Читать книгу Ein Frosch zum Küssen - Mila Summers - Страница 6

Kapitel 1

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»Du bist also wirklich Santa?«, fragte das kleine goldgelockte Mädchen auf seinem Schoß mit großen Augen.

»Ja, der bin ich«, erwiderte er wenig überzeugend. Warum hatte er sich bloß von seinem Vater überreden lassen, dessen alljährlichen Weihnachtsmann-Posten zu übernehmen?

Er könnte jetzt ganz entspannt mit seinen Kumpels um die Häuser ziehen, ein paar Bierchen in irgendeiner Kneipe kippen und dann eine nette Blondine in seine Singlewohnung am Lake Shore Drive, der teuersten Wohngegend Chicagos, entführen. Aber leider …

»Warum bist du so grün?« Das Mädchen beäugte ihn kritisch und strich ihm vorsichtig über das Kopfteil seines Kostüms. »Geht nicht ab. In Farbe bist du also nicht gefallen. Meine Mum sagt immer: Wasch dir deine Hände, die sind so schwarz wie bei einem Kaminkehrer. Hast du dich vielleicht schon länger nicht mehr gewaschen und siehst deshalb so grasgrün aus?«

Tja, ihm wäre es ja auch lieber gewesen, er hätte sich für das Event in Dads Shopping Mall dessen Santaverkleidung borgen können. Dummerweise hatte sich dieser allerdings gerade heute dazu bereiterklärt, in der Suppenküche Bedürftigen das Essen auszugeben – verkleidet als Weihnachtsmann.

Dieses klitzekleine, aber durchaus wichtige Detail hatte er ihm verschwiegen und eine halbe Stunde vor der Veranstaltung hier in der Shoppingmall ganz beiläufig in einem Nebensatz erwähnt. Natürlich viel zu spät, um sich anderweitig nach Ersatz umzusehen.

Da damit zu rechnen war, dass ein Haufen Presse vor Ort sein würde, wenn Harrison Morris höchstpersönlich die Suppenkelle schwang, blieb Liam nichts anderes übrig, als das plüschige Dress des Firmenmaskottchens „Freddy“ überzustreifen und sich darin der langen Schlange an hoffnungsvollen Kinderaugen zu stellen.

Oh Gott, er kam sich so schäbig vor, als er dem kleinen Mädchen versicherte, der zu sein, der ihre Wunschliste entgegennehmen und für deren Erfüllung einstehen würde. Die unsagbar grausame Hitze im Inneren des Anzugs trieb ihm sintflutartige Schweißmassen über den Rücken. Weglaufen ging leider nicht. Viel zu anstrengend. Nur gut, dass er dieses absurde Kopfteil trug und ihn so keiner erkannte.

»Sag mal, lieber Santa, bist du vielleicht krank?«

»Wieso fragst du mich das, liebe Emma?«

»Na ja, du bist eben so grün im Gesicht«, offenbarte die schätzungsweise Vierjährige ausgesprochen ehrlich ihren Verdacht. »Vielleicht war das Essen nicht gut oder du hast zu viel genascht. Meine Mum sagt immer: Iss nicht zu viel, sonst bekommst du Bauchweh. Was meinst du? Ob das vielleicht der Grund dafür ist, dass du so komisch aussiehst?« Dabei neigte sie ihren Kopf unschlüssig mal zur rechten, mal zur linken Seite. Gekonnt besah sie ihn sich aus allen Perspektiven, während sie aufgeregt auf seinem Schoß herumhopste. »Und weißt du was?«

»Was denn?«

»Du siehst Mr. Freddy ziemlich ähnlich. Der war bei der Märchenparade dabei. Hm … Wann war die noch mal? Mummy? Wann war die Parade, wo ich so viele Bonbons bekommen habe und ganz schlimme Bauchschmerzen hatte?«, schrie sie durch die Menge an wartenden Müttern und Vätern, die den Weg auf sich genommen hatten, um mit ihren Kindern dem echten Santa zu begegnen, und nun ihm gegenüberstanden. Mr. Morris junior im grünen Freddy-Kostüm.

Ihre Gesichter sprachen Bände. Eine Mutter, die mit ihrem Sohn als Nächste an der Reihe war, starrte ihn ungläubig an, während sie ihrem Fünf- oder Sechsjährigen standhaft immer aufs Neue zu erklären versuchte, dass der echte Santa gerade verhindert war. Missliche Wetterlage … Schneestürme … Glatteis auf der Schlittenrampe, das waren nur einige Wortfetzen, die er von der Unterhaltung aufschnappen konnte.

Immer wieder trafen ihn die fragenden und zugleich missbilligenden Blicke des Publikums. Der Satz Wollt ihr uns eigentlich veräppeln? eines der Wartenden traf ziemlich gut ihre aktuelle Gemütslage. Okay, wenn sie Eier dabei gehabt hätten, wäre er sicher nicht so glimpflich davongekommen.

