Читать книгу Ein Anwalt zum Verlieben / Süße Lügen - Millie Criswell - Страница 12
6 Was ist der Unterschied zwischen einem Spleen und einem Anwalt? Der Spleen ist weg, wenn man tot ist.
ОглавлениеDen erfrischenden Herbstwind im Gesicht, joggte Angela durch die High Street Richtung Stiles. Es war noch recht früh, kaum sechs Uhr morgens, die Sonne lugte eben erst über den Horizont, aber sie musste unbedingt die in den letzten zwei Wochen angestaute Energie und Nervosität loswerden.
Jogging klärt den Verstand, schafft Ordnung im Gehirn und in der Gefühlswelt, und die brauchte sie dringend, denn heute war der erste Tag der eidesstattlichen Versicherungen im Fall Rothburg gegen Gallagher.
John Franco würde ebenfalls da sein, was sie schwer nervös machte. Hoffentlich wäre es nicht zu peinlich, jetzt, wo er über ihren Zustand Bescheid wusste. Die schriftlichen Zeugenerklärungen wären zwar Routine für sie, nichts, das sie nicht schon hundert Mal gemacht hatte. Aber sie mischte nicht gern Berufliches mit Privatem.
Matthews Lehrer, sein Verhaltenstherapeut und sein Kinderarzt würden als Erste ihre Aussagen zu Protokoll geben. Und sie würden sich auch den Fragen des gegnerischen Anwalts stellen müssen.
Sie, Angela, wäre zwar da, um zu überwachen, dass die Fragen, die John stellte, fair waren. Obwohl er in diesem Fall so gut wie alles fragen durfte, im Gegensatz zur eigentlichen Anhörung, wo sie Einspruch erheben und den Antrag stellen konnte, Sätze aus dem Protokoll streichen zu lassen.
Warum war sie dann so nervös?
Sie hatte bis jetzt noch keinen Termin beim Frauenarzt vereinbart. Das war ihr irgendwie zu real.
Als ob das allmorgendliche Kotzen nicht Erinnerung genug wäre ...
Und dass ihre Eltern vor ein paar Tagen eingetroffen waren, half auch nicht gerade. Sicher, sie freute sich, sie zu sehen, dennoch wünschte sie sich insgeheim, sie wären in Boston geblieben. So einsam sie hier auch manchmal war, so sehr schätzte sie ihre Unabhängigkeit und die Tatsache, dass sie niemandem außer sich selbst Rechenschaft ablegen musste.
Sie wollte ihre eigenen Fehler machen und auch allein damit fertig werden.
Sam und Rosalie richteten sich derzeit in ihrem neu erworbenen Backsteinhäuschen ein, nur drei Blocks weit von Angelas derzeitigem Apartment entfernt. Mia war noch in Boston geblieben, wollte aber bald nachkommen. Und dann wären sie, wie ihre Mutter schwärmte, wieder eine einzige, glückliche Familie.
Bei diesem Gedanken kam Angela fast die Magensäure hoch, und auf einmal verspürte sie einen wahren Heißhunger. Wie von selber richteten sich ihre Füße in Richtung der Fiorelli’s Bäckerei/Café.
Andrea Fiorelli machte den besten Kaffee, die besten Donuts und Bagels in der ganzen Gegend, gar nicht zu reden von den zahlreichen anderen Leckereien. Ja, Angela hatte plötzlich Lust, so richtig zu schlemmen. Um die Kalorien würde sie sich morgen Gedanken machen.
Morgen. Später. Noch nicht. Diese Worte wurden allmählich zu einem Mantra in ihrem Leben, was so gar nicht typisch für eine Frau war, die nie etwas unnötig liegen ließ.
Als sie sich der Bäckerei näherte, sah sie einen Mann dort stehen, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände japsend auf die Knie gestützt. Er war offenbar nicht in Form und schien starkes Seitenstechen zu haben. Sie konnte ihm das nachfühlen. Mit einem Sport anzufangen, egal mit welchem, war nie besonders spaßig. Seine Haare waren unter einer schwarzen Baseballkappe verborgen, und seine Jogginghose schien ebenso alt und fadenscheinig zu sein wie ihre. Er drehte sich ein wenig, so dass er ihr den Rücken zukehrte und sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Aber muskulös war er, das musste man ihm lassen.
Wahrscheinlich so ein untrainierter Bodybuilder wie Lou Santini, Metzger und Frauenschwarm von Little Italy, der mit seiner Mutter über dem Metzgerladen wohnte. Angela war ein, zwei Mal mit Lou ausgegangen, rein freundschaftlich. Sie hatten nicht genug gemeinsam, um mehr daraus entstehen zu lassen.
Angela hielt neben dem Fremden an, tippte ihm auf die Schulter und fragte: »Entschuldigen Sie, aber fehlt Ihnen was?«
»Außer dass mir die Lungen explodieren, nichts«, keuchte er, richtete sich auf und drehte sich um.
Angela, die ihn nun erkannte, stöhnte innerlich. Wieso nur musste es John Franco sein? Meine Güte, sie war ungeschminkt und trug einen Pferdeschwanz! Sie sah ja aus wie eine halbwüchsige Göre. Nicht, dass es sie interessierte, was er dachte, ermahnte sie sich. Freunden war es egal, wie schlecht Freunde aussahen.
Lügnerin!
