta eilte sogleich zum Kassenhäuschen des Autoscooters. Janna ging etwas langsamer in Richtung des Zuschauerbereichs, wo ihre Eltern inmitten einer Gruppe von Teenagern standen und den Zwillingen zusahen, die in ihrem grellgrünen Wagen eine Runde um die andere über die Fläche drehten.
Sie wusste nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte – eine Bewegung im Bereich hinter dem Autoscooter? Als ihr Blick dorthin wanderte, erschrak sie so heftig, dass sie beinahe ein kleines Mädchen umgerempelt hätte, das an der Hand seiner Mutter an ihr vorbeiging. Hastig entschuldigte sie sich und blickte erneut zur Absperrung, die die Jahrmarktgäste daran hindern sollte, zwischen den Wohnwagen herumzulaufen oder sich womöglich an den oftmals abenteuerlich wirkenden technischen Konstruktionen auf der Unter- und Rückseite der Karussells zu verletzen.
Jannas Herz klopfte hart gegen ihre Rippen. Sie hatte sich nicht getäuscht! Den dunkelhaarigen Mann mit dem Vollbart und die ebenso schwarzhaarige Frau hatte sie doch damals in der Wohnung von Axel Wolhagen angetroffen! Jenes Geheimagenten, von dem sie wenig später erfahren hatte, dass er ermordet worden war. Jannas Hände begannen zu zittern. Als das südländische Pärchen in ihre Richtung blickte, brachte sie sich rasch mit ein paar Schritten vorwärts aus ihrem Blickfeld .
Heftig atmend lehnte Janna sich gegen die Wand des Kassenhäuschens, lugte jedoch vorsichtig um die Ecke. Die beiden sprachen jetzt mit einem großen, schlaksigen, grauhaarigen Mann, der ein T-Shirt des Schaustellerbetriebs Rath trug. Offenbar gehörte er zum Personal. Janna meinte sich zu erinnern, ihn schon in den Vorjahren beim Autoscooter arbeiten gesehen zu haben.
Noch einmal linste sie um die Ecke, doch nun waren alle drei Personen verschwunden. Janna schluckte und versuchte, ruhig zu bleiben. Es bestand kein Grund zur Aufregung. Sie hatte nichts zu befürchten, oder? Wahrscheinlich erinnerten sich die beiden nicht mal mehr an sie. Aber was, wenn doch? War sie in Gefahr? Das Pärchen gehörte einer terroristischen Vereinigung an, die sich Söhne der Sonne nannte. Markus Neumann hatte ihr erklärt, dass diese Gruppierung die Befreiung der Welt von allen Religionen anstrebte – nötigenfalls mit Gewalt. Dass sie es bitterernst meinten, hatte Janna im Juli erfahren müssen, als sie versehentlich mitten ins Fadenkreuz dieser terroristischen Aktivitäten geraten war. Glücklicherweise war die Sache gut ausgegangen, hauptsächlich dank Markus, der Agent war und für einen Geheimdienst arbeitete, der unter dem Deckmantel eines Meinungsforschungsinstituts in Bonn agierte. Unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte, blickte Janna zu ihren Eltern, die aber abgelenkt waren und den Zwillingen zuwinkten.
Sie musste den Geheimdienst verständigen. Was, wenn diese beiden Terroristen etwas Schlimmes im Schilde führten? Weshalb sonst trieben sie sich wohl hier auf dem Jahrmarkt herum? Vor ihrem inneren Auge zeichneten sich Horrorszenarien von explodierenden Bomben inmitten der Marktbesucher ab. Sie schluckte und kramte rasch ihr Handy hervor. Mit fliegenden Fingern blätterte sie durch das Telefonbuch, bis sie die Nummer von Markus Neumann fand.
***
Bonn, Kaiserstraße
Institut für Europäische Meinungsforschung
Samstag, 10. September, 17:00 Uhr
Nicht ganz sicher, ob er sich auf seinen bevorstehenden Feierabend freuen sollte, legte Markus den letzten Bericht in seine Ablage und schickte das dazugehörige elektronische Dokument an die E-Mail-Adresse des Leiters der Abteilung für interne Angelegenheiten. Dr. Schwartz hatte sein Büro wahrscheinlich längst verlassen, doch der Zeitstempel auf der E-Mail würde ihm anzeigen, wann Markus sie verschickt hatte. Er hatte keine Lust auf ein weiteres Zusammentreffen mit Schwartz, da nahm er lieber Überstunden in Kauf. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass er sich jetzt allmählich sputen musste. Ihm stand ein anstrengender Abend bevor, denn Alexa war mit Sicherheit entschlossen, aus dem gemeinsamen Abendessen mehr zu machen, als ihm lieb war. Er würde sich aber auf nichts einlassen, und wenn sie sich noch solche Mühe gab.