Nur gut, dass Buddy vom Elfenteam im wirklichen Leben auf den Namen Francesco hörte und die Sicherheit seiner Familie gewährleistete. Liam konnte sich das Grinsen unter dem Kostüm nicht verkneifen.

Francesco sah einfach zu komisch aus in seinen rot-weiß-gestreiften Strumpfhosen, dem grünen Kostüm, das über und über mit Glöckchen behangen war, sowie den berüchtigten Elfenschuhen mit der kleinen Schelle vorne an der Spitze. Diese rundeten sein Outfit erst richtig ab und durften definitiv nicht fehlen.

Nach dieser ganzen Sache hier musste er unbedingt ein Foto von ihm machen und ihn bei nächster Gelegenheit damit aufziehen.

»Jetzt weiß ich es endlich«, meldete sich Emma wieder zu Wort. Der kleine Mund kräuselte sich dabei, während sie gekonnt ihre Stirn in Falten legte.

»Was denn?«

»Na, wer du bist.«

»Wer bin ich denn deiner Meinung nach?«

»Das ist so klar wie Kloßbrühe: Du bist der Froschkönig.«

Ein genervtes, kollektives Raunen ging durch die Reihen, nachdem Emma die Bombe hatte platzen lassen und damit all die mühevoll aus den Fingern gesogenen Ausreden der Eltern zunichtemachte.

Pustekuchen. Die Kinder rebellierten, wollten nun direkt in die Spielwarengeschäfte der Mall und nicht länger darauf warten müssen, diesem Hochstapler ihre innigsten Weihnachtswünsche anzuvertrauen.

Nach und nach lichtete sich das Feld. Die bitterbösen Blicke der Eltern musste er jedoch weiterhin über sich ergehen lassen. Zu einem wirklichen Aufstand kam es Gott sei Dank nicht. Offensichtlich wollten die Eltern die zarten Gemüter ihrer Schützlinge und ihre eigenen Nerven nicht weiter strapazieren.

Konnte man auch nachvollziehen. Da kam man zum alljährlichen Make-a-wish in die Morris-Mall und hoffte, dort auf Santa zu treffen, und bekam stattdessen Freddy, den Frosch, präsentiert. Oh, das würde im Internet sicher ganz schlechte Bewertungen für die Mall nach sich ziehen. Blieb nur zu hoffen, dass sein alter Herr davon nichts mitbekam.

Für das Social Media Marketing war er in der Firma verantwortlich. Wie er seinem Team dieses Debakel allerdings erklären sollte, war dabei eine nachrangige Frage, der er sich sicherlich bald stellen musste.

»Du?« Das kleine Wesen auf seinem Schoß stupste ihn in seinen grünen Froschbauch.

»Huch, du bist ja noch da. Willst du nicht mit deiner Mum Geschenke für dich suchen gehen? Ich leg auch ein gutes Wort für dich ein.« Dies in Form eines universell einlösbaren Gutscheins mindestens in Höhe von fünfzig Dollar, wollte er nicht Gefahr laufen, dass ihn ihre Mutter aufgrund der Vortäuschung falscher Tatsachen anzeigte.

»Na, ich warte noch auf die Bonbons. Oder gibt es die heute nicht?« Dabei blickte sie ihn so erwartungsvoll an, wie es nur Kinder konnten. Beinahe wäre er höchstpersönlich losgeeilt, um welche bei Mrs. Thompsons Süßwarenstand im zweiten Obergeschoss zu besorgen. Zum Glück fiel ihm rechtzeitig wieder ein, dass ihm sein Dad wenigstens Zuckerstangen in Hülle und Fülle dagelassen hatte. Das Einzige, was er ihm an dieser Stelle zugutehalten musste, war die Tatsache, dass er ihn nicht ohne Candies der hungrigen Meute ausgesetzt hatte.

Nachdem er Francesco angewiesen hatte, dem kleinen Mädchen – zum Entsetzen seiner Mutter – den fünf Pfund schweren Eimer mit Süßigkeiten zu übergeben, blickte er zufrieden auf sein Tagwerk.

Wenigstens einen Menschen hatte er heute glücklich machen können. Emma würde sicher zu einer sehr zufriedenen Kundin der Mall heranwachsen. Auftrag erfüllt.

***

Was dachten sich diese Kaufhausheinis bloß dabei? Mittlerweile gab es ja echt die skurrilsten Sachen. An Ostern hatte beispielsweise im Konkurrenzunternehmen ein paar Straßen weiter ein Lebkuchenwettessen mit den Restbeständen des Vorjahres stattgefunden. Diese Aktion hier schoss aber definitiv den Vogel ab.

Jedes Unternehmen hatte so seine Eigenheiten, doch was sich das Marketing bei dieser absonderlichen Inszenierung gedacht hatte, blieb mir schleierhaft.

Wenn nicht gerade Weihnachten gewesen wäre, hätte man es als eine ganz lustige Werbekampagne einstufen können. Wirklich pfiffig und durchaus ein Novum auf dem Gebiet. Zumindest hatte ich noch nichts dergleichen gehört, obwohl ich ja selbst im Marketing tätig war. Aber irgendwann musste mal Schluss sein. Schließlich ging es hier um Weihnachten.