Klappe, DeNero!
John Franco grinste schon wieder auf diese umwerfend sexy Art, und Angela musste unwillkürlich an das denken, was Wanda über seine Qualitäten im Bett gesagt hatte. Sie merkte, wie sie prompt rot anlief.
Freundschaft wird soo überschätzt!
»Ach, hallo, Angela! Schön, dich wieder zu sehen.« Sein Blick glitt rasch über sie hinweg, und das Lächeln wich einem Ausdruck der Besorgnis, »Bist du dir sicher, dass du in deinem Zustand joggen solltest? Womöglich ist es nicht gut für das Kind.«
Seine Anmaßung erboste sie. »Ich bin kerngesund. Und deine Besorgnis weiß ich zwar zu schätzen, aber ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Das tue ich nämlich seit geraumer Weile.« Das klang natürlich alles etwas schnippisch, aber er hatte mit seiner Frage einen wunden Punkt berührt.
»Warst du schon beim Arzt?«
Abermals lief sie rot an. »Nö, noch nicht. Aber das mach ich bald. Ich habe beschlossen, das Kind auf jeden Fall zu behalten.«
John strahlte vor Freude, als er das hörte. Warum er sich so freute, war ihm nicht ganz klar. »Das finde ich toll!«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du auch hier wohnst. Ist dein Büro nicht in Fell’s Point?« Das lag zwar auch nur ein paar Blocks entfernt, gehörte aber nicht mehr zu Little Italy.
»Stimmt, meine Wohnung auch. Dachte, ich könnte mein Laufpensum ein bisschen erweitern, ohne mich gleich umzubringen, hab mich aber wohl getäuscht. Meine Brust fühlt sich an, als würde sie jeden Augenblick platzen.«
»Wenn du erst vor kurzem mit dem Laufen angefangen hast, solltest du dich nicht zu sehr überfordern. Lass es langsam angehen. Lass deinem Körper Zeit, sich daran zu gewöhnen.« Sie erlaubte sich einen zweiten lüsternen Blick auf seinen Prachtbody. Der Gute sah aus wie ein Vorzeigeathlet – und da gab sie ihm Trainingstipps? Ha! Was für ein Witz!
»Ich laufe eigentlich schon seit ein paar Jahren, aber ich habe zehn Jahre lang geraucht und es erst neulich aufgegeben.« Er zog den Ärmel seines Sweatshirts zurück und zeigte ihr das dicke Nikotinpflaster auf seinem Unterarm. Reichlich stolz, fand sie. Nun ja, wenn ich als Mann solche Arme hätte, wäre ich auch stolz.
»Wie schön für dich.«
John sah zum Anbeißen zerknittert aus. Die Baseballkappe gab ihm ein jungenhaftes Aussehen, um sein kantiges Kinn sprossen die Stoppeln, und er wirkte, als wäre er gerade erst aus dem Bett gerollt.
Er sah himmlisch aus, während sie, Angela, verheerend aussah.
Typisch.
Immer das alte Problem: Männer sahen mit zunehmendem Alter zunehmend besser aus, während Frauen dahinschrumpelten wie getrocknete Feigen.
»Also, ich hab einen Mordshunger und ...«
»Darf ich dich auf einen Kaffee und ein Donut einladen?«, unterbrach er sie.
Sie überlegte kurz und schüttelte den Kopf. So verführerisch sein Angebot auch war, sie durfte es nicht annehmen. Freundschaft war gut und schön, aber im Gerichtssaal waren sie schließlich Gegner. »Ich halte das unter den gegebenen Umständen für gar keine gute Idee, aber trotzdem danke. In ein paar Stunden werden wir uns an einem Konferenztisch im Gericht gegenübersitzen, wo ein Gerichtsprotokollant alles aufschreibt, was wir sagen. Es ist besser, wenn wir etwas berufliche Distanz wahren.«
»Wieso? Hast du Angst, ich könnte deine Strategie rauskriegen?« Wieder dieses Killergrinsen. Angela stellte fest, dass Männer mit Grübchen gesetzlich verboten sein sollten. Die einzigen Grübchen, die sie besaß, befanden sich auf ihrer Kehrseite, und an denen war absolut nichts Anziehendes.
»Wohl kaum. Ich will nur nicht in einen Interessenkonflikt geraten. Immerhin stehen wir im selben Fall auf gegnerischen Seiten. Und ich glaube nicht, dass gegnerische Anwälte miteinander fraternisieren sollten.«
»Ich bezweifle, dass uns eine Tasse Kaffee und ein Donut gleich korrumpieren werden. Außerdem, ich liebe die Gefahr, du nicht?« Aber wenn man Angela DeNero so betrachtete, wurde klar, dass sie ein risikoloses, geordnetes Leben liebte.
Sie trug zwar Jogginghosen, doch es war nicht zu übersehen, dass sie gebügelt waren. Welcher Mensch, der noch bei Verstand war, bügelte seine Joggingsachen? Er hatte ja kaum Zeit, seine Hemden in die Reinigung zu bringen.
Aus ihrem Pferdeschwanz hatte sich zudem kein einziges Härchen gelöst. Auf einmal verspürte er das dringende Bedürfnis, ihr kräftig den Kopf zu zausen. Selbst ganz ohne Schminke sah Angela umwerfend hübsch und sexy aus. Und sie roch gut, so frisch und sauber, als wäre sie gerade der Dusche entstiegen, obwohl sie doch verschwitzt war.
»Bis heute Nachmittag dann.«
»Du solltest wirklich ein bisschen lockerer werden, Angela. Ich wollte einen Milchkaffee springen lassen. Und zwei gepuderte, marmeladengefüllte Donuts dazu.«
Sie lächelte und gab, wider besseren Wissens, nach. »Wie könnte ich einem solchen Angebot widerstehen? Also gut, eine Tasse Kaffee, aber dann muss ich gehen.«
Sie betraten die Bäckerei, bestellten sich glasierte und gepuderte Marmeladendonuts und Kaffee und setzten sich an den kleinen runden Tisch am Fenster. Sie waren an diesem Morgen die ersten Kunden.
»Ich fürchte, du hast meine Schwäche entdeckt. Ich bin verrückt nach Marmeladendonuts«, verkündete Angela und biss herzhaft in das Objekt der Begierde, obwohl sie es sich am liebsten in einem Stück in den Mund gestopft hätte.
John unterdrückte ein Lächeln. »Ich mag Frauen mit gesundem Appetit.« Sein Blick hing an ihren Lippen, die nun voller Puderzucker waren, und er verfolgte ihre Zungenspitze, wie sie hervorschoss und genüsslich den Zucker ableckte. Ein Knoten formte sich in seinem Magen, den er jedoch zu ignorieren versuchte.
»Na, den habe ich, so viel ist sicher. In letzter Zeit esse ich alles, was lange genug stillhält, nur um es kurz darauf wieder rauszukotzen.« Erschrocken über das, was ihr da rausgerutscht war, hielt sie sich die Hand vor den Mund.
Er lachte. »Glücklicherweise habe ich keinen schwachen Magen, also mach dir keine Sorgen. Hast du’s schon jemandem gesagt, außer mir, meine ich, das mit dem Baby?«
Angela schüttelte den Kopf und senkte die Stimme, obwohl sie wusste, dass Mrs. Fiorelli zu weit weg war, um sie zu verstehen. »Nein. Ich besuche heute Abend meine Eltern, aber ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, es ihnen zu verraten. Ich glaube nicht, dass sie allzu glücklich darüber sein werden.«
Er hob verwundert die Braue. »Schwer zu glauben. Wie mein Onkel Frank sagen würde: Italiener und ihre Enkelkinder – nervig‹.« Er konnte den Dialekt der Italo-Amerikaner perfekt imitieren.
Angela lachte und erklärte dann: »Für meine Eltern war ich von klein auf so was wie die Mustertochter. Hatte in der Schule stets nur die besten Noten, dann das Harvardstipendium und schließlich dieser tolle Job in einer der angesehensten Anwaltskanzleien, wo ich obendrein viel Geld verdient habe. In ihren Augen kann ich gar nichts falsch machen.
Und jetzt bekomme ich ein uneheliches Kind. Glaub mir, das passt überhaupt nicht ins Bild. Meine Mutter ist sowieso schon pessimistisch genug. Diese Nachricht wird für sie endgültig den Weltuntergang einläuten.«
»Dann machst du dir also Sorgen darüber, dass sie rauskriegen könnten, dass du Fehler und Schwächen hast, so wie wir alle? Das solltest du nicht. Ich hatte immer ein recht antagonistisches Verhältnis zu meinen Eltern, eine Art Hassliebe, wenn du so willst. Aber wenn ich nach Hause käme und ihnen sagen würde, dass sie ein Enkelkind bekommen – dann wäre alles vergeben und vergessen.«
Angela bemerkte den schmerzlichen Ausdruck in seinen Augen. »Warum verstehst du dich nicht mit deinen Eltern? Sind sie denn nicht stolz darauf, dass du ein erfolgreicher Anwalt geworden bist?«
»Ich kann meinem Bruder nicht das Wasser reichen. Das habe ich nie und werde es auch wohl nie, zumindest nicht in ihren Augen. Du bist die Mustertochter in deiner Familie; Michael ist der Mustersohn in meiner.«
Auf einmal beschlich sie ein ganz furchtbares Gefühl. Sie fragte sich, ob Mia auch so sehr unter dem Stolz ihrer Eltern auf ihre Älteste gelitten hatte. Nicht, dass Sam und Rosalie Mia nicht lieben würden, aber Angela wusste, dass sie ihr Schmuckstück war und blieb.
John erriet den Grund für den besorgten Ausdruck auf Angelas Gesicht. »Du hast eine jüngere Schwester, nehme ich an. Mach dir keine Sorgen. Deine Verhältnisse lassen sich bestimmt nicht mit meinen vergleichen.«
Sie hoffte, dass seine Einschätzung stimmte, und stellte dann die Frage, die sie ihm schon seit einiger Zeit stellen wollte. »Wieso bist du so nett zu mir?«
»Ich versuche, meinen schlimmen Fehler, dich in der Schule nicht angebaggert zu haben, wieder gutzumachen.«
Jetzt grinste sie ebenso wie er. »Na, wenn das so ist, dann bestelle ich mir gleich noch einen Donut. Du bist mir noch was schuldig.«
Wieder in seiner Wohnung, duschte John, setzte einen Kaffee auf und zog sich einen dunkelblauen Anzug mit burgunderroten Nadelstreifen an. Danach schenkte er sich den Kaffee ein – schwarz, so wie er’s am liebsten mochte.
Den Kaffeebecher in der Hand, ging er raus in den Flur und stellte sie vor dem ovalen Garderobenspiegel ab, wo auch seine Aktentasche stand und ihn daran erinnerte, dass er sich noch vorbereiten musste, bevor er sich heute Nachmittag Angelas Zeugen vorknöpfen könnte. Die Lady war ziemlich auf Zack, und er musste aufpassen, dass er nicht den Anschluss verlor.
Aber er freute sich, Angela so bald wieder zu sehen. Es war schön mit ihr gewesen im Coffee Shop, es war schön, sie näher kennen zu lernen. Sie war echt witzig, wenn sie sich nicht gerade über jede Kleinigkeit Sorgen machte. Sie sorgte sich viel zu viel, hatte jedoch zurzeit wohl auch allen Grund dazu. Schwanger zu sein und keinen Vertrauten zu haben musste ziemlich hart sein.
Den Knoten seiner burgunderrot-grau gemusterten Krawatte zurechtrückend, musterte er sich nochmals prüfend im Spiegel. In Peters Augen könnte er sowieso nie bestehen, aber er fand, dass er ganz akzeptabel aussah.
John wollte gerade gehen, als es an der Tür klingelte. Er warf einen Blick auf seine Uhr und fluchte. Kaum acht. Er musste ins Büro. Wer störte ihn schon um diese Zeit?
Tony war inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen, musste aber zu Hause noch das Bett hüten, also konnte er es nicht sein. Seine Eltern hätten inzwischen schon die Reinigung geöffnet, um den Berufstätigen die Möglichkeit zu geben, vor Bürobeginn noch ihre Sachen vorbeizubringen. In diesen Dingen waren sie äußerst penibel. Tatsächlich hatte Franco’s Dry Cleaners seines Wissens nur einmal verspätet aufgemacht, und das war, als sein Vater mit einer akuten Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden war.
John war ratlos ... Konnte das Angela? ...
»Na klar, träum schön weiter, Franco!«
Wieder ertönte die Klingel, diesmal dreimal kurz hintereinander, als würde der Besucher allmählich ungeduldig werden.
Er öffnete.
Und wünschte sofort, er hätte es nicht getan.
»Du solltest dich was schämen, Johnny Franco!«
Eindeutig nicht Angela. Er stöhnte innerlich.
»Wie kannst du dich nur gegen deine eigene Familie verschwören?« Sophia Russo stand wie ein Racheengel im Türrahmen und funkelte ihn wütend an. Dann stupste sie ihre daneben stehende Schwiegermutter mit dem Ellbogen an und – schwups – traten beide ein.
John war zu verblüfft, um zu reagieren, nicht dass man ihm etwa eine Chance dazu gelassen hätte.
»Das stimmt, Johnny, Mary ist außer sich, dass du dich gegen sie und Dan stellst«, erklärte Oma Flora, deren runzliges Gesicht blass aus ihrem schwarzen Kleid herausragte. Sie stützte sich auf ihren Gehstock.
Flora trug stets Schwarz. Sie betrauerte nach wie vor ihren vor über zehn Jahren verstorbenen Mann Sal. Sophia trug ebenfalls Schwarz; sie war sozusagen in permanenter Trauer - über ihren Mann, ihre Kinder und das Leben im Allgemeinen.
John ließ sich nicht beirren, was gar nicht leicht war, angesichts dieser übermächtigen Gegnerschaft. »Mir bleibt in dieser Sache leider keine andere Wahl.« Er versuchte zu erklären, sah jedoch an den verkniffenen Mienen der beiden, dass dies vergebliche Liebesmühe wäre. »Ich wollte mit Mary über meine Gründe reden ...«
Sophia hob die Hände, um ihm das Wort abzuschneiden. »Meine Tochter ist außer sich. Und was ihr Mann von all dem hält, will ich gar nicht erst sagen. Madonna mia, disgrazia! Das ist ein schwarzer Tag für die Familie. Wie sollen wir den Leuten noch gegenübertreten, wenn das rauskommt! Du musst sofort damit aufhören, oder du wirst am eigenen Leib spüren, was passiert.«
Sophia hatte diesen Vito-Corleone-Blick aufgesetzt, der nichts Gutes verhieß.
Er bot seiner Tante und seiner Großmutter einen Platz auf dem Sofa an, doch sie lehnten ab. Umso besser, dann brauchte er nicht die Zeitungen der vergangenen Tage wegzuräumen. Sophia verschränkte die Arme vor der Brust, und Oma blieb ebenfalls vor der Eingangstür stehen, um ihn so an der Flucht zu hindern.
»Mein Partner, Tony Stefano, hätte diesen Fall eigentlich übernehmen müssen, aber er hatte einen Herzanfall.«
Oma schnalzte mitleidig, schüttelte den Kopf und bekreuzigte sich. »Er tut mir Leid, Johnny. Aber diese schrecklichen Leute wollen das bambino aus seiner Familie reißen. Sie sollen sich jemand anderen für ihr schmutziges Geschäft suchen. La famiglia, Johnny. La famiglia. Was würde Opa Sal bloß sagen, wenn er noch lebte und das hörte? Möge er in Frieden ruhen. Der Mann war ein Heiliger.«
John fragte sich, wieso Männer – besonders Ehemänner – nach ihrem Tod regelmäßig in den Heiligenstand erhoben wurden. Sie konnten im Leben noch solche Mistkerle gewesen sein, sobald sie mal zwei Meter unter der Erde lagen, war alles vergeben und vergessen, und sie machten in der religiösen Hierarchie kurz vor Jesus Halt.
»Hat Mary euch hergeschickt?« Was allerdings so gar nicht zu seiner Kusine passen würde. Aber Mary war offenbar außer sich. Nicht dass er ihr das vorwerfen konnte.
Herrgott noch mal! Ich hab Tony gewarnt, dass das passieren würde. Was kommt als Nächstes – ein Pferdekopf in meinem Bett?
Sophia schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Deine Kusine ist viel zu aufgebracht. Deine Großmutter und ich müssen diese Familienangelegenheit selbst in die Hand nehmen. Du brauchst nur zu versprechen, diesen Fall abzugeben, und alles ist wieder gut.«
John wünschte, er könnte ihren Wunsch erfüllen. »So sehr ich das auch möchte, Tante Sophia, ich kann nicht. Charles Rothburg wird von unserer Firma vertreten, und als derzeit einziger verfügbarer Partner war ich verpflichtet einzuspringen.«
»Und dich gegen Mary zu stellen? Ihr ihren Sohn wegzunehmen?« Sie küsste das kleine Goldkruzifix, das sie um den Hals trug, und bekreuzigte sich zur Sicherheit zusätzlich. »Was denkst du dir bloß dabei, Johnny? Matthews Mutter ist eine puttana. Eine Rabenmutter. Sie hat ihren kleinen Jungen verlassen.«
»Ich habe den Rothburgs ja nahe gelegt, sich einen anderen Anwalt zu suchen, aber sie wollten nicht. Mir sind die Hände gebunden. Ich habe keine Wahl. Tut mir Leid.«
Oma Flora trat vor und tätschelte ihrem Enkelsohn die Wange. »Das ist schlimm, Johnny, sehr schlimm, was du da tust. Deine Familie liebt dich. Wir wollen nicht sauer auf dich sein, wir wollen kein böses Blut. Du wirst doch noch mal drüber nachdenken, nicht?«
Er merkte, wie sein Gesicht rot anlief. »Ich ...«
»Wenn du diesen Fall nicht ablehnst, Johnny Franco, werde ich’s deinem Vater und deiner Mutter sagen, und danach werde ich dich verfluchen.«
Oma Floras schwarze Augen blitzten. »Pah! Das kannst du nicht. Nur ich kann jemanden verfluchen.«
»Schweig, alte Frau! Mary ist meine Tochter, nicht deine. Es ist daher mein gutes Recht.«
John konnte nicht glauben, dass sich die beiden darüber stritten, wer ihn verfluchen durfte.
Himmel! Wenn das ein beschissener Alb träum war, dann wollte er nur eins: aufwachen.
»Ma, es gibt heutzutage selbstklebende Regalfolie. Wieso nimmst du immer noch dieses Wachstuch? Das ist doch so furchtbar umständlich.« Angela, die erst das besagte Tuch, dann die Reißnägel in ihrer Hand anblinzelte, verzog ablehnend das Gesicht, aber ihre Mutter ließ sich nicht beirren.
»Man muss das nehmen, was am besten ist, Angie. Es kostet zwar ein bisschen mehr, das ist wahr, aber was soll’s? Dieses Klebepapier taugt nichts. Und in der Küche verbringe ich nun mal die meiste Zeit. Ich möchte, dass alles hübsch ist. Wieso glaubst du, mache ich das alles erst jetzt? Weil ich auf das Wachstuch gewartet habe. Es musste bestellt werden.«
»Dieses Erbsengrün ist abscheulich, Ma. Sieht aus wie Erbrochenes.« Und es war exakt dieselbe Farbe und dasselbe Muster, das Rosalie auch in ihrer letzten Küche verwendet hatte.
Originalität war nicht Rosalie DeNeros Stärke. Einrichten auch nicht. Die DeNeros hatten nach wie vor dieselben Möbel, mit denen Angela aufgewachsen war. Dunkle, schwere Mahagonimöbel, die seit wer weiß wie vielen Generationen in Sams und Rosalies Familien weiter vererbt wurden. Auch wenn das Sofa und der eine oder andere Sessel noch ihren ursprünglichen brokatgrünen Bezug besaßen, so hatte dieser Bezug, dank der scheußlichen Herbstmotiv-Schutzbezüge, die Rosalie benutzte, nie das Licht des Tages erblickt.
Rosalie legte die riesige Schere beiseite – zum Schneiden von Wachstuch brauchte man eine extra große, mit einer normalen Schere kam man nicht weit – und schlang die Arme um ihre Tochter. »Ich bin so froh, dass wir wieder zusammen sind, Angie. Mir sind deine Beleidigungen richtig abgegangen. Aber du bist viel zu dünn. Isst du auch genug? Und diese Schatten unter deinen Augen ...«Sie schnalzte mehrmals missbilligend mit der Zunge. »Du arbeitest zu viel. Und wofür? Schon bald wird sowieso alles vorbei sein, und dann hast du dein Leben verschwendet. Ja, bedenke das mal. Die Bibel drückt sich in diesen Dingen ganz klar aus.«
Also konsequent war Rosalie, das musste man ihr lassen. Seit sich Angela erinnern konnte, redete ihre Mutter über den bevorstehenden Weltuntergang. Der bis jetzt glücklicherweise noch nicht über sie gekommen war. Gott war zwar verständlicherweise sicher erzürnt über diese Welt. Aber sie gleich zerstören?
»Ich dachte, du wärst so stolz, dass ich Anwältin geworden bin. Zumindest erzählst du das ständig deinen Freundinnen.«
»Wer sagt, dass ich nicht stolz bin? Sehr stolz sogar. Dein Vater hat auch neulich wieder gesagt, wie stolz er ist, dass du eine so gute Anwältin geworden bist. Und aus dem Munde eines Polizisten ist das ein großes Lob. Du weißt ja, dass er sie nie leiden konnte. Hat zu viele schwarze Schafe erlebt, als er noch auf Streife ging.«
»Apropos Dad, wo ist er eigentlich? Will er seine Lieblingstochter denn gar nicht begrüßen?«
»Stopp!« Rosalie hob mahnend den Zeigefinger. »Du weißt ganz genau, dass euer Vater keine von euch bevorzugt. Er liebt dich und Mia gleich viel. Und ich ebenso. Sam müsste bald wieder da sein. Er ist in den Eisenwarenladen gefahren, um ein paar Nägel zu kaufen. Er will Bilder aufhängen.«
Angela ihrerseits wusste genau, wen oder was sie gerne aufhängen würde.
John hatte sich heute Nachmittag während der Zeugenbefragung absolut scheußlich benommen. Er hatte Fragen gestellt, die ihrer Ansicht nach überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hatten, hatte die Qualifikation des Verhaltenstherapeuten in Zweifel gezogen, hatte angedeutet, dass er sich absolut kein Urteil über Matthews emotionalen Zustand erlauben könne, hatte sogar Miss Osbornes Fähigkeit, ihre Schüler korrekt zu beurteilen, in Frage gestellt. Auch der Kinderarzt war durch den Fleischwolf gedreht worden. Franco hatte den armen Mann gefragt, ob er denn neben seiner Ausbildung auch noch Psychiatrie studiert hätte.
Angela war am Ende zutiefst beschämt und verärgert gewesen.
Es brodelte nach wie vor in ihr, und so hatte sie beschlossen, Sam und Rosalie einen Besuch abzustatten. Nichts war besser, einen von den bestehenden Sorgen abzulenken und ein paar neue Ärgernisse hinzuzufügen, als ein Besuch bei den lieben Eltern. Sie hatte lange überlegt, ob sie ihnen von ihrer Schwangerschaft erzählen sollte, hatte sich aber dagegen entschieden.
»Na, hast du schon ein paar interessante Männer kennen gelernt, seit du wieder hier bist?«
Angela ließ sich seufzend auf einen Küchenstuhl sinken. Das Mantra jeder italienischen Mutter seit der Erschaffung der Welt: Wann wirst du heiraten? »Fang nicht wieder damit an, Ma. Ich bin fertig mit den Männern. Nach allem, was dieser Mistkerl mir angetan hat – bitte, ich will nicht über Männer reden.«
»Sie sind nicht alle wie Bill, Angie. Und eines Tages wirst du heiraten und Kinder kriegen wollen. Und dafür brauchst du einen Mann.«
»Ich hab einen Hund«, meinte sie lakonisch.
»Ich weiß, dass du einen Hund hast. Eine hässlichere Kreatur ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht untergekommen. Ich würde mich schämen, mit so was auf der Straße gesehen zu werden.«
Angela konnte Winston unter dem Tisch knurren hören. »So was solltest du nicht sagen, Ma. Du verletzt damit Winstons Gefühle. Er ist sehr empfindlich, was sein Äußeres betrifft.« Mrs. Matuci hatte Recht – Hunde waren fast so eitel wie Menschen.
»Hat man ihn ausgesetzt? Hast du dir deshalb einen so grässlichen Köter zugelegt? Du und deine Schwester, ihr habt dauernd die Heimatlosen und Verlassenen dieser Welt angeschleppt. Scheint sich nichts dran geändert zu haben.«
»Winston ist eine reinrassige Bulldogge. Ich hab dreihundert Dollar für ihn bezahlt. Das war zwei Tage, nachdem ich hergezogen bin.« In einem schwachen, verrückten Moment, den sie nicht eine Sekunde bereute. Win war ihr Vertrauter. Ihm konnte sie alles sagen, er würde ihre Geheimnisse nie preisgeben.
Rosalie machte große Augen und bekreuzigte sich. Dann hob sie einen Zipfel des Tischtuchs und spähte unter den Tisch. Der Hund begann wieder zu knurren. »Hör sofort damit auf, tu creatura misera, oder ich hole einen Kochlöffel und brate dir eins über. Ich bin deine Großmutter. Du solltest mir ein bisschen mehr Respekt erweisen.«
Angela lachte, als der Hund daraufhin den Kopf auf die Pfoten legte und zu winseln begann. Win mochte ja unschön sein, aber intelligent war er, um nicht zu sagen ein klein wenig feige. Rosalie würde ihn bald lieb gewinnen. Sie konnte gar nicht anders. Sie brachte es nicht fertig, irgendeiner Kreatur ihre Liebe zu verweigern, und mochte sie sie für noch so erbärmlich halten.
In diesem Moment fiel die Haustür mit einem Knall zu. Ihr Vater war wieder da. »Ist das der Wagen meiner Tochter, den ich da vorm Haus stehen sehe?«
Sam kam in die Küche gestapft, gesammelte zweihundertfünfzig Pfund, ein breites Grinsen auf seinem noch recht attraktiven Gesicht. Zum Glück war Angelas Vater groß, und so fiel das Übergewicht nicht allzu sehr auf, obwohl man es seinem Bauch ansah, dass er das Bier liebte. Seine Haare waren makellos schwarz, nur an den Schläfen zeigte sich allmählich ein wenig Grau.
Er gab seiner Frau einen zärtlichen Klaps auf den Hintern und Angela einen Schmatz auf die Wange. »Wie läuft’s so, Angie? Hast dich ja nicht gerade oft blicken lassen.«
»Ihr seid nicht mal eine Woche lang hier, Dad, und ich hatte viel zu tun. Ich arbeite meistens bis in den Abend hinein. Da bleibt mir nicht viel Zeit für etwas anderes.«
»›Für etwas anderes‹? Wir sind deine Familie! Das fällt nicht in dieselbe Kategorie! Hast du auch gute Schlösser an der Tür? Ich werde am besten mal vorbeikommen und sie mir ansehen.«
»Das ist nicht nötig. Meine Vermieterin ist recht geschickt mit dem Schraubenzieher. Sie hat ein neues Vorhängeschloss an der Tür angebracht, und für eine Alarmanlage hatte meine Vormieterin, Mary Gallagher, schon gesorgt.« Sie erwähnte nicht, dass damals bei Mary eingebrochen wurde, weshalb die Alarmanlage überhaupt erst installiert worden war. »Und vergiss nicht, ich habe einen Wachhund.«
»Diesen Fettsack?« Sam verzog das Gesicht und lachte dann. »Ach, geh. Der würde nicht mal seinen eigenen Schwanz erwischen, wenn er einen hätte, geschweige denn einen Einbrecher oder Vergewaltiger.«
Win legte seinen massigen Schädel auf ihren Fuß; Angela spürte seinen Verdruss und ebenso ihren eigenen.
»Hat deine Mutter schon erwähnt, dass Mia gekündigt hat und in ein paar Wochen nachkommen wird? Vielleicht auch früher, wenn sie einen Nachmieter für ihr Apartment findet.«
»Das ist ja toll!« Angela lächelte erfreut. Wenn ihre Schwester da war, dann war sie wenigstens nicht die Einzige, auf die sich die Überfürsorge ihrer Eltern konzentrierte. Als Jüngste war Mia stets verhätschelt worden, was Angela absolut nichts ausmachte, weil ihre Eltern dadurch beschäftigt gewesen waren und ihr nicht pausenlos hinterherschnüffeln hatten können.
»Wird sie hier bei euch wohnen?«
»Selbstverständlich«, erklärte Rosalie, als verstünde sich das von selbst.
Sam und Rosalie waren der festen Überzeugung, dass ledige Töchter bei ihren Eltern zu leben hatten. Der einzige Grund, aus dem sie Angelas Auszug toleriert hatten, war, dass sie eine so noble Universität wie Harvard besuchte. Als schließlich die Zeit fürs Jurastudium kam, war sie ihren Klauen bereits entronnen.
Für Angela war die Freiheit, die ihr das Studium geschenkt hatte, einer der größten Vorteile der akademischen Bildung.
»Wo sollte deine Schwester sonst wohnen? Wir sind ihre Eltern. Wir haben jede Menge Platz.«
Angela hätte Mia gerne zu sich in ihre Wohnung geholt, aber da gab es nur ein Schlafzimmer, und so groß war das Apartment nun auch wieder nicht, besonders nicht für zwei junge Frauen mit jeder Menge Klamotten. Nicht dass Mias Klamotten der Rede wert gewesen wären. Ihre Schwester lief sowieso am liebsten in Jeans und Turnschuhen rum.
»Wie ich sehe, habt ihr schon alles durchgeplant.«
»Du kannst gerne auch wieder zu uns ziehen, Angie«, sagte Sam. »Du weißt, dass wir uns über nichts mehr freuen würden.«
Lieber würde ich mir sämtliche Zähne ohne Betäubung rausreißen lassen.
»Danke, Dad, aber ich mag meine Wohnung. Sie liegt so günstig, auch zu meinem Büro. Und findest du nicht auch, dass ich allmählich ein bisschen zu alt bin, um noch zu Hause zu wohnen?«
»Sei nicht albern. In Italien leben viele Junggesellen in den Vierzigern – man nennt sie mammoni – noch bei ihren Eltern. So ist das bei den Italienern üblich. Eine Mutter wird es nie müde, ihre Kinder um sich zu haben, selbst wenn sie schon erwachsen sind.« Rosalie tätschelte Angelas Wange. »Du wirst immer meine Kleine bleiben, Angela.«
Angela hielt es für klug, um nicht zu sagen genial, schleunigst das Thema zu wechseln. »Und – wie gefällt dir das Rentnerleben bis jetzt, Dad? Wird’s dir schon langweilig?«
Sam zog sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich, wobei er verneinend den Kopf schüttelte. »Noch nicht. Aber wenn’s mal so weit sein sollte, dann dürfte es mir als Expolizist nicht schwer fallen, irgendwo einen Job als Wachmann zu bekommen. Ich schaue jetzt oft Fernsehen – den Shoppingkanal, weißt du.«
»Sam hat sich einen bildhübschen Morgenmantel aus Chenille gekauft und dazu einen atemberaubenden Seidenpyjama.«
»Wie nett«, sagte Angela matt und fragte sich unwillkürlich, wie sie ihrem Kind die Eigenheiten seines oder ihres Großvaters erklären sollte. Nicht viele Kinder konnten verstehen, dass ein Mann, der gerne Frauenkleider anzog, nicht unbedingt homosexuell oder verrückt sein musste. Na ja, verrückt vielleicht schon. Es war eben ein Fetisch, aber ein ziemlich harmloser.
»In welcher Farbe?«
»Ein leuchtendes Saphirblau. Der Stoff ist leider sehr empfindlich; in die Waschmaschine kann ich den Seidenpyjama nicht tun, werde ihn wohl reinigen lassen müssen.«
»Ich habe heute den Postboten kennen gelernt«, warf Rosalie mit leicht geröteten Wangen ein. »Er meint, ich hätte wunderschöne Haut, eine richtige Pfirsichhaut. War das nicht nett von ihm?«
»Hat er dir Avancen gemacht?«, fragte Sam mit finsterem Gesicht, und Angela konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihre Eltern waren seit über vierzig Jahren verheiratet, und noch immer war ihr Vater eifersüchtig auf andere Männer. Sie fand das richtig niedlich.
Bill war nie eifersüchtig gewesen. Natürlich, jetzt wo sie wusste, dass er in eine andere verliebt gewesen war, wunderte sie das nicht mehr.
»Ich sag dir doch dauernd, was für schöne Haut du hast, oder etwa nicht?« Sam ließ nicht locker, doch offenbar war Rosalie von seinem Kompliment nicht so angetan wie von dem des Postboten.
Angelas Mutter benutzte seit jeher die gleiche Gesichtscreme und hatte tatsächlich eine schöne Haut. Rosalies Haut war, im Gegensatz zu Angelas olivfarbenem Teint, sehr hell, und auch ihr dunkelblondes Haar wies auf eine norditalienische Herkunft hin.
Diese hübschen Wangen glühten im Moment. »Himmel, nein! Mr. Castallano hat mir keine Avancen gemacht. Er wollte bloß nett sein.«
»Castallano, so wie diese Verbrecherbande? Il mio dio!« Sam ließ ein paar saftige italienische Flüche vom Stapel. »Als Nächstes erzählst du mir, dass er Verbindungen zur Mafia hat. Ich werde diesen Postboten im Auge behalten. Vielleicht ist er ja im Zeugenschutzprogramm oder so was.«
»Woher soll ich wissen, ob er Verbindungen zur Mafia hat? Ich kenn den Mann doch kaum. Bloß weil wir in Little Italy wohnen, heißt das noch lange nicht, dass jeder hier in der Mafia ist. Du solltest dich schämen, Sam! Deine Eltern – mögen sie in Frieden ruhen – wären außer sich, wenn sie dich so reden hörten. Verallgemeinerungen richten nur Schaden an.«
»Na, dann hab ich mich eben geirrt! Dio! Pausenlos machst du aus allem ein Riesendrama, Rosalie. Was wird das hier? Eine bühnenreife Vorstellung? Kann ein Mann denn in diesem Hause nie was sagen, ohne dass er gleich zusammengestaucht wird?« Er erhob sich. »Ich muss gehen und ein paar Bilder aufhängen.«
Er beugte sich vor und gab Angela einen Schmatz auf die Wange. »Mach dich nicht so rar. Wir sind hergezogen, um in deiner Nähe zu sein, also lass dich gefälligst blicken.«
»Werde ich. Versprochen.«
Sobald Rosalie sicher war, dass ihr Mann außer Hörweite war, beugte sie sich vor und flüsterte in verschwörerischem Ton: »Mr. Castallano ist verdammt attraktiv.«
»Ach, wirklich?« Angela war überrascht, dass ihrer Mutter so etwas überhaupt auffiel, so treu, wie sie Sam war.
Ihre blauen Augen funkelten, als sie begeistert nickte. »Ich finde, er sieht aus wie Cesar Romero. Du weißt schon, dieser verstorbene Schauspieler.«
Angela kam das Bild eines braun gebrannten Mannes mit weißen Haaren und einem strahlenden Lächeln in den Sinn. »Freut mich, wenn du hier ein paar neue Bekanntschaften machst.«
»Hingucken ist doch keine Sünde, oder? Ich bin schließlich noch nicht tot.«
Die Vehemenz, mit der ihre Mutter das sagte, überraschte Angela. »Ich bin mir nicht sicher, ob Dad das genauso sehen würde, Ma. Ich finde es süß, dass er nach all den Jahren noch eifersüchtig ist.«
»Der Weltuntergang steht unmittelbar bevor, Angela. Ich hab viel darüber nachgedacht und ...«
Das war nichts Neues. »Und was?«
Rosalie schüttelte den Kopf, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht beunruhigte Angela. »Nichts. Komm. Machen wir mit dem Auskleiden der Regale weiter.«