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7 Was ist der Unterschied zwischen einem Anwalt und einem Geier? Der Geier kriegt keinen Vielfliegerrabatt.

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Goldman’s hatte sich seit Angelas letztem Besuch enorm rausgemacht. Der Bekleidungsladen lag in der Eastern Avenue, nur einen Katzensprung von Little Italy und ihrem Büro entfernt.

Dank Annie Russo, Teilinhaberin des Ladens, zierte nun Designerkleidung die Schaufensterpuppen in der Auslage. Die abscheulichen Sachen, die es vorher dort zu kaufen gab – zum Beispiel weiße Polyesteranzüge à la Saturday Night Fever –, waren durch Modischeres ersetzt worden.

Selbst die Schaufensterpuppen waren neu. Die alten waren bei einer Serie von Einbrüchen gestohlen worden. Annie war es jedoch mit ihrem eisernen Willen gelungen, ihren Vater zu überreden, wieder neue anzuschaffen. Das war gar nicht so leicht gewesen. Sid Goldman hatte es nicht so mit anatomisch korrekten Schaufensterpuppen. Und er gab auch nicht gerne Geld aus. Schließlich jedoch hatte er sich den Wünschen seiner Tochter gebeugt.

In ihrer Anfangszeit in Baltimore hatte Angela nicht oft bei Goldman’s eingekauft, da sie sich ihre Sachen lieber im Internet bestellte. Aber jetzt, wo Annie für die Warenbestellungen verantwortlich war und zusätzlich Joe geheiratet hatte, wollte Angela Loyalität beweisen.

Sie kaufte sowieso am liebsten in dem Viertel ein, wo sie lebte und arbeitete, da ihr Geld dort ihrer Meinung nach am besten aufgehoben war.

Annie winkte begeistert und kam mit einem strahlenden Lächeln auf Angela zu, als diese den Laden betrat. Sie hatte zwar wie früher eine Schwäche für ausgefallenere Klamotten – heute war es eine rote Lederhose, ein schwarzer Kaschmirpulli und Pumps mit zwölf Zentimeter hohen Bleistiftabsätzen –, doch immerhin war sie wieder zu ihrer natürlichen dunkelbraunen Haarfarbe zurückgekehrt.

Annie hatte sich damals die Haare je nach Lust und Laune färben lassen – pink, rot, lila, egal. Die derzeitige konservative Farbe war ein Hinweis darauf, dass sie seit ihrer Heirat mit Joe etwas vernünftiger geworden war. Und glücklicher, wie es schien.

»Angela, wie geht’s dir so?«, fragte Annie und umarmte sie spontan, »Hab dich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wo treibst du dich bloß rum?«

Angela musste zu ihrer Schande gestehen, dass sie Annie seit deren Hochzeit nicht mehr getroffen hatte. »Ich weiß, tut mir Leid. Ich hatte viel zu tun, musste meine Anwaltspraxis in Schwung bringen, da blieb kaum Zeit für einen Einkaufsbummel. Aber lass dir versichert sein, dass ich von heute nur noch bei dir einkaufen werde und nicht mehr wie bisher im Internet.«

Annie nickte begeistert. »Brav. Sid wird sich freuen, das zu hören. Obwohl wir jetzt auch eine Website im Internet haben, die recht gut läuft. Du kannst also auch auf diese Weise bestellen, falls du mal keine Zeit hast, im Laden vorbeizukommen. Tess ist fürs Internet verantwortlich.«

»Wie geht’s ihr? Wohnt sie noch immer bei deinen Eltern?« Tess Romano war eine der Jugendlichen, die Joe unter seine Fittiche genommen hatte, weil die Eltern des Mädchens, beide Alkoholiker, sich nicht mehr um sie kümmerten.

Angela hatte schon viele großartige junge Menschen kennen gelernt, seit sie im New Beginnings Crisis Center arbeitete. Das Center lag gleich neben Goldman’s, und sie kümmerte sich in Teilzeit um die juristischen Angelegenheiten dieser Einrichtung, während Joe die Jugendberatung innehatte. Einige von den Jugendlichen waren mit dem Gesetz in Konflikt geraten, während andere, so wie Tess, von ihren Eltern vernachlässigt und/oder misshandelt worden waren. Sie alle brauchten eine Therapie, noch dringender jedoch Menschen, die sich ihrer annahmen und die sie liebten.

