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4 Warum werden Anwälte von Haien immer verschont? Aus Kollegialität.

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Im Mama Sophia’s war es laut und voll, als John das Restaurant einige Zeit später betrat. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und die winzigen Lichter, die zwischen den Plastikreben an der Decke hervorblitzten, funkelten einladend. Hier war es, im Gegensatz zum nasskalten Herbstabend draußen, warm und gemütlich.

John nagte noch heftig an der Vorstellung, dass Angela möglicherweise schwanger war. Ein lediges Kind! Das war so untypisch für die Frau oder das Mädchen, das eil in Erinnerung hatte. Die perfekte Angela! Macht nie einen Fehler und hat immer alles unter Kontrolle.

Was scherte es ihn? Vielleicht war sie ja wahnsinnig verliebt in den Vater des Kindes und würde ihn bald heiraten. Die verstohlene Art, wie sie diesen Schwangerschaftstest in ihrer Tasche hatte verschwinden lassen, als hätte sie Angst vor Entdeckungen, sprach allerdings gegen diese Annahme. Offen gesagt, er machte sich Sorgen um sie.

»Johnny!«

Die beunruhigenden Gedanken an Angela beiseite schiebend, wandte er sich beim Klang seines Namens um und sah seine Kusine begeistert auf sich zueilen. Mary sah sogar noch besser aus als bei ihrer letzten Begegnung. Sie sah aus, als hätte sie die Gesundheit gepachtet, ihre Augen funkelten, ihr Gesicht leuchtete – all die Klischees eben, die man Schwangeren so nachsagt.

Sie schlang ihre Arme um seine Hüften, wie sie es oft getan hatte, als sie noch Kinder waren, und drückte ihn fest an sich. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Johnny. Wie geht’s dir denn so?«

Er gab ihr einen Schmatz auf die Wange. »War ziemlich fleißig. Aber nicht so fleißig wie du, cara.« Er warf einen bezeichnenden Blick auf ihren gerundeten Bauch und zwinkerte ihr zu. »Hab gehört, dass du schwanger bist. Steht dir richtig gut. Herzlichen Glückwunsch!« Sie strahlte übers ganze Gesicht, und es war klar, dass sie und Dan sehr glücklich miteinander waren.

»Bist du zum Essen gekommen?«, fragte Mary und zog ihn, ohne eine Antwort abzuwarten, mit sich. »Komm, meine Eltern sind auch da. Sie freuen sich bestimmt riesig, dich zu sehen.«

John stöhnte innerlich und war versucht, eilends zu flüchten. Seine Tante Sophia war der letzte Mensch auf Erden, den zu sehen er sich wünschte. Onkel Frank war ein netter Kerl, und er unterhielt sich gerne mit ihm über seine Erfindungen – den beheizten Toilettensitz hatte er sich sogar gekauft und war sehr zufrieden damit, besonders morgens, wenn es kalt war. Sophia dagegen bedeutete selbst für einen Heiligen eine schwere Prüfung. Und er war kein Heiliger.

»Schaut mal, wer da ist«, jubelte Mary und drückte John auf einen Stuhl am Tisch ihrer Eltern. »So, setz dich. Ich bringe dir gleich ein Glas. Wir haben einen neuen Chianti Classico reingekriegt, und ich will wissen, wie du ihn findest.« Und schon war sie fort und ließ ihn allein mit dem Drachen zurück.

Welcher auch keine Zeit verlor. »Siehst ein bisschen dünn aus, Johnny. Isst du nicht richtig? Ich bin erstaunt, dass deine Mutter nicht besser auf dich achtet.« Sie schürzte die Lippen und gab ein missbilligendes Schnalzen von sich, dazu trommelte sie mit den Fingerspitzen auf die farbenfrohen Mosaiksteinchen der Tischoberfläche. »Welche Frau ist schon gern mit einem Gerippe zusammen? Du brauchst mehr Fleisch auf die Knochen, Junge.«

»Deshalb ist Sophia ja auch so verrückt nach mir«, grinste Frank und tätschelte liebevoll seinen Schmerbauch. »Diese Diäten können mir gestohlen bleiben. Ich bin eben vollschlank, wie man heutzutage sagt.«

Seine Göttergattin fand diese Bemerkung kein bisschen witzig und gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Du bist fett, Frank. Zu viel vino und zu wenig Bewegung.« Er machte den Mund auf, um zu protestieren. »Und Boccia spielen mit deinen feinen Freunden und dazu Wein saufen zählt nicht.« Frank klappte den Mund wieder zu.

»Ich esse was ich will, seit ich zwölf bin, Tante Sophia.« John lächelte, so höflich er konnte, aber seine Tante grunzte nur. Die Antwort gefiel ihr wohl nicht, und es sah aus, als fiele ihr noch jede Menge zu diesem Thema ein.

»Wie geht’s Bobby?«, unterbrach Frank hastig Sophias drohende Tirade. Sein Onkel besaß die Fähigkeit, genau zu wissen, wann er den Opfern seiner Frau zu Hilfe eilen musste, wofür John ihm zutiefst dankbar war.

»Das letzte Mal, als ich mit deinem Vater telefoniert habe, machte ihm sein Rücken Probleme«, fuhr sein Onkel fort. »Geht es ihm wieder besser? Eigentlich wollte ich ihn heute Vormittag mal anrufen, aber wenn ich an einer neuen Erfindung arbeite, vergesse ich alles um mich herum.«

»Wie lautet denn der neueste Geniestreich aus dem Russo-Kellerlabor, Onkel Frank?«

»Ich arbeite noch an ein paar abschließenden Handgriffen für eine ferngesteuerte Toilettenspülung. Tolle Idee, no? Ich werde sie ›Franks Spülboy‹ nennen. Müsste eigentlich verkauft werden wie die warmen Semmeln. Badartikel sind zurzeit groß in Mode, vermutlich, weil wir Senioren so viel Zeit dort verbringen.« Er zwinkerte spitzbübisch.

John nickte zwar und heuchelte mit einem begeisterten Lächeln Zustimmung, konnte sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, wieso jemand den Wunsch verspüren sollte, eine Toilettenspülung aus der Ferne zu betätigen. »Dad ist zu einem Chiropraktiker gegangen, der hat ihn im Nu wieder hingekriegt. Dad hält ihn jetzt für einen Wunderheiler.«

»Pah! Diese Quacksalber taugen doch nichts.« Sophia, die zu allem und jedem eine eigene, natürlich richtige Meinung hatte und sich auch nie scheute, diese kundzutun, stieß mal wieder ein verächtliches Grunzen aus. »Praktizieren alle ohne ordentliche Zulassung. Dein Vater sollte zu seinem Hausarzt gehen, nicht zu irgendwelchen Fremden. Richte ihm das von mir aus. Er könnte im Rollstuhl enden, das zeigt man ja andauernd im Fernsehen. Und wer kümmert sich dann um die Schnellreinigung? Deine Mutter bestimmt nicht. Die ist unfähig.«

Adele Franco arbeitete mit ihrem Mann schon seit über dreißig Jahren in der Schnellreinigung und konnte den Laden, wenn nötig, sogar linkshändig leiten. Das Einzige, was sie noch besser im Griff hatte, war ihr Mann.

In diesem Moment tauchte Mary auf und ersparte John die Antwort. Aus alter Gewohnheit und weil seine Tante ihn in den Wahnsinn trieb, suchte er in seinen Taschen nach einer Zigarette. Dann fiel ihm wieder ein, dass er ja aufgehört hatte, und er gab einen tiefen Seufzer von sich. »Danke, Mary«, sagte er, als sie ihm ein Glas mit der tiefroten Flüssigkeit einschenkte, nahm einen Schluck und sagte: »Mmmm, sehr gut. Kräftig und vollmundig. Schmeckt ausgezeichnet. Wo ist eigentlich dein Mann? Noch so spät in der Redaktion?«

Mary nickte und setzte sich auf den Stuhl neben ihn. »Dan ist im Moment ganz schön eingespannt. Footballsaison, du weißt schon. Und da die Ravens ja letztes Jahr den Super Bowl gewonnen haben, ist hier natürlich das reinste Footballfieber ausgebrochen. Außerdem ist unsere neue Kneipe bald fertig – eine Mischung zwischen einem irischen Pub und einem Sportlokal. Wenn alles gut läuft, werden wir in ein paar Wochen eröffnen. Es wird dir gefallen, alles sehr maskulin. Aber bring ruhig eine Freundin mit, Frauen werden es sicher auch mögen.«

Sophias Radar schlug aus und klinkte sich in ihre Unterhaltung ein. »Mit wem biste denn zusammen, Johnny? Ist es was Ernstes? Ist sie Italienerin? Ist sie von hier? Wird allmählich Zeit, dass du ’ne Familie gründest. Wirst auch nicht gerade jünger. Und je älter ein Mann wird, desto schlechter funktioniert seine Ausrüstung.« Bei dieser Bemerkung kippte John den restlichen Inhalt seines Glases in sich hinein. »Und wenn du eine Frau im Haus hättest, die für dich kocht, würdest du auch nicht aussehen wie ein Hänfling.«

»Jetzt reicht’s aber!«, schimpfte Frank und warf seiner Frau einen giftigen Blick zu. »Lass den Jungen in Ruhe. Er versucht sich sein Brot und seinen Wein schmecken zu lassen. Und an einer älteren Ausrüstung gibt’s nichts auszusetzen. Hab jedenfalls noch keine Klagen gehört.«

Sophia errötete bis unter ihre karottenrot gefärbten Haarwurzeln und war für den Moment sprachlos.

John tauchte ein Stück des noch warmen italienischen Weißbrots in die Schüssel mit gewürztem Olivenöl, biss ab und versuchte nur an diese Köstlichkeit zu denken – denn Tante Sophia im Bett war eine Vorstellung, die er sich weder jetzt noch in Zukunft je ausmalen wollte. »Ich enttäusche euch ja nur ungern, aber ich habe im Moment niemanden. Bin mit der Arbeit reichlich eingespannt. Eine Anwaltspraxis aufzubauen ist kein Kinderspiel.« Nicht, dass er je seiner Tante gegenüber Einzelheiten über sein Liebesleben enthüllt hätte. Die Frau hatte das größte Mundwerk in ganz Little Italy. Sophia konnte selbst den größten Klatschbasen noch was beibringen, sie war ein Piranha unter den hiesigen Goldfischen.

Klatsch und Tratsch waren das Lebenselixier dieses Viertels. Die Bewohner brauchten ihn wie die Luft zum Atmen. Und keiner wurde davon verschont. Kein Streit und kein Zank blieben verborgen, man konnte weder zunehmen noch sich was Neues zum Anziehen kaufen, ohne dass es jedermann wusste oder erfuhr. Ein Privatleben konnte man sich hier abschminken.

Marys Augen funkelten auf einmal spitzbübisch. »Du solltest Angela DeNero kennen lernen, Johnny. Sie ist auch Anwältin. Und bildhübsch.«

»Wir kennen uns. Sind sogar zusammen auf der Highschool gewesen.«

Ihre Brauen schössen in die Höhe. »Ehrlich? Und – was hältst du von ihr?«

Da er sich nicht in irgendwelche Verkupplungsmanöver hineinziehen lassen wollte, zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern. »Hübsch ist sie schon, das stimmt. Aber eigentlich nicht mein Typ.« Mary wäre erst zufrieden, wenn jeder, den sie kannte, verheiratet war – das Erbe ihrer Mutter machte sich bemerkbar –, und John hatte nicht die Absicht, sich noch mal zu binden.

Die Ehe mit Grace hatte tiefe Wunden und einen bitteren Geschmack bei ihm hinterlassen. Mit einer einzigen selbstsüchtigen Handlung hatte seine Frau seine Liebe, sein Vertrauen und sein ungeborenes Kind zerstört. Dieser Verrat brannte noch immer schmerzhaft in seiner Brust.

»Was redest du da für einen Blödsinn?« Sophia schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Biste irre? Biste schwul? Angela ist eine Schönheit. Und sie hat was im Köpfchen.« Sie starrte ihren Neffen an, als hätte er den Verstand verloren. »Ich wollte, dass mein Joe sie heiratet. Sie hätten wunderschöne bambinos bekommen. Aber er wollte ja unbedingt Annie Goldman. Jetzt sind sie verheiratet. Scheint zu funktionieren.« Sie tat, als würde sie ihre Lippen mit Daumen und Zeigefinger versiegeln. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

Wäre das nicht himmlisch, wenn sie tatsächlich nie mehr ein Wort sagen würde? »Ich weiß, dass Annie und Joe geheiratet haben, Tante Sophia. Ich war schließlich bei der Hochzeit dabei, weißt du noch? Der Lange im schwarzen Bratenrock.« Es war ein reines Wunder, dass die Hochzeit überhaupt stattgefunden hatte. Sophia war strikt gegen die Heirat gewesen, da sie der Meinung war, Annie Goldman hätte ihren kostbaren Sohn dazu gebracht, sein Priesteramt niederzulegen.

John war schon seit langem mit der ziemlich unkonventionellen Frau befreundet. Er und Annie hatten vor Jahren mal kurz was miteinander gehabt, doch es war nichts daraus geworden, außer einer guten Freundschaft.

»Ach ja, stimmt.« Sophia schlug sich gegen den Kopf. »Ich weiß nicht, wo ich manchmal mit meinen Gedanken bin.«

John war versucht, ihr Klarheit in diesem Punkt zu verschaffen, verkniff es sich aber rechtzeitig und meinte stattdessen: »Um deine vorherige Frage zu beantworten: Nein, ich bin nicht schwul. Aber wenn ich’s wäre, würde ich mich deswegen auch nicht schämen.«

»Jetzt werd bloß nicht unverschämt, Johnny Franco. Ich hab ganz vergessen, dass sich dein Bruder ja vor kurzem ›geoutet‹ hat.« Man hatte von nichts anderem gesprochen, an Sophias und Franks dreiundvierzigstem Hochzeitstag vor ein paar Monaten. »Dio mio! Was für eine Schande. Ein so hübscher Bursche, dein Bruder. Ich mag ihn. Aber was Peter da tut, ist eine schwere Sünde. Es ist unnatürlich, das steht sogar in der Bibel.« Sie zog ein angewidertes Gesicht. »Gar nicht zu reden, dass es deine Mutter und deinen Vater todunglücklich macht.«

»Mama!«, rügte Mary, die bemerkt hatte, wie rot Johns Gesicht angelaufen war. »Deine Meinung über Schwule und Lesben interessiert uns nicht. Ist eh ungefähr die gleiche wie die über Iren.«

Frank gluckste, als er das hörte. Sophias Irenhass war stadtbekannt, obwohl sie ihren Schwiegersohn Dan inzwischen ganz gern mochte.

»Was Peter macht, ist seine ganz persönliche Angelegenheit«, fuhr Mary fort. »Homosexuell zu sein heißt noch lange nicht, dass er aussätzig ist oder nicht mehr zur Familie gehört.« Sophia wollte etwas dagegen einwenden, doch Mary ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Hast du schon gehört, dass Angela mich und Dan im Sorgerechtsstreit gegen seine Exfrau und ihren neuen Mann vertritt? Wir hätten dich ja gerne gefragt, Johnny, aber ... na ja, Angela hat mit solchen Fällen Erfahrung, man hat sie uns wärmstens empfohlen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus. Wir wollten dich in keiner Weise kränken. Wir wissen, dass du ein sehr guter Rechtsanwalt bist.«

John war nicht im Mindesten gekränkt. Ihm war heiß und alles andere als wohl in seiner Haut. »Nein, das macht mir überhaupt nichts«, erwiderte er.

Jetzt sag’s ihnen schon, John. Sag Mary, dass du möglicherweise auf der Gegenseite stehst, wenn’s zur Verhandlung kommt. Sag’s ihr, bevor’s zu spät ist, bevor sie’s von Angela DeNero oder sonst wem erfährt.

Er holte schon tief Luft – und atmete stumm wieder aus. Er brachte es einfach nicht fertig.

Seine Tante würde explodieren wie eine Bombe. Und er könnte es nicht ertragen, das Gesicht seiner Kusine zu sehen, könnte es nicht ertragen, in Marys Augen als Verräter dazustehen, obwohl er sich im Moment genauso fühlte.

Das kam noch früh genug. Erst mal musste der Richter entscheiden, ob er einer Vertagung stattgab oder nicht. Bis dahin würde er stillhalten und inbrünstig beten, dass es alle anderen auch taten.

Mit zitternden Fingern hielt Angela das Plastikstäbchen ins Licht der milchigen Kugeln, die ihren Badspiegel umrahmten. Sie rang entsetzt nach Luft: blau! Aus blassrosa war blau geworden! Angela ließ das Stäbchen fallen, als hätte sie sich die Finger daran verbrannt, und sah zu, wie es zu Boden segelte.

»Großer Gott, ich bin schwanger!« Schwer plumpste sie auf den Badewannenrand und steckte erschüttert den Kopf zwischen die Knie. Das Porzellan fühlte sich kalt unter ihrem knappen roten Seidenhöschen an, ebenso kalt wie der Rest ihres Körpers. Sie begann am ganzen Leib zu zittern.

Jeden Moment würde sie anfangen zu hyperventilieren. Sie spürte, wie der Druck in ihrer Brust alarmierend zunahm, so ähnlich wie der Dampf in einem Teekessel oder wie in Aliens, als dieses Monster aus Ripleys Brust hervorbrach.

Rasch nahm sie einen Waschlappen, hielt ihn unters kalte Wasser, wrang ihn aus und presste ihn gegen ihre Stirn. Das Wasser lief weiter, ein Symbol für ihr Leben, das sie genauso im Abfluss verschwinden sah. »Jetzt beruhig dich, Angela«, ermahnte sie sich und holte mehrmals tief Luft, um das Rasen ihres Herzens zu beruhigen. »Aufregung ist nicht gut für das Kind. Es ...«

»Ein Kind!« Das Blut hämmerte ihr in den Ohren. »Ich kriege ein Kind!«

Winston, der gerade dabei war, seinen Durst in der – sauberen – Toilettenschüssel zu stillen, hob bei diesem Ausruf kurz den Kopf, nur um sich gleich wieder laut schlabbernd übers Wasser herzumachen.

Angela presste die Hand auf ihren Bauch und begann im Geiste nachzuzählen. Das letzte Mal, dass sie mit Bill im Bett gewesen war, war einige Wochen her.

Wieso nur hatte sie noch mal nach Boston fahren müssen? Hätte sie doch bloß der Versuchung widerstanden, sich noch mal mit ihm aussöhnen zu wollen.

Was für ein schlechter Witz. Und er ging total auf ihre Kosten.

»Verdammt sollst du sein, Bill McElroy, du Kondomhasser, du Sexmonster, du hinterlistiges Schwein! Verrotten sollst du in der Hölle oder wenigstens im Ärmelkanal.« Bill war kurz nach ihrem letzten Treffen nach London umgezogen, zur Liebe seines Lebens, der Frau, mit der er Angela betrogen hatte. Sie wusste, dass er nicht vorhatte, je wiederzukommen. Das hatte er ihr sogar ins Gesicht gesagt.

»Ich bedaure, Angela. Glynnis lebt nun mal in London, und wo sie ist, will auch ich sein. Wir wollen heiraten. Wünsch mir Glück.«

Er hatte das derart gleichmütig gesagt, dass er ihr ebenso gut einen seiner blöden Zettel hätte schreiben können:

»Liehe Angela, hiermit teile ich dir mit, dass ich mit einer anderen Frau bumse. Mit freundlichen Grüßen, Bill.«

»Fahr zur Hölle, du fieser, hinterlistiger Spermienspender!«

Angela hatte schon in den letzten sechs Monaten ihrer Beziehung den Verdacht gehabt, dass Bill sie betrog. Die üblichen Anzeichen waren da: Lippenstiftspuren, der Geruch eines fremden Parfüms an seinen Hemden – Glynnis benutzte Eternity; welche Ironie! –, jede Menge nächtlicher Überstunden und in letzter Minute einberufene berufliche Wochenendtrips.

Natürlich hatte er ihre diesbezüglichen Fragen empört von sich gewiesen, hatte für alles eine plausible Erklärung parat gehabt. Sie musste zugeben: Er hatte sie nach Strich und Faden verschaukelt, so wie es nur Anwälte können. Aus diesem Grund war sie auch so dämlich gewesen, diese »Versöhnungsnacht« zuzulassen.

Sie waren schließlich fast zwei Jahre zusammen gewesen, waren miteinander verlobt und hatten heiraten wollen. Sie hatte gedacht, ihm diesen letzten Versuch schuldig zu sein, ihm und sich selbst.

Du blöde Kuh!

»Ertrinken sollt ihr, alle beide«, wisperte sie und brach in Tränen aus. Eine wahre Flut brach sich Bahn. Angela schluchzte, als wolle ihr das Herz brechen.

Winston leckte ihre Hand, winselte und bellte dann durchdringend, um sie seiner Unterstützung zu versichern.

Wie kann ich mir ein Kind leisten? Ich habe keinen Mann. Ich habe eine aufstrebende Anwaltspraxis.

Und diese Praxis zum Florieren zu bringen erforderte jedes Quäntchen Zeit und Energie, das sie besaß. Zumindest kannte sie jetzt den Grund für ihre Müdigkeit. Eisenmangel wäre ihr allerdings weitaus lieber gewesen.

Angela konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie versuchte, Beruf und Kind unter einen Hut zu bringen. Sie hatte doch keine Ahnung, wie man mit so einem hilflosen Wesen umging. Der Gedanke an die immense Verantwortung, die auf sie zukam, verpasste ihr einen neuen Übelkeitsschub.

Wie konnte ich bloß so dumm, so naiv sein?

Das kommt davon, wenn man mit dem Herzen denkt statt mit dem Verstand, Angela.

»Ach, halt die Luft an! Wer hat dich gefragt?«

In diesem Moment bimmelte das Telefon, aber Angela hatte nicht die Absicht ranzugehen. War wahrscheinlich eh bloß wieder einer dieser blöden Telefonverkäufer, die einem was andrehen wollten, was man sowieso nicht brauchte, wie zum Beispiel einen Rasenpflegeservice. Sie hatte den Leuten von Miracle Green schon an die hundert Mal gesagt, dass sie in einem Apartment wohnte und keinen Garten hatte, aber die riefen unverdrossen immer wieder an.

Angela nahm ihren zwar potthässlichen, aber umso bequemeren weißen Frotteemantel vom Haken an der Badtür und schlüpfte in flauschige rosa Pantoffeln. Dann lugte sie zu Winston hinunter, der sie in sabbernder Verwirrung anglotzte. »Na, komm, Win. Mal sehen, wer uns da anruft.« Sie ging ins Wohnzimmer, und der treue Winston watschelte schwerfällig hinter ihr drein – immerhin brachte er gute zwanzig Kilo auf die Waage. Vor dem braun lackierten Kaffeetischchen, auf dem der Anrufbeantworter stand, blieb sie stehen.

Sämtliche Möbel – das preiselbeerrote Ledersofa mit passendem Sessel, die tannengrünen Kiefernholzschränke und Tische – waren geliehen. Sie gehörten Mary Gallagher, die sie momentan nicht brauchte.

»Angela, hier ist deine Mutter. Wo steckst du? Ich habe tolle Neuigkeiten.«

»O nein – bloß nicht!« Sie konnte jetzt nicht mit Rosalie reden. Eine solche Strafe verdiente sie nicht. Ihre Mutter war äußerst hellhörig, um nicht zu sagen intuitiv und würde sofort merken, dass etwas nicht stimmte. Sie würde es in Angelas Stimme hören, würde es übers Telefon spüren.

Italienische Mütter besaßen eine Art eingebautes Radar- und Röntgensystem.

»Deine Schwester macht alle verrückt mit diesem blöden Job. Was hat eine Frau auf einem Bulldozer zu suchen, hm? Verrate mir das mal. Dein Vater hat ihr befohlen zu kündigen, aber sie weigert sich. Es ist so gefährlich. Ich bin ganz verrückt vor Sorge. Ich ...«

Rosalie machte sich Sorgen? Wohl kaum eine besonders überraschende Nachricht.

Angela ließ sich aufs Ledersofa plumpsen. Winston eroberte den Platz neben ihr und legte den Kopf auf ihren Schoß. Sie streichelte ihn zerstreut, während sie ihrer Mutter zuhörte, die ihr all die wichtigen Familienereignisse anvertraute:

»Du solltest das Kleid sehen, das sich dein Vater gekauft hat. Orange. Nicht meine Farbe, aber ihm steht’s gut. Der Mann hat wirklich einen fabelhaften Geschmack. Hat sich auch noch die passenden Pumps dazu gekauft.«

Angela verdrehte die Augen. Schlimm genug, einen Vater zu haben, der gerne Frauenkleider trug, aber eine Mutter, die seine ungewöhnliche Leidenschaft auch noch unterstützte, war zu viel. Rosalie hielt es für einen Skandal, dass ihre Tochter Mia einen Bulldozer fuhr, fand aber nichts dabei, wenn sich ihr Mann mit Fummel und Schminke ausstaffierte.

Eine paradoxe Situation. Angela liebte sie zwar sehr, aber sie machten sie verrückt.

Sie waren verrückt.

»Eigentlich wollte ich, dass es eine Überraschung wird, aber ich kann einfach nicht länger warten, ich muss dir unsere aufregenden Neuigkeiten gleich erzählen.«

Angela hielt gespannt den Atem an. Aufregende Neuigkeiten! Was meinte ihre Mutter damit? Es klang eher ominös als aufregend. Sie beugte sich vor, lauschte noch aufmerksamer.

»Dein Vater und ich haben beschlossen umzuziehen ...«

»Ach du heilige Scheiße! Nein, bitte nicht! Alles, bloß das nicht.« Die Zeit schien stillzustehen für Angela, während sie auf die nächste Bombe wartete.

»Du weißt ja, wie sehr du uns fehlst, also haben wir hier das Haus in der Oliver Street verkauft – ganz gut sogar, muss ich sagen – und ziehen wieder nach Baltimore, um in deiner Nähe zu sein. Wenn alles klappt, können wir in ein paar Wochen bei dir sein. Du bist sicher ganz aus dem Häuschen, wenn du das hörst. Wir sind auch schon ganz aufgeregt. Mia weiß noch nicht, ob sie mitkommt – sie mag diesen merkwürdigen Job –, aber wir werden sie schon noch rumkriegen.«

Sie zogen wieder nach Baltimore. Ihre Eltern zogen nach Baltimore. Schon in ein paar Wochen! Mein Gott!

Du bist sicher ganz aus dem Häuschen, wenn du das hörst.

»Ja, Ma, ich bin so aus dem Häuschen, dass ich mich am liebsten aus dem Fenster stürzen würde«, bemerkte Angela trocken und schaute dabei zu dem großen Wohnzimmerfenster hinüber. Dann seufzte sie, weil ihr einfiel, dass Joe gesagt hatte, das Fenster wäre schon vor Jahren zugestrichen worden und ließe sich nicht mehr öffnen.

Angela hob den Kopf augenverdrehend zur Zimmerdecke. »Womit habe ich das verdient? Sag’s mir, du da oben. Gut, ich hatte Sex, ohne verheiratet zu sein. Okay, gesündigt hab ich auch ein paar Mal. Dann verklag mich doch. Als ob ich nicht schon genügend büße. Ich bezahle pünktlich meine Steuern, bin stets fleißig. Und ich bin gut zu meinem Hund.« Sie tätschelte Winstons Kopf, und der schnaufte zustimmend. »Wie kannst du nur so grausam sein?«

»Und dann sind wir wieder alle glücklich vereint«, sagte Rosalie noch, bevor sich der Anrufbeantworter abschaltete.

Angela starrte den Apparat wie betäubt an. Sie fühlte sich ohnmächtig und vollkommen hilflos. Und zutiefst verzweifelt. Für eine Frau, die alles gerne sauber und geordnet hatte, die Frieden und Unveränderlichkeit liebte, war diese Wendung der Ereignisse untragbar.

Unfassbar.

Inakzeptabel!

Wie der Vesuv in seinen besten Zeiten erbrach sie sich in einem Schwall über Winston und über Marys preiselbeerrotes Ledersofa.

Eine Stunde später, Angela hatte es sich gerade mit einer Tasse Tee und der Fernbedienung auf dem frisch gesäuberten Sofa bequem gemacht, klopfte es an ihrer Haustür. Winston lag intensiv schnarchend nebenan im Schlafzimmer auf ihrem Bett und bellte deshalb nicht, wie er es sonst zu tun pflegte.