Vermutlich hatte Melanie recht – er sollte Alexa ein für alle Mal den Laufpass geben. Doch diese Frau war nicht nur anspruchsvoll und anhänglich, sondern auch extrem empfindlich. Falls er nicht aufpasste, konnte er einen Krieg vom Zaun brechen, der die Atmosphäre in seiner Abteilung vergiften würde. Da ging er besser den Weg des geringsten Widerstands und reichte ihr den kleinen Finger, musste jedoch auf der Hut sein, dass sie nicht gleich wieder nach der ganzen Hand griff – und nach dem Rest von ihm.
Während er noch überlegte, wie er den Samstagabend viel lieber verbringen würde, nahm er seine schwarze Lederjacke von der Stuhllehne und warf sie sich über. Auf dem Weg zum Aufzug entfernte er die in Plastik gehüllte ID-Karte, die er am Kragen seines Hemdes befestigt hatte. Er steckte sie in die Innentasche seines Jacketts, hielt jedoch inne, als sein Handy klingelte.
Als er den Namen auf dem Display des Smartphones las, runzelte er überrascht die Stirn. Mit der freien Hand drückte er den Knopf, um den Aufzug anzufordern. »Neumann?«, meldete er sich.
»Oh, gut, dass ich Sie erreiche!«, rief Janna Berg am anderen Ende der Leitung. Markus hatte den Eindruck, dass sie unter Stress stand. Im Hintergrund hörte er scheppernde Technomusik, Bässe und weitere Jahrmarktgeräusche. »Sie müssen mir helfen. Können Sie herkommen? Sie sind hier und ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich eine Spur. »Frau Berg? Immer mit der Ruhe. Wohin soll ich kommen und wer ist dort?«
»Ich bin auf Pützchens Markt. Die zwei ... dieses Pärchen aus Herrn Wolhagens Wohnung – wissen Sie noch? Die sind hier. Ich habe sie hinter dem Autoscooter gesehen, und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll. Vielleicht erkennen sie mich ja, und was dann? Und was, wenn die beiden irgendwas vorhaben? Ich meine, das sind doch«, sie senkte die Stimme, sodass er sie bei dem Hintergrundlärm kaum noch verstehen konnte, »das sind doch Terroristen, oder nicht?«
Inzwischen war der Aufzug gekommen und Markus hatte bereits die Tiefgarage angewählt. Sämtliche Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. »Das stimmt«, bestätigte er. »Wo genau befinden Sie sich jetzt, Frau Berg?«
»Am Kassenhäuschen von Raths Autoscooter. Meine Eltern sind auch da und die Kinder. Ich muss gleich zu ihnen, sonst wundern sie sich, wo ich abgeblieben bin. Aber was, wenn diese beiden ... wenn sie mich mit meiner Familie sehen? Sind wir dann alle in Gefahr?«
»Bleiben Sie ganz ruhig«, antwortete Markus. Kaum hatte sich die Tür geöffnet, war er auch schon aus dem Aufzug heraus und eilte zu seinem schwarzen Z3. »Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen. Lassen Sie sich nichts anmerken, aber entfernen Sie sich nicht vom Autoscooter. Solange Sie sich in einer Menschenmenge aufhalten, sind Sie in Sicherheit.«
»Aber was, wenn die beiden etwas im Schilde führen?« Jannas Stimme zitterte leicht und er fürchtete schon, sie könnte in Panik ausbrechen.
»Ich kümmere mich darum«, sagte er in beruhigendem Ton. »Behalten Sie einfach die Ruhe.« Er unterbrach die Leitung, sprang in seinen Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen an. Gleichzeitig wählte er die Nummer seines Vorgesetzten Walter Bernstein, der sich in seinem verdienten Feierabend befand.
Als Walter sich meldete, schoss Markus bereits mit überhöhter Geschwindigkeit hinaus auf die Kaiserstraße. »Walter, wir haben ein Problem. Frau Berg hat auf Pützchens Markt zwei Mitglieder der Söhne der Sonne entdeckt. Was meinen Sie? – Weiß ich nicht. Ich hatte noch keine Zeit, mit ihr darüber zu sprechen. Ich bin aber schon auf dem Weg zu ihr. Geben Sie den Kollegen vor Ort Bescheid, dass sich möglicherweise etwas tun könnte. Wir brauchen eine Code-Gelb-Alarmierung. – Ja, ich melde mich, sobald ich mehr weiß.« Markus warf das Handy auf den Beifahrersitz und konzentrierte sich darauf, den Jahrmarkt durch den Samstagabendverkehr auf schnellstem Wege zu erreichen.