»Wie lange dauert das denn noch?« Meine Zwillingsschwester Sue hielt meine schlafende Nichte im Arm.

Die kleine Hannah war zwar mit ihren vier Monaten viel zu jung, um dem Weihnachtsmann ihre ellenlange Wunschliste zu präsentieren. Dennoch hatten wir uns mitten in der Rushhour ans andere Ende der Stadt aufgemacht, um ihn zu sehen. Den Mann, der auch meine Kindheit maßgeblich mitgeprägt hatte, für den ich jedes Jahr Milch und Kekse herausgelegt hatte, während ich Wochen vor seiner Ankunft feierlich gelobte, ein besserer Mensch zu werden: Santa.

Kopfschüttelnd stand ich da. Doch wie bei einem Verkehrsunfall war ich einfach nicht in der Lage, wegzusehen und meine Schwester davon zu überzeugen, dass es für alle besser wäre, nicht länger an dieser Veranstaltung teilzunehmen.

Das ersehnte Foto mit Santa und der kleinen Hannah war nun eh Geschichte. Wie hätte Sue ihrer Tochter später erklären sollen, warum anstatt Santa ein quietschgrüner Frosch mit seinen hervorstehenden Glubschaugen in die Kamera glotzte, während über dem Bild in allerschönster, geschnörkelter Sonntagsschrift stehen würde: Dein erstes Weihnachtsfest mit Santa.

Das Ganze war eine Farce und ich würde keinen Moment länger diesem absonderlichen Schauspiel beiwohnen.

»Sue, lass uns gehen! Das bringt hier nichts, Liebes«, versuchte ich möglichst einfühlsam auf meine hormongeschüttelte Schwester einzureden. Wer glaubte, dass Frauen nach der Geburt wieder ganz die Alten waren, sollte mal sehen, wie eine stillende Mutter in Tränen ausbrechen konnte, wenn man das letzte Gummibärchen aus der Packung nahm.

Tja, und so stand sie nun vor mir. Den Tränen nahe blickte mich meine zehn Minuten ältere Schwester zutiefst betrübt an. Ihre Mundwinkel hingen schlaff nach unten und in ihrem Kinn bildete sich dieses kleine Grübchen, das ich auch von mir kannte.

Noch ehe ich weitere triftige Argumente anbringen konnte – wobei ein Blick auf das Podium für jeden vernünftig denkenden Menschen hätte ausreichen müssen – wachte meine Nichte schreiend auf. Respekt. Sogar diesem kleinen Wesen war ohne Umschweife in wenigen Sekunden klar geworden, wie bizarr das Ganze war.

Mittlerweile kaute Sue nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie haderte mit sich, ob sie gehen oder bleiben sollte. Jedes Mitglied unserer Familie hatte ein Baby-Foto mit dem Santa aus der Morris-Mall in dem allerersten Fotobüchlein, das unsere Mum für jeden von uns gemacht hatte.

Ich kannte meine eineiige Schwester nur zu gut, um zu wissen, wie traditionsbewusst sie war. Sie eiferte in allen Dingen ihrem großen Vorbild nach und wagte es oft nicht, von den Vorgaben abzuweichen.

Mum war für uns alle eine wahre Überlebenskünstlerin. Sie hatte es geschafft, unseren großen Bruder und uns beide unter einem Dach großzuziehen, ohne dass wir uns in den rebellischen Jahren der Pubertät die Schädel eingeschlagen hatten.

»Ich weiß nicht. Ich hätte schon gerne ein Bild gehabt«, äußerte sie ihre Bedenken, derweil sie das weinende Kind in ihren Armen zu beruhigen versuchte.

»Mit Freddy, dem Frosch? Komm schon, Sue, das kann nicht dein Ernst sein. Ich bastel dir was in Photoshop. Versprochen!« Händeringend setzte ich alles auf eine Karte und schüttelte meinen letzten Trumpf aus dem Ärmel: »Außerdem hat Mum bei unserem Bild auch getrickst. Hast du dir das mal genauer angesehen? Nie im Leben waren wir auf dem Bild zehn Monate alt. Die Aufnahme muss aus dem Folgejahr stammen.«

»Das glaub ich nicht. Mum würde nie … Nein, das hätte sie nicht … Schließlich lügt sie heute nur in den allerausweglosesten Situationen. Nein, ich glaub dir nicht.«

Noch ehe wir die Sache wie zwei erwachsene Frauen ausdiskutieren konnten, bildete sich ein Tumult in der Masse und ein kleines Mädchen stapfte, schwer beladen mit einem riesigen Behälter voller Zuckerstangen, freudestrahlend an uns vorbei.

Ein Blick nach vorne bestätigte meine Vermutung: Freddy, der Frosch, hatte die Bühne verlassen. Die Show war vorbei.

Ein Frosch zum Küssen

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