Читать книгу Ein Anwalt zum Verlieben - Millie Criswell - Страница 4
2 Was ist der Unterschied zwischen Gott und einem Rechtsanwalt? Gott hält sich nicht für einen Rechtsanwalt.
Оглавление»Ach du meine Güte! Was ist denn mit dir passiert, Schätzchen? Du siehst ja aus wie der aufgewärmte Tod. Hat dich jemand durch den Fleischwolf gedreht oder was?«
Angela, die sich mindestens so mies fühlte, wie sie aussah, schenkte der schick angezogenen Frau hinter dem schwarz lackierten Schreibtisch ein schwaches Lächeln. »Herzlichen Dank! Es gibt nichts, was sich eine Frau mehr wünscht, als schon vormittags zu hören, dass sie beschissen aussieht.« Unwillkürlich fragte sie sich, ob John Franco das Gleiche gedacht hatte, schalt sich dann jedoch dafür, dass sie überhaupt noch einen Gedanken an den unsensiblen Klotz verschwendete.
»Hab ’nen Anruf von Levins, unserem knickrigen Vermieter gekriegt. Er will den Teppichboden nächste Woche erneuern lassen.«
»Halleluja!« Angela streifte den abgetretenen kotzgrünen Teppich mit einem angewiderten Blick. Sie hatten ihren Vermieter förmlich belagert, um ihm die Renovierung dieses muffelnden Monstrums schmackhaft zu machen.
Angela teilte sich seit ihrer Rückkehr nach Baltimore die Bürofläche mit Wanda Washington. Ihre Anwaltspraxis lag in einem an der Eastern Avenue gelegenen heruntergekommenen Backsteinbau, dessen beste Tage wohl in den Fünfzigerjahren lagen. Doch die Räume waren groß, und durch die hohen Sprossenfenster fiel jede Menge Licht und Sonne herein. Obwohl eine Art Kellergeruch in den Büros hing und der Teppichboden dringend ersetzt werden musste, waren die Wände mit Walnussholz paneeliert, und es gab jede Menge eingebauter Bücherregale. Also konnten sie sich eigentlich nicht übermäßig beschweren. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass der modrige Geruch verschwinden würde, sobald der Teppich verschwand.
Die beiden Anwältinnen teilten sich Miete und Nebenkosten und waren darüber hinaus gute Freundinnen geworden. Jede unterhielt zwar ihre eigene Anwaltspraxis, doch halfen sie sich in schwierigen Fällen schon mal gegenseitig aus.
Wanda, die ihren Universitätsabschluss im selben Jahr wie Angela gemacht hatte und außerdem im selben Alter war – Angela hasste die Vorstellung, dass sie heuer dreiunddreißig wurde –, war eine ausgezeichnete Anwältin. Sie hatte sich auf Fälle von Diskriminierung spezialisiert, und das passte zu ihr, denn sie war absolut nicht scheu, ihre Meinung kundzutun, ging sie doch von der Überzeugung aus, dass das, was sie zu sagen hatte, wert war, gehört zu werden.
Angela war die offene, unerschrockene Frau mit der dunklen, schokoladenbraunen Haut in der kurzen Zeit, seit sie sich kannten, ans Herz gewachsen. Deshalb bezweifelte sie auch keine Sekunde, dass sie tatsächlich wie der aufgewärmte Tod aussah, ganz besonders, nachdem sie sich vorhin im Polizeirevier die Seele aus dem Leib gekotzt hatte. Nicht gerade einer der glänzendsten Auftritte ihres Lebens. Von demütigend gar nicht zu reden!
Wieso musste mir das ausgerechnet vor diesem John Franco passieren? Angela schauderte bei der Vorstellung, welchen Eindruck sie hinterlassen haben mochte. Nicht, dass es ihr was ausmachte. Seit Bill sie so schnöde verlassen hatte, traute sie den Männern nicht mehr über den Weg.
»Ich glaube, ich krieg eine Grippe. Mir ist schon seit heute früh schlecht.«
Als hätte Angela gesagt, sie habe Typhus und nicht nur eine gewöhnliche Grippe, stieß sich Wanda entsetzt vom Schreibtisch ab und ließ sich zu dem hohen Fenster in ihrem Rücken zurückrollen. »Steck mich bloß nicht an! Ich kann’s mir im Moment nicht leisten, krank zu werden. Bunny der Klops ist bald dran.«
Wanda hatte die Angewohnheit, all ihren Klienten – und auch ein paar Freunden – treffende Spitznamen zu geben. Neben Bunny gab es noch Larry »Schlabberlippe« Goldstein, der jedem, den er zu fassen kriegte, nasse, schlabberige Küsse aufdrückte; Marty »der Schniedel« Verrazano, der in seiner Jugend in über dreiunddreißig Pornos mitgespielt hatte, und dann noch Bertha »das Euter« Washington, eine mehr als üppig ausgestattete entfernte Kusine der Anwältin.
Angela war bis jetzt ein Spitzname erspart geblieben. Natürlich hätte sie niemand auch nur im Entferntesten als »das Euter« bezeichnen können. Sie war zwar nicht flachbrüstig, aber mit Pamela Anderson konnte man sie auch nicht gerade verwechseln. Na ja, andererseits brauchte sie kein Busenwunder als begabte Anwältin zu sein.
Wanda vergab die Spitznamen nicht etwa aus Böswilligkeit – sie war eine ausgesprochen gute Seele. Nein, sie tat es aus Spaß. Denn Wanda war der festen Überzeugung, dass das Anwaltsein Spaß machen und nicht so steif und staubtrocken sein sollte. Sie verwies mit Stolz darauf, selbst eine konformistische Nonkonformistin zu sein, was sich am besten an ihrer ziemlich unorthodoxen Aufmachung vor Gericht verdeutlichen ließ. Sie trug zwar schicke, aber nichtsdestotrotz würdige Kostüme, hatte darunter jedoch meist nur Strapse an und sonst nichts, außer einem Fetzchen Spitze, das sich kaum als BH bezeichnen ließ. Sie war der Überzeugung, dass ihr das vor Gericht einen Vorteil verschaffte, wusste sie doch etwas, das ihr Gegner nicht wusste.
Angela hätte sich so was nie getraut. »Bunny? Du meinst diesen 200-Kilo-Kerl, der letztens seinen Job bei Clyde’s Abschleppdienst verloren hat?«
»Genau der. Aber du übertreibst. Bunny bringt’s vielleicht auf Hundertachtzig, aber ein Klops ist er trotzdem, capisce?« Angela nickte, und Wanda meinte grinsend: »Clyde behauptet, Bunny passt in keinen Abschleppwagen.«
»Und – stimmt das?«
»Na ja, nicht ganz. Er passt nur nicht hinters Steuer. Bunny ist süchtig nach Creme-Donuts – ernährt sich praktisch ausschließlich davon –, aber das ist nicht der einzige Grund für sein Übergewicht. Er hat was mit den Drüsen und hätte deshalb nicht gefeuert werden dürfen. Und das werde ich vor Gericht beweisen.«
Wenn es überhaupt jemand schaffte, aus einem Klops einen gestählten, missverstandenen Krieger zu machen, dann Wanda. »Zumindest weiß Bunny, was gut ist, das muss man ihm lassen.« Obwohl ihr beim Gedanken an die leckeren Kalorienbömbchen nicht wie sonst das Wasser im Munde zusammenlief, eher im Gegenteil, was ein schlechtes Zeichen war.
Angela liebte Junkfood. Alles, was jede Menge Fett, Zucker und Kohlehydrate enthielt – die drei Hauptnahrungsgruppen der Familie DeNero –, verschwand in ihrer Futterschleuse, nur um sich umgehend auf ihren Hüften niederzulassen. Sie machte Jogging, um sich von den Kalorien nicht ganz überholen zu lassen.
»Also, gehst du jetzt heim oder nicht? Du solltest dich wirklich hinlegen. Hast in letzter Zeit viel zu hart gearbeitet, und das rächt sich jetzt. Mit den Ringen unter den Augen könntest du jedem Brillenäffchen Konkurrenz machen, Mädel.« Wanda grinste breit und enthüllte dabei eine Reihe makelloser, blendend weißer Zähne. Das Lächeln dieser Frau war reinstes Dynamit.
»Ständig nur Arbeit, Arbeit und nie Vergnügen, das macht unglücklich – und unbefriedigt obendrein«, fügte sie mit einem dreckigen Feixen hinzu.
Wie aus dem Nichts tauchte John Francos sexy Lächeln vor Angelas Augen auf, und sie musste ein paar Mal blinzeln, um den ungebetenen Gast zu verscheuchen. Sie hatte echt keine Ahnung, warum der Typ sie derart verfolgte.
Womöglich war sie ja tatsächlich überarbeitet, wie ihre Freundin meinte.
Und mit unbefriedigt lag sie sowieso nicht daneben.
Das einzige Wesen, das ihr Bett seit Bills schuftigem Abgang wärmte, war ihre Bulldogge Winston.
Wenigstens log Winston sie nicht an oder behauptete, er liebe sie und wolle sie heiraten. Und er würde ihr nie das Herz brechen, so wie Bill McElroy. Bill »der Bastard« McElroy, wie sie in Gedanken hinzufügte. Erklärungen überflüssig.
Sie warf seufzend einen Blick auf ihre Minnie-Maus-Uhr – ein Weihnachtsgeschenk ihrer Schwester – und schüttelte den Kopf. Schnee von gestern, kein Sinn, sich deswegen fertig zu machen.
Ja, jetzt hinlegen, das wäre himmlisch. In letzter Zeit war sie fast ununterbrochen müde und ausgelaugt. »Das ist Eisenmangel, Schatz, wie in dieser Geritol-Werbung, du weißt doch«, sagte ihre Mutter stets, sobald Angela sich über Müdigkeit und Erschöpfung beklagte. »Du landest noch mal im Krankenhaus, wie das Kind meiner Freundin Phyllis.«
Angela glaubte nicht, dass ihre Müdigkeit irgendwas mit Eisenmangel zu tun hatte. Sie arbeitete vierzehn Stunden am Tag – das erklärte doch alles. Außerdem sah ihre Mutter pausenlos überall Gespenster. Sie hatte nie einen Menschen kennen gelernt, der sich mehr über alles und jedes Sorgen machte als ihre Mutter. Laut Rosalie DeNero – der »Königin der Katastrophen«, wie Angela und Mia sie heimlich nannten – stand der Weltuntergang unmittelbar bevor.
Nur weiter so, lieber Gott. Schlimmer kann’s kaum werden.
»Erde an Angela. Gehst du jetzt heim oder nicht?«
Angela lächelte Wanda zerknirscht an; sie wusste, dass sie in letzter Zeit unaufmerksam war. »Geht nicht. Die Gallaghers werden in ein paar Minuten da sein. Wir wollen den Sorgerechtsfall noch mal in allen Einzelheiten durchsprechen. Sicher haben sie eine Million Fragen. Kann ’ne Weile dauern.« Und sie wollte Mary und Dan nicht hetzen, da sie wusste, was für eine schwierige Zeit sie im Moment durchmachten, egal wie ausgelaugt sie sich fühlte.
Sie mochte die beiden sehr. Mary Gallagher, der das Mama Sophia’s gehörte, ein italienisches Restaurant im Erdgeschoss des Gebäudes, in dem sie wohnte, war Joes jüngere Schwester und der reizendste Mensch, den man sich vorstellen konnte.
Mary kam andauernd hochgeschnauft und brachte ihr irgendwas Leckeres aus dem Mama Sophia’s. Wenn sie nicht daheim war, stellte sie es einfach vor die Tür. Bei diesen Gelegenheiten war Angela aufgefallen, dass manchmal etwas von dem Essen fehlte, wenn sie zurückkam. Sie verdächtigte ihre fette, zu allen Zeiten hungrige Vermieterin.
Mrs. Foragi hatte sich ihre gut hundert Kilo auf die altmodische Art und Weise verdient: durch gnadenloses Fressen. Angela hatte die gute Frau mal dabei beobachtet, wie sie eine ganze Salamipizza in der Zeit verschlang, die Angela brauchte, um vom Restaurant in ihre Wohnung hochzusteigen.
Unter fünf Minuten!
Kaum zu glauben, wie ein Mensch in der Geschwindigkeit sich so voll stopfen konnte.
Mary Gallagher war, wie Angela auch, geradezu süchtig nach Schokolade, was sie in deren Augen noch liebenswerter machte. Angela war jedoch, im Gegensatz zu der hochschwangeren Mary, die auf Schokoladenkugeln abonniert war, mehr Schokoriegeln verfallen, und sie bewahrte einen beruhigenden Vorrat in ihrer Schreibtischschublade auf, da man nie wissen konnte, wann die Gier einen überfiel.
Marys Mann Dan war Sportredakteur bei der Baltimore Sun, dazu Teilinhaber des Danny Boy’s, einer/einem Sportbar/Restaurant, das in Bälde in Little Italy eröffnet werden würde. Sharon, Dans Exfrau, war es, die das Sorgerecht für ihren Sohn wiederhaben wollte, obwohl sie dieses erst letzten Winter an Dan abgetreten hatte.
»Hab gestern Abend im Mama Sophia’s gespeist«, erklärte Wanda und riss Angela aus ihren Gedanken. »Marys Restaurant ist Oberklasse. Ich würde alles tun, um so kochen zu können. Oder überhaupt kochen zu können. Ich bin eine herbe Enttäuschung für meine Mutter. Mama hält die Mikrowelle für eine Erfindung des Teufels; sie sagt, wir Frauen in den Dreißigern wären alle irgendwie behindert, was das Kochen betrifft.«
Angela hob eine schwarze Braue. »Ich dachte, du hast nichts übrig für die italienische Küche.«
»Wenn ich bei Mary esse schon, Schätzchen.« Wanda klopfte sich auf ihren flachen Bauch. »Aber ich muss aufpassen. Von diesen Köstlichkeiten wird man blitzartig dick.«
Angela, die aus einer großen italienischen Familie stammte, wusste das nur zu gut. Ihre Mutter war eine ausgezeichnete Köchin, ihr Vater ebenso, obwohl sie vermutete, dass sich seine Liebe zum Kochen hauptsächlich auf der Tatsache gründete, dass er dann die Rüschenschürzen seiner Frau tragen konnte.
»Essen ist die zweite Religion der Italiener. Nichts geht über Lasagne, Spaghetti und Co«, verkündete Angela mit typisch italienischer Theatralik, und Wanda verdrehte amüsiert die Augen.
»Mann, ihr Einwanderer seid vielleicht bekloppt. Da lob ich mir doch unser gutes altes Backhühnchen mit jeder Menge selbst gestampftem Kartoffelbrei. Das ist zumindest amerikanisches Essen und macht genauso dick wie eures.«
»Und so was sagst du, die unermüdliche Kämpferin gegen Voreingenommenheit? Du solltest dich was schämen, Wanda Washington.«
»Schätzchen, du kannst dein Tiramisu behalten. Wenn’s um Nachspeisen geht, schlägt nichts den Apfelkuchen meiner Mutter.«
Der Warteraum der Kardiologie des Mercy Hospitals war gesteckt voll. Es warteten jede Menge Menschen mit sorgenvollen Gesichtern auf Nachricht über den Zustand ihrer Lieben-John mitten unter ihnen. Noch wusste er nicht, ob sein Freund überleben würde.
Die anderen Anwesenden kaum wahrnehmend, tigerte er nervös auf dem dünnen graugrünen Teppichboden auf und ab. In Zeiten wie diesen vermisste er die Zigaretten am meisten. Es war jetzt einen quälend langen Monat her, seit er das Rauchen aufgegeben hatte. Und täglich Tonys Zigarettenqualm einatmen zu müssen hatte ihm den Entzug auch nicht gerade erleichtert.
Nein, er machte sich nichts vor. Ihm fehlte das Rauchen, ihm fehlte die Zigarette in der Hand, der tiefe Zug am Glimmstängel, die Nikotin-Euphorie. Aber er wusste verdammt gut, wenn er das Rauchen nicht aufgegeben hätte – er hatte zuletzt zwei Schachteln am Tag gepafft –, würde er vermutlich jetzt neben Tony auf der Intensivstation liegen.
Er hatte keine zwei Stockwerke mehr steigen können, ohne wie eine Dampflok zu schnaufen und das Gefühl zu haben, seine Lungen würden sich gleich verabschieden. Seine morgendlichen Joggingrunden waren zur reinsten Folter und schließlich unmöglich geworden. Und da ihm das Laufen wichtiger war als Rauchen, hatte er schließlich aufgehört.
Tony unglücklicherweise nicht.
Sein Freund hatte totenbleich und weit älter als vierunddreißig ausgesehen, als sie ihn in die Intensivstation brachten. Seine Frau Marie war jetzt bei ihm, ihre zwei Kinder in der Obhut von Nachbarn. John fragte sich unwillkürlich, was aus ihnen werden sollte, falls das Schlimmste geschah und Tony es nicht schaffte.
Wer würde sie lieben, sich um sie kümmern? Wer würde für sie sorgen? Er, John, würde tun, was in seinen Kräften stand, doch das wäre natürlich kein Ersatz.
Er fühlte sich schuldig. Wenn er nicht mit Tony gestritten hätte ...
»Mr. Franco?«
John blieb jäh stehen. Aufblickend sah er, dass ihm eine Schwester winkte. Sie wirkte streng, selbstsicher und befehlsgewohnt. Ihre strahlend weiße Uniform passte zur Farbe ihrer Haare. »Mr. Stefano ist jetzt stabil. Sie dürfen kurz zu ihm, aber wirklich nur ganz kurz. Er steht unter Beruhigungsmitteln, damit sein Herz nicht so schwer arbeiten muss.«
John eilte sofort in Tonys Zimmer und gab Marie beim Eintreten einen Kuss auf die Wange. Tony hatte Sauerstoffschläuche in der Nase, EKG-Sensoren auf der Brust und eine Infusion im linken Arm. Bei diesem Anblick wurde John endgültig klar, wie ernst der Zustand seines besten Freundes war.
Tony sah nicht viel besser aus als bei seiner Ankunft im Krankenhaus, außer dass seine Wangen nun, aufgrund der künstlichen Sauerstoffzufuhr, grau statt weiß waren. Der Herzmonitor gab ein stetes, beruhigendes Piepen von sich.
»Gott sei Dank warst du bei ihm, John«, sagte Marie leise, griff Hilfe suchend nach seiner Hand und drückte sie. Tränen standen in ihren dunklen Augen. »Wenn du nicht da gewesen wärst! Ich weiß nicht, ob ich genauso effektiv gehandelt hätte. Womöglich wäre Tony nicht mehr am Leben. Der Kardiologe, Dr. Winters, meint, dass in dreiunddreißig Prozent aller Herzattacken keine vorherigen Brustschmerzen auftreten. Ich ...« Sie brach in Tränen aus und tupfte sich leise schluchzend die Augen mit dem Taschentuch ab, das er ihr reichte. »Tut mir Leid. Ich mache mir nur so schreckliche Sorgen.«
»Ich weiß, dass du Angst hast, Marie.« Er legte ihr den Arm um die schmalen Schultern und versuchte sie, so gut er konnte, zu trösten. »Ich mache mir auch Sorgen. Aber bestimmt kommt Tony wieder auf die Beine. Du weißt doch, was für ein zäher Kerl er ist.« Das musste er einfach glauben, oder er würde durchdrehen.
Sie schniefte. »Ja, einen Dickkopf hat er, das kann man nicht anders ausdrücken. Wie oft habe ich ihm gesagt, er soll mit dem Rauchen aufhören, sich besser ernähren? Aber er wollte nie hören. Tony hört auf niemanden.«
Das konnte John nur bestätigen. Sein Freund war ein verfluchter Sturkopf, aber er hatte nicht die Absicht, sich in Maries und Tonys Meinungsverschiedenheiten reinziehen zu lassen. Er mochte beide von Herzen und wollte nicht Partei ergreifen.
Um das Gespräch auf sichereren Boden zu lenken, fragte er daher: »Was hat der Arzt sonst noch gesagt?«
»Dass bei Tony drei Arterien blockiert sind und dass er morgen früh operiert wird. Dein Bruder wird das machen, und darüber bin ich sehr froh.«
Michael war ein hoch begabter Chirurg, und diesmal war John sogar froh über seine Erfahrung im OP. Falls es überhaupt jemand schaffte, Tony durchzubringen, dann sein großer Bruder.
Aber es war verdammt beschissen, sich so was eingestehen zu müssen, wenn auch nur im Stillen.
Der Schatten seines Bruders war riesig, und John hatte die meiste Zeit seines Lebens darunter verbracht. Nie konnte er mit irgendwas glänzen. In den Augen seiner Eltern war Michael der perfekte Sohn, der niemals irrte oder gar etwas falsch machte. Nichts ging über ihren Ältesten, den Einserschüler, den Star-Quarterback des Schulfootballteams, den Jungen, dem seine Klassenkameraden beim Abschluss die Auszeichnung »Der Mann mit den meisten Erfolgschancen« verliehen hatten. Und dass er dann auch noch Arzt wurde, war sozusagen der Zuckerguss auf der Torte.
Er, John, dagegen war der Versager, der Rebell und das schwarze Schaf der Familie. Er hatte alles getan, um diesen Ruf zu rechtfertigen, um wenigstens so die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu erringen. Funktioniert hatte es, zumindest eine Zeit lang – er hatte seine Eltern als Jugendlicher ganz schön in Atem gehalten. Aber am Ende war ihm diese Rolle langweilig geworden. Das war es nicht, was er wollte. Er wollte die Bewunderung, Achtung und Liebe seiner Eltern, so wie Michael sie erhielt, und nicht Strafen und Verachtung, die logische Folge seines rebellischen Verhaltens.
Natürlich war er damals noch zu jung gewesen, um zu verstehen, dass man sich Liebe und Achtung verdienen musste. Doch obwohl er sich geändert hatte, wurde er von seinen Eltern nach wie vor als Bürger zweiter Klasse behandelt, der dem heiligen Michael nicht mal ansatzweise das Wasser reichen konnte.
Ein Dr. jur. war bei weitem nicht so beeindruckend wie ein Dr. med., das dachten jedenfalls Robert und Adele Franco. Seine Eltern hielten Anwälte für Menschen, die aus anderer Leute Unglück Kapital schlugen, Ärzte dagegen für Menschen, die halfen und Leben retteten.
John bemühte sich sehr, ihnen das nicht übel zu nehmen, aber das war verdammt schwer. Selbst jetzt noch, mit vierunddreißig, gab es ungeklärte Dinge zwischen ihm und seinen Eltern, was ihnen, da war er ziemlich sicher, nicht einmal bewusst war.
»Dann wird Michael also einen dreifachen Bypass vornehmen, ja?« Er trat ans Bett und blickte auf den schlafenden Tony hinab. Marie nickte, und sein Hals war auf einmal wie zugeschnürt.
John und Tony waren miteinander aufgewachsen, in der Schule im selben Footballteam gewesen und waren oft zu viert ausgegangen, wenn sie Mädchen hatten, aber nie, als Tony noch mit Angela ging. So viel hatten sie in ihrem Leben schon miteinander durchgestanden, die guten wie die schlechten Zeiten. Stefano kannte Johns Fehler in- und auswendig, was seiner Zuneigung zu ihm jedoch keinen Abbruch tat. Tony war sein bester Freund, sein Geschäftspartner und sein Angelbegleiter. John war auf Tonys Hochzeit Trauzeuge gewesen und Pate ihrer beiden Kinder, Katy und Antony. Er könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren.
»Wie lautet die Prognose?«, fragte er und musste sich dabei räuspern, um sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. John war gut darin, seine Gefühle zu verbergen; er hatte jede Menge Übung gehabt.
»Gut, vorausgesetzt, er überlebt die Operation.«
»Ich muss mit Tony reden, muss ihm sagen, dass alles gut wird.« Und wie Leid es mir tut, dass wir uns gestritten haben.
Aber das würde er nicht, das wusste er.
Er konnte doch nicht seine Schuldgefühle bei einem Schwerkranken abladen. Da rief er schon lieber seinen Bruder an, um herauszufinden, wie genau die Chancen für Tony standen. Über etwas so Wichtiges würde Mike ihn bestimmt nicht belügen.
»Ja, Tony wollte auch mit dir reden«, meinte Marie mit ratloser Miene. »Er hat dauernd was vor sich hin gemurmelt, was sich wie Rosenburg oder Rothstein oder so ähnlich anhörte.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht genau, aber es schien ihm wichtig zu sein.«
»Rothburg.«
»Es gibt kein ›Wir‹. Ich helfe dir nicht bei diesem Fall. Und damit basta!«
Lahm fügte John hinzu: »Einer seiner Fälle.«
Abermals nahm sie seine Hand und drückte sie. »Ich bin so froh, dass er dich hat. Tony braucht sich nicht zu sorgen, weil er weiß, dass du dich um alles kümmern wirst. Die Ärzte sagen, er darf sich vorerst nicht aufregen, besonders nicht über seine Arbeit, und du weißt ja, wie besessen er sein kann. Sein Herz braucht unbedingt Ruhe.«
»Ich bearbeite den Rothburg-Fall nicht, Marie. Das ist Tonys Baby. Aber ich werde versuchen rauszukriegen, ob schon ein Termin anberaumt wurde, und wenn ja, um eine Vertagung bitten.«
Sie schaute mit großen vertrauensvollen Augen zu ihm auf, in der Gewissheit, dass er auf jeden Fall das Richtige tun würde, was ihren Mann betraf. »Was immer du für das Beste hältst.«
Als er das hörte, fühlte er sich noch schlechter. »Ich komme morgen wieder. Aber ruf mich an, falls was sein sollte oder falls ihr irgendwas braucht, du und die Kinder. Egal was, verstehst du?«
Marie lächelte schwach und nickte. »Du bist ein wahrer Freund, Johnny. Danke.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, warf, als wäre es sein letzter, noch einen Blick auf Tony und ging.
»Ich hab dir etwas Tiramisu mitgebracht.« Mary betrat mit Dan Angelas Büro und reichte ihr das in Alufolie gewickelte Päckchen. Die Anwältin saß hinter dem massiven Mahagonischreibtisch, den sie von ihren Eltern als Geschenk zum bestandenen Juraexamen bekommen hatte.
Ihre Schwester Mia hatte dagegen nach Abschluss ihres Kunststudiums am Boston College ein entzückendes feuerrotes Mustang-Cabrio bekommen. Angela fuhr einen schnöden Saturn. Die praktische, konservative Tochter der Familie zu sein hatte definitiv Nachteile.
»Marco hat es heute früh ganz frisch gemacht, also solltest du mit dem Essen nicht zu lange warten«, empfahl Mary. »Ich kann dir persönlich versichern, dass es köstlich schmeckt. Schau nur meine Fettpölsterchen, die sind Beweis genug.« Die Schwangere ließ sich auf einen Sessel vor dem Schreibtisch plumpsen.
Gegen eine Welle der Übelkeit ankämpfend – beim bloßen Gedanken an das pappsüße, alkoholgetränkte Dessert hätte sie sich übergeben mögen –, pflasterte Angela ein dankbares Lächeln auf ihr Gesicht und rückte das Tiramisu an die entfernteste Ecke des Schreibtischs, damit sie es nicht riechen musste. »Danke. Echt nett von dir, an mich zu denken. Wieder einmal. Du darfst aber nicht glauben, dass du mich andauernd durchfüttern musst, Mary, obwohl ich deine ›milden Gaben‹ sehr zu schätzen weiß.«
Dan, der neben seiner Frau Platz nahm, schenkte Mary ein nachsichtiges Lächeln. »Meine Süße ist nicht glücklich, wenn sie nicht alles und jeden mästen kann, Angela. Ich vermute, sie versucht alle Frauen in Little Italy so süß pummelig zu machen, wie sie es ist.« Er tätschelte den leicht gewölbten Bauch seiner Frau, und sie streckte ihm die Zunge raus, worauf sein Grinsen noch breiter wurde.
»Dafür werde ich später wohl büßen, stimmt’s?«, sagte er gespielt zerknirscht.
»Darauf kannst du wetten, du Ire.«
»Wann soll das Baby kommen?«, erkundigte sich Angela, die angesichts der Verliebtheit, mit der sich die beiden ansahen, fast neidisch wurde. Bill war diesbezüglich eher zurückhaltend gewesen. Gewöhnlich hatte er einen Zettel irgendwo hinterlegt:
»Angela, du siehst heute Morgen besonders hübsch aus, aber ich habe vorhin einen Fleck an deinem Blusenkragen entdeckt. Du solltest das in Ordnung bringen, bevor dich noch einer unserer Klienten sieht.«
Bill versorgte einen stets mit einem »Aber«. Der Mann war ein ausgesprochener Pedant und Ehrgeizling, was Angela, die ähnliche Züge bei sich feststellte, ursprünglich zu ihm hingezogen hatte.
Jetzt wusste sie, dass das ein gravierender Fehler gewesen war.
»Anfang Frühling, aber wenn’s nach mir geht, könnte es gleich rauspurzeln. Auf die Übelkeit in der Frühe könnte ich auch glatt verzichten. Außerdem komme ich mir langsam wie ’ne Elefantenkuh vor. Was natürlich auch an den Tonnen Schokokugeln liegen kann, die ich in letzter Zeit so verputzt habe.« Ihre dunklen Augen funkelten vergnügt. »Fressanwandlungen, du weißt schon. Und ich bin ständig hundemüde, das ist das Ärgerlichste. Früher war ich nicht totzukriegen, aber momentan könnte ich andauernd schlafen.«
Angela wurde ganz anders bei dem Gedanken, dass Marys Symptome den ihren verdächtig ähnelten. »Echt? Mir ist seit Tagen auch pausenlos entweder leicht oder definitiv schlecht. Und wenn ich ans Bett nur denke, klappen mir die Augen zu. Muss mir irgendeinen Virus eingefangen haben.«
»Hast du erhöhte Temperatur? Das ist normalerweise das erste Anzeichen einer Grippe.«
»Nein, ich ...« Angela runzelte die Stirn angesichts dieser durchaus logischen Frage; doch dann schüttelte sie den Kopf. Nein, in die Richtung wollte sie im Moment nicht denken. Unmöglich.
»Na, ist ja egal. Meine Gesundheitsprobleme sind nicht unser Gesprächsthema. Wichtiger ist der bevorstehende Sorgerechtsstreit. Bestimmt habt ihr jede Menge Fragen. Aber bevor wir damit anfangen, will ich euch eine ungefähre Vorstellung davon geben, wie diese Dinge im Bundesstaat Maryland gehandhabt werden.«
Beide wirkten nervös, und Angela lächelte ihnen aufmunternd zu. »Der Richter wird sich also die Frage stellen: Was dient den besten Interessen des Kindes?«
»Aber Matt fühlt sich wohl bei uns, es geht ihm gut«, insistierte Mary sofort.
»Genau das wird der Richter berücksichtigen.«
»Sharon bekam bei unserer Scheidung das Sorgerecht zugesprochen«, meinte Dan und warf seiner Frau einen unbehaglichen Blick zu. »In meinem Beruf als Sportreporter bin ich sehr viel unterwegs. Und ich dachte, dass es wegen Matts Alter – er war bei der Scheidung vier – besser wäre, wenn er bei Sharon bliebe, die sich besser um seine Gesundheit, Erziehung und Ausbildung kümmern könnte. Also habe ich ihr das volle Sorgerecht abgetreten, mir aber ein Besuchsrecht vorbehalten. Jetzt ist mir klar, dass ich damals einen schweren Fehler gemacht habe.« Er holte ein Röllchen Magentabletten aus seiner Tasche und nahm ein paar davon.
Angela tappte nachdenklich mit dem Kuli auf ihren Schreibtisch. »Das könnte ein Problem werden, vielleicht aber auch nicht. Deine erste Frau hat ihr Kind verlassen und ist abgehauen mit ...« Sie warf einen Blick auf die Notizen in ihrem gelben Notizblock. Ihre Miene war unbewegt, obwohl es ihr schwer fiel, ihre Ressentiments in Bezug auf Sharon Gallagher-Rothburg im Zaum zu halten. Diese Frau war als Mutter total ungeeignet. Leider konnte nicht sie das entscheiden, sondern nur das Gericht.»... ihrem Aerobictrainer«, beendete sie ihren Satz.
»Der Richter wird sich also eine Meinung bilden, ob Mrs. Rothburg eine gute Mutter ist oder nicht. Man wird ihren Charakter auf den Prüfstand stellen, ebenso wie ihren Ruf. Wir werden die Zuteilung des vollen Sorgerechts beantragen.«
»Aber sie ist mit einem bekannten Anwalt verheiratet, einer aufrechten Säule der Gesellschaft«, gab Mary zu bedenken. »Wir haben Angst, dass man das zu ihren Gunsten auslegen könnte.«
»Du und Dan, ihr habt mindestens genauso viel, was für euch spricht. Ihr habt Matt ein stabiles, liebevolles Heim gegeben. Er ist glücklich bei euch und will bleiben, wo er ist. Und wie ihr mir bei unserem letzten Gespräch erzählt habt, hat sich Mrs. Rothburg nach ihrem Verschwinden kein einziges Mal bei ihrem Sohn gemeldet, was ihn seelisch ziemlich aus der Bahn geworfen hat.«
Mary nickte. »Das stimmt. Matt war ein sehr trauriger kleiner Junge, als ich ihn kennen lernte. Ein paar von den Fragen, die er zum Verschwinden seiner Mutter gestellt hat, waren geradezu herzzerreißend.«
Dan, den die Erinnerung offenbar ebenfalls quälte, stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich hoffe nur, dass mein Sohn nicht auch noch vor Gericht erscheinen muss. Er hat schon genug durchgemacht, und ich will nicht, dass Matt gezwungen ist, sich zwischen mir und Sharon zu entscheiden. Das wäre unfair ihm gegenüber. Er ist doch noch ein kleines Kind. Und er liebt seine Mutter.«
Es war offensichtlich, dass Dan Gallagher das Wohl seines Sohnes vor alles andere stellte. Angela bezweifelte, dass Sharon Rothburg dasselbe von sich behaupten konnte. »Kann sein, dass der Richter mit Matthew reden will, Dan, was aber mit ziemlicher Sicherheit in der Abgeschiedenheit seines Amtszimmers geschehen wird. Also brauchst du dir deswegen keine Sorgen zu machen.
Vorläufig möchte ich dich und Mary bitten, euch Leute zu suchen, die etwas über Matts seelischen Zustand, kurz nachdem ihn seine Mutter verlassen hat, aussagen können und auch, wie es ihm seitdem bei euch ergangen ist.
Seine Lehrerin und sein Kinderarzt zum Beispiel könnten sicher ein Urteil über Matts emotionalen Zustand nach dem Verlassenwerden durch seine Mutter und der Anfangszeit bei dir abgeben. Ich möchte sie in den Zeugenstand rufen und jeden anderen, dessen Aussage ihr für hilfreich haltet.
Ich möchte eine qualifizierte Therapeutin hinzuziehen, um das Verhalten deines Sohnes und seinen emotionalen Zustand zu beurteilen, und diese Beurteilung dann dem Gericht vorlegen. Eine Expertenmeinung wiegt in solchen Fällen manchmal schwer. Das alles wird nach Eröffnung des Falles ungefähr fünf bis sechs Wochen in Anspruch nehmen.«
»Was glaubst du, wie stehen unsere Chancen zu gewinnen, Angela? Wir könnten es nicht ertragen, Matt zu verlieren.« Mary packte Schutz suchend die Hand ihres Mannes und drückte sie.
»Ich habe vor zu gewinnen. Ich hätte diesen Fall nicht übernommen, wenn ich unsere Chancen nicht für gut halten würde. Doch ich will euch auch nichts vormachen und ein zu rosiges Bild malen.
In den meisten Fällen wird der Mutter das Sorgerecht zugesprochen. Aber ihr habt Glück, in Maryland gibt es keine automatische Bevorzugung der Mutter. Wir haben es hier mit einer Ausnahmesituation zu tun, und ich glaube, das wird das Gericht berücksichtigen.« Mary kamen die Tränen, und Angela blutete das Herz bei diesem Anblick. Sorgerechtsfälle waren stets eine schwere Belastung für alle Beteiligten.
»Jetzt mach dir mal keine Sorgen, Mary, das ist nicht gut für dich, besonders in deinem Zustand. Überlass die Sorgen und die Arbeit mir. Dafür bezahlt ihr mich schließlich.«
»Aber ich komme mir so hilflos vor. Ich will helfen.«
»Wenn du wirklich helfen willst, dann bete. Ich habe festgestellt, dass das nie schadet.«
Über Marys Gesicht flog ein zittriges Lächeln. »Früher hatte ich einen direkten Draht zu dem Herrn da oben. Du weißt ja, dass mein Bruder Priester war. Aber jetzt hat Joe Annie geheiratet, und ich bin auf mich allein gestellt.«
»Nicht ganz«, sagte Dan und wischte seiner Frau mit einem zuversichtlichen Lächeln, das ganz und gar nicht seiner wahren Stimmung entsprach, die Tränen aus dem Gesicht. »Du vergisst deine Mutter und deine Großmutter. Mir ist noch keine Katholikin untergekommen, die den Rosenkranz schneller und mit mehr Inbrunst betet als diese beiden. Diese Weiber könnten jeden das heilige Fürchten lehren.«
Und hatten es anscheinend. Marys Mann klang, als würde er aus Erfahrung sprechen. Es gab Dinge, die waren universal, wenn es um gläubige Italienerinnen ging. Und jemanden das heilige Fürchten zu lehren stand im unsichtbaren Handbuch für italienische Mütter. Zu den wichtigsten Regeln gehörten:
1. Wie verhöre ich künftige Schwiegersöhne oder -töchter? Begutachtet wird jeder, der sich innerhalb der häuslichen Mauern blicken lässt.
2. Man lässt sich endlos und bis zur Peinlichkeit über die (ehelichen) Qualitäten des Sohnes/der Tochter aus.
3. Dem jungen Paar wird vor jeder Verabredung eingebläut, dass außereheliche Aktivitäten Sünde sind und umgehend mit dem Zorn Gottes bestraft werden. Das Gesagte wird, wenn nötig, mit treffenden Bibelzitaten unterstrichen.
4. Die Namen hochgestellter geistlicher Würdenträger werden eingestreut – Priester, Rabbi, etc. – und/oder Verbindungen zur Mafia, real oder fiktional.
Natürlich gab es noch andere Gebrauchsanweisungen, die ihr momentan jedoch nicht einfielen.
»Sophia geht erst gar kein Risiko ein«, sagte Mary und musste nun doch lächeln. »Sie betet nicht nur täglich einen Rosenkranz für uns, sie hat Sharon Rothburg jeden bekannten Fluch an den Hals gewünscht. Diese Frau hat damit zu tun bis ans Ende ihrer Tage. Keiner kann das besser als meine Mutter.«
Ah, der Fluch. Den kannte Angela nur zu gut. Sophia hatte ihr Bestes versucht, Angela und Joe zu verkuppeln, und war am Boden zerstört gewesen, als sie damit scheiterte. Joes tyrannische Mutter war mit Joes Wahl – Annie Goldman – alles andere als einverstanden gewesen und hatte entschieden, dass Angela und nicht Annie die perfekte Ehefrau für ihren Sohn abgäbe. Glücklicherweise hatte Joe eigene Vorstellungen gehabt und Annie geheiratet.
Annie hätte es nicht besser treffen können. Joe Russo war ein guter, liebevoller Mann. Und auch Mary hatte, wie es schien, das große Los gezogen. Dan hing ihr förmlich an den Lippen, und es war nicht zu übersehen, wie verrückt er nach ihr war.
Wie es wohl wäre, eine solche Liebe zu finden?, fragte sie sich mit einem tiefen Seufzer.
Jetzt reiß dich zusammen, DeNero!
So ist das nun mal: Glück im Spiel und Pech in der Liebe. Du hast studiert. Nicht jeder stolpert über die große Liebe. Sei froh, dass du deine Karriere hast, eine dich liebende Familie und einen Hund, der dir buchstäblich zu Füßen liegt.
Doch die Worte klangen hohl, selbst für Angelas Ohren.