Durch die Erfahrungen, die sie dort sammelte, war ihr klar geworden, was ihre Eltern geleistet hatten. Es war sicher nicht leicht gewesen, zwei junge Mädchen großzuziehen und vor den Fallstricken der Heranwachsenden zu bewahren. Nein, Mutter und Vater zu sein war wahrhaftig nicht leicht. Angela hoffte inständig, dass sie ihre Sache wenigstens fast so gut wie Sam und Rosalie machte.

»Ja, sie liebt die beiden abgöttisch«, antwortete Annie. »Und Mama ist im siebten Himmel. Gina hat nichts lieber als eine Tochter, die sie rumkommandieren kann, und Sid ist ganz verrückt nach dem Mädel. Tess hat Papa total um den Finger gewickelt. Wenn sie mal einen Tag freihaben will, kriegt sie ihn sofort, während ich beim selben Ansinnen schier erwürgt werde und am Ende ein schlechtes Gewissen habe.« Sie verdrehte die Augen. »Die lieben Eltern!«

Angela lachte. »Dazu kann ich nur Amen sagen. Ich war gerade bei meiner Mutter und hab ihr geholfen, die Küchenschränke mit Wachspapier auszukleiden, ist das zu fassen? Sie ist und bleibt in mancher Hinsicht schrecklich altmodisch.«

»Joe hat mir erzählt, dass deine Eltern erst kürzlich wieder von Boston hierher gezogen sind. Was hältst du davon?«

»Na, was schon? Ich finde mich damit ab. Nachdem ich sowieso nichts dagegen tun kann, kann ich mich ebenso gut freuen, dass sie da sind. Du kennst das ja.«

»Und ob.«

»Wie geht’s deiner Kusine? Jetzt, wo du und Tess ausgezogen seid, muss sich Donna ziemlich allein fühlen.«

»Donna hat jetzt ein eigenes Apartment und sogar einen Job, ob du’s glaubst oder nicht. Sie arbeitet bei Santini’s, in der Metzgerei.« Annies Grinsen spiegelte Genugtuung. »Es gibt doch noch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit.«

Angela nahm die Neuigkeiten verblüfft auf. Donna Wiseman war das Gegenteil von ehrgeizig. Tatsächlich hatte sie noch keinen einzigen Tag ihres Lebens arbeiten müssen. »Freut mich zu hören, dass Donna sich auf eigene Füße gestellt hat. Ich frage mich, wie sie und Lou miteinander auskommen.«

»Na, wie Feuer und Wasser. Und Nina Santini ist stinksauer, weil ihr Sohn Donna ohne sie zu fragen eingestellt hat. Sie macht Donna das Leben zur Hölle.« Wieder grinste Annie. »He, was soll ich sagen? Rache ist süß.«

»Hmmmm. Scheint, als sollte ich demnächst mal beim Metzger vorbeischauen.«

»Und wie läuft Marys Sorgerechtsfall?«, erkundigte sich Annie. »Erwartest du irgendwelche Schwierigkeiten? Das will ich nicht hoffen, denn es würde Mary und Dan umbringen, wenn sie Matt verlieren.«

Angela, die Johns verabscheuungswürdiges Verhalten bei der Anhörung noch nicht vergessen hatte, presste die Lippen aufeinander. »Bloß mit dem Anwalt der Gegenpartei. Kennst du John Franco?«

Annie verzog angewidert das Gesicht. »Ja, wir waren mal kurz zusammen. Ungefähr in der Steinzeit«, sagte sie, und Angela machte große Augen. »Ich war zutiefst enttäuscht, als Joe mir erzählt hat, dass John dieses Luder Sharon Gallagher vertritt. Das Weib richtet nur Schaden an. Wie kann er das tun? Um Himmels willen, Mary ist seine Kusine!«

»Du solltest nicht zu hart über ihn urteilen, Annie. Ich vermute, dass John ... äh, Mr. Franco, in der Sache keine Wahl hatte. Sein Partner wurde eben erst aus dem Krankenhaus entlassen, und Charles Rothburg war schon, bevor John den Fall übernehmen musste, Klient der Kanzlei. Ich nehme stark an, dass ihm die Hände gebunden sind.«

»Ich kann nicht glauben, dass du ihn auch noch verteidigst. Wenn dich meine Schwiegermutter so reden hörte, würde sie dich sofort von dem Podest stoßen, auf das sie dich gestellt hat.« Ein schelmisches Lächeln umspielte Annies Lippen. »Ich könnte versucht sein, es ihr zu sagen. Sophia wollte unbedingt, dass du Joe heiratest. Immerhin bist du Anwältin, Italienerin und katholisch – die goldene Dreifaltigkeit, das Triumvirat, der Traum einer jeden Italo-Mama.«

»Ich verteidige John Franco doch gar nicht.« Na ja, vielleicht ein bisschen. Aber der arme Mann wurde von allen Seiten attackiert. Und obwohl sie nicht in eine Familienfehde geraten wollte, so konnte sie ebenso wenig daneben stehen und zusehen, wie ihn die eigene Familie verurteilte.

»Ich versuche nur, beide Seiten zu sehen. Das ist als Anwältin schließlich meine Aufgabe. Ich darf keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Zumindest muss ich es versuchen.

Außerdem wette ich, dass Sophia inzwischen klar geworden ist, dass du die bessere Wahl für Joe bist. Man muss euch doch nur ansehen, um zu merken, wie perfekt ihr zueinander passt und wie glücklich ihr seid.«

»Falls du glaubst, Sophia würde das je zugeben, dann bist du nicht von dieser Welt. Ich glaube, sie lauert nur darauf, dass Joe wieder zu Verstand kommt und in den Schoß der Mutter Kirche zurückkehrt«, sagte Annie und spähte dabei über Angelas Schulter auf den Mann, der soeben den Laden betrat. Ihre Augen weiteten sich bewundernd.

»John ist süß, nicht? Also, der Kerl hat einen Body, dass ... na ja, als glücklich verheiratete Frau enthalte ich mich jedes weiteren Kommentars, aber er ist ziemlich beeindruckend.«

Angela, die noch nicht gemerkt hatte, dass der Gegenstand ihres Gesprächs just in diesem Moment näher kam, nickte ahnungslos. »Ja, er ist der reinste Hingucker. Aber das soll mich nicht bekümmern. Für mich zählt nur der Gallagher-Fall. Den will ich um jeden Preis gewinnen.« Und eine Ablenkung wie den schönen John konnte sie wahrhaftig nicht gebrauchen.

»So was höre ich gern! Ich hoffe, dass du es ihnen ordentlich zeigst. Die ganze Familie steht hinter dir, und das ist nicht zu verachten. John dagegen hat weniger Glück.«

»Weniger Glück? Inwiefern?«, fragte er und tauchte neben Angela auf, ein Lächeln auf dem Gesicht, das so umwerfend sexy war, dass sich Letzterer schier die Zehen kringelten.

Wir sind nur Freunde, Angela!, ermahnte sie sich streng.

»Schön, dass wir uns schon wieder treffen, Angela«, sagte er mit seiner tiefen, sonoren Stimme, die ihr, trotz ihrer festen Vorsätze, seine unübersehbaren Attribute zu ignorieren, ein Kribbeln den Rücken hinunterrennen ließ.

»Na, ihr zwei kennt euch sowieso.«

Annies Augen, die die beiden wortlos neugierig musterten, nahmen einen spekulativen Glanz an, was Angela höchst nervös machte. Sie wollte nicht, dass ihre Freundin mehr in diese Bekanntschaft hineininterpretierte, als es gab.

»Einmal abgesehen vom Gericht, scheinen Angela und ich uns andauernd zufällig über den Weg zu laufen.«

»Ist wohl Schicksal.«

Angela, der Annies Bemerkung schrecklich peinlich war, sagte hastig: »Okay, ich muss jetzt zurück ins Büro. Hab furchtbar viel zu tun. Aber es war schön, dich zu sehen, Annie. Wir sollten uns mal demnächst zum Lunch treffen.«

»Du willst schon gehen? Aber du hast doch noch gar nichts gekauft!«, protestierte Annie. »Dabei habe ich gerade eine Sendung toller Wollmäntel reingekriegt.«

»Ein andermal. Ich wollte hauptsächlich dich besuchen. Ich laufe nur noch schnell rüber und begrüße Joe. Ich muss noch ein paar Sachen mit ihm besprechen.« Wie zum Beispiel ihre Schwangerschaft. Als ihr Arbeitgeber und Freund hatte er ein Recht, es zu erfahren.

»Was bist du? Die Familienanwältin der Russos?«, erkundigte sich John mit einem amüsierten Zwinkern.

Angela lächelte. »So was Ähnliches.« Dann drehte sie sich um und verschwand.

»Wieso glaubst du, hat es Angela plötzlich so eilig?«, wollte Annie wissen. »Du scheinst sie total aus der Fassung gebracht zu haben.«

John zuckte die Schultern. »Was weiß ich? Vielleicht ist sie mir gram wegen des Zeugenverhörs heute. Bin ein bisschen grob mit ihren Experten umgesprungen. Aber das ist schließlich mein Job.«

»Ich bin stocksauer auf dich, John Franco. Und du weißt genau, warum.«

Das wusste er, aber er hatte keine Lust, sich zweimal am selben Tag eine Strafpredigt anzuhören. Eine reichte. Ungerührt von seinem Schnauben, fuhr Annie fort: »Du sollst lediglich wissen, wie sehr es mich enttäuscht, dass du dich gegen meine beste Freundin stellst, die zufällig auch meine Schwägerin und deine Kusine ist. Ich bin wütend und fühle mich verraten, und ich bin nicht die Einzige.«

John seufzte und fuhr sich unwillig durch die Haare. »Sophia und Flora haben mir bereits die Ehre gegeben. Sie wollen mir einen Fluch an den Hals hängen.«

Annie strahlte vor Entzücken. »Du steckst ganz schön in der Tinte, Franco. Tust mir fast Leid. Aber du hast dich selbst da reingeritten, also verkneif ich’s mir.«

»Tja, das ist Ansichtssache. Also, was ist – bist du zu sauer, um mich zu bedienen? Ich brauchte nämlich ein paar neue Anzüge. Peter sagt, ich solle dich bitten, mir bei der Wahl zu helfen.«

»Was für Anzüge willst du denn?«, fragte sie mit einem sichtlichen Mangel an Begeisterung.

»Na ja, fangen wir mal mit einem Büßerhemd an, und dann sehen wir weiter.«

»Angela hat mich gebeten, nicht zu hart über dich zu urteilen, John, aber das fällt mir verdammt schwer. Ich berate dich nur, weil du ein gut zahlender Kunde bist und weil mir keine Ausrede einfällt, was ich meinem Vater sagen sollte, wenn ich dich nicht bediene. Aber erwarte nicht, dass ich vergesse, dass du jetzt der Feind bist.«

»Angela hat mich verteidigt?« John zog erfreut die Braue hoch. »Interessant.«

»Dann ist dir also schon aufgefallen, dass sich unter diesen konservativen Kostümen und braven Halbschuhen ein Knüller versteckt, was? Du bist nicht so dumm, wie du aussiehst, Franco.«

»Scheint so. Mir ist ja auch damals gleich aufgefallen, dass du ein kluges, einfühlsames Ding warst, trotz deiner Madonna-Aufmachung und der furchtbaren Haare.«

»Warst immer schon ein Süßholzraspler. Aber du solltest deinen Charme an jemanden verschwenden, der ihn zu schätzen weiß. Du könntest es weit schlechter treffen als Angela DeNero. Hast du wohl schon, schätze ich.«

Annies dreckiges Grinsen brachte John auf die Palme. Zur Hölle mit Peter und seinem großen Mundwerk! Peter hatte ihr anscheinend von Danielle erzählt. »Ich will gar nichts Festes. Mir gefällt mein Leben, so wie es ist – unkompliziert.« Und das mit Angela brächte derzeit nichts als Komplikationen.

»Ja, das sagen alle Männer, bis sie Amors Pfeil trifft, wenn sie’s am allerwenigsten erwarten.«

»Und – ist das meinem Cousin passiert?«

Annie schüttelte den Kopf. »Nein, dass Vater Joe den Priesterrock an den Nagel gehängt hat, nehme ich ganz allein auf meine Kappe, recht herzlichen Dank.«

Johns Blick huschte über Annies umwerfende Figur, ihr ebenmäßiges Gesicht und ihr freches Lächeln. Joe, der arme Mensch, hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt.

»Ach nein, wenn das nicht der verlorene Sohn ist, der da auf meiner Türschwelle steht! Du weißt ganz genau, wie du deiner Mutter das Herz brechen kannst, nicht wahr?«

Ein mühsames Lächeln auf dem Gesicht, betrat John die Schnellreinigung seiner Eltern. Er war fest entschlossen, freundlich zu bleiben, egal ob es ihn umbrachte. Als er sah, wie sich die Lippen seiner Mutter zu einem dünnen Strich zusammenpressten, wusste er, dass sein Ableben in Reichweite war.

»Hallo, Mom«, sagte er und legte seine weißen Anzughemden auf die Theke. »Leicht gestärkt, so wie immer, bitte.«

»Leicht gestärkt?« Adele Franco riss fassungslos die Augen auf. »Leicht gestärkt? Du richtest verheerenden Schaden in der Nachbarschaft und in unserem Leben an, und alles, was du sagen kannst, ist ›leicht gestärkt‹? Ich bin verflucht unter den Weibern!« Sie bekreuzigte sich, obwohl John wusste, dass seine Mutter seit über dreißig Jahren keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt hatte. Nicht seit ihr »heiliger« Bruder an Lungenentzündung gestorben war. Sie hatte Gott die Schuld an Onkel Phils viel zu frühem Tod zugeschoben. Und nachdem Peter sich »geoutet« hatte, wurde dies ebenfalls dem Herrn aufs Konto geschrieben.

»Ich nehme an, du hast es von Tante Sophia erfahren?« Er fürchtete sich fast vor der Antwort. Sophia liebte nichts mehr, als jede Menge Wirbel zu machen. Das war ihr Lebensinhalt.

»Natürlich habe ich’s von ihr gehört. Oder glaubst du vielleicht, Sophia Russo würde über so etwas Wichtiges den Mund halten? Glaubst du, sie würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, mir unter die Nase zu reiben, dass mein Sohn in den Skandal des Jahrhunderts verwickelt ist? Sie hat mir die Ohren voll gegreint, das sage ich dir. Was hast du dir bloß dabei gedacht? Hast du den Verstand verloren?«

John bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. Er wusste aus Erfahrung, dass es sinnlos, um nicht zu sagen höllisch frustrierend war, mit seiner Mutter streiten zu wollen. Sie behielt sowieso immer das letzte Wort. »Nein, mein Verstand ist noch genau da, wo er sein soll. Wo ist Dad?«

»Liefert ein paar Hemden aus. Er wird bald wieder da sein. Wieso? Glaubst du womöglich, er schlägt sich auf deine Seite? Das kannst du vergessen.« Sie schob sich erzürnt die ergrauten Locken aus dem Gesicht. Adele Franco war jetzt vierundsechzig, und man merkte es ihr an. Tiefe Linien hatten sich um Mund und Nase eingegraben, was sie verkniffen und runzlig aussehen ließ – wie eine getrocknete Pflaume, bloß leider nicht so süß.

John hatte keinerlei Zweifel, dass Robert Franco zu seiner Frau hielt. So war es Johns ganzes Leben lang gewesen, wieso sollte es jetzt anders sein? »Ich habe es satt, mich pausenlos zu verteidigen, Mom. Du wirst mir eben einfach glauben müssen, dass ich nur das tue, was ich tun muss, und es dabei belassen.«

In diesem Moment bimmelte die Ladenglocke. Seine Mutter schluckte herunter, was ihr auf der Zunge lag, und begrüßte den weißhaarigen alten Herrn, der soeben eintrat. »Hallo, Mr. Fabrizio. Schön, Sie wieder zu sehen. Was macht die Arthritis?«

»Tut verdammt weh, aber ich atme noch, also kann ich mich nicht beschweren. Ich hab einen Fleck auf meinem neuen Anzug. Kriegen Sie das hin?« Er legte das Kleidungsstück auf die Theke neben Johns Hemden.

»Sicher kriegen wir das hin. Schließlich haben wir schon dreißig Jahre Erfahrung in der Entfernung von Flecken. Sie werden sehen, er ist bald so gut wie neu.« Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn dem Mann. »Kennen Sie meinen Sohn, Mr. Fabrizio? John ist unser Zweitältester.«

Der alte Mann wandte sich zur Seite und starrte John aus rotgeränderten, wässrigen Augen an, die sich unwillkürlich zu Schlitzen verengten. »Sind Sie der Arzt?«

John schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Ich bin der Anwalt.«

Mr. Fabrizio ließ sich das ein paar Sekunden durch den Kopf gehen, dann sagte er: »Wie nennt man es, wenn fünftausend tote Anwälte auf dem Meeresgrund liegen?« Er legte eine wirkungsvolle Pause ein. »Einen guten Anfang.« Zufrieden vor sich hinkichernd, tippte er sich an den Hut und verschwand.

»Hahaha.« John blickte dem alten Kauz kopfschüttelnd nach. »Als ob ich den nicht schon tausendmal gehört hätte.«

»Die Leute mögen eben keine Anwälte. Sie halten sie für Gauner und Betrüger.«

»Manche sind es auch, so wie manche Ärzte es verdienen, wegen Pfusch vor Gericht gestellt zu werden«, meinte er. »Jeder Beruf hat seine schwarzen Schafe.«

Adele ignorierte die Spitze auf den geheiligten Stand der Ärzte. »Michael, Linda und die Kinder kommen heute zum Abendessen. Willst du auch kommen? Ich mache Tortellini.«

Er schüttelte den Kopf. »Hab zu viel Arbeit.« Das war zumindest nicht ganz gelogen. »Ein andermal, okay?«

»Das sagst du ständig. Aber nie besuchst du deine Mutter zu Hause. Ich sehe dich nur, wenn du deine Hemden in der Reinigung ablieferst.«

»Mit Mike, Linda und den drei Kindern hast du doch das Haus voll genug, da vermisst mich garantiert keiner.« Außer vielleicht als Zielscheibe für Sticheleien.

»Er zeigt uns die Dias vom letzten Italienurlaub mit der Familie. Dein Bruder macht so herrliche Reisen. Die hat er auch verdient. Er arbeitet so hart, rettet so vielen Menschen das Leben. Ein Mann sollte die Früchte seiner Arbeit genießen.«

»Oh, tut mir das Leid, dass mir das entgeht.« Würg. »Tja, ich gehe dann wohl besser.«

»Wieso so schnell? Wir haben doch kaum ein paar Worte gewechselt. Wie geht’s deinem anderen Bruder? Ist er noch mit diesem Mann zusammen?«

»Pete geht’s sehr gut. Er scheint sehr glücklich mit Eric zu sein, der übrigens ein fantastischer Koch ist. Ich war kürzlich dort zum Abendessen eingeladen. Du solltest sehen, was sie aus ihrer Wohnung gemacht haben, Mom. Sieht wirklich toll aus. Pete würde es unheimlich freuen, wenn du ihn mal besuchst.«

Adele schüttelte entsetzt über diese Vorstellung den Kopf. »Mein Sohn lebt in Sünde. Wie kannst du von mir verlangen, bei ihm vorbeizuschauen und dieses Verhältnis gutzuheißen?«

»Weil er dein Sohn ist und dich liebt.«

»Peter ist eine solche Enttäuschung. Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe. Ich habe euch Kindern alles gegeben, war euch stets eine gute Mutter. Wie konnte es ihm bloß einfallen, homosexuell zu werden?«

»Ich glaube kaum, dass ihm das einfach so ›eingefallen‹ ist, Mom.«

»Die ganze Nachbarschaft zerreißt sich deswegen das Maul. Ich kann meinen Kopf nicht mehr hochhalten. Du solltest mal sehen, wie Nina Santini mich anschaut, wenn ich ihre Metzgerei betrete. Als ob es allein meine Schuld wäre, dass mein Sohn abnorm geworden ist.«

John hasste es, wenn sie so redete. Mühsam wahrte er die Beherrschung. »Wenn du Pete wirklich liebst, nimmst du ihn, wie er ist. Er liebt dich doch, Mom. Wieso kannst du nicht ein bisschen verständnisvoller sein?«

Adele wirkte tatsächlich ein wenig zerknirscht. »Selbst wenn ich wollte, dein Vater würde es nie zulassen. Es ist eine Sache, Peter zu uns nach Hause einzuladen, aber zu ihm zu gehen und zu sehen, wie er mit diesem Mann zusammenlebt ... Das bricht einer Mutter das Herz. Wenn du mal Kinder hast, wirst du das verstehen.«

»Dann tust du mir Leid, Mom, denn du wirst deinen jüngsten Sohn verlieren. Lass es nicht darauf ankommen, denn wenn Pete sich zwischen dir und dem Mann, den er liebt, entscheiden muss, wirst du auf jeden Fall den Kürzeren ziehen.«

»Was weißt du schon davon, Johnny? Natürlich stellst du dich auf die Seite deines Bruders. So war das ja von jeher.«

»Ich habe Pete sehr gern. Und ich werde mein Gefühl nicht ausknipsen, bloß weil er schwul ist.«

»Und das sagt ein Mann, der sein eigen Fleisch und Blut in aller Öffentlichkeit verrät?«

»Ja, genau, Mom. Aber ich bin zumindest gezwungen, mich gegen meine Kusine zu stellen. Und was ist deine Entschuldigung dafür, dich von deinem eigenen Sohn abzuwenden?«

Ein Anwalt zum Verlieben / Süße Lügen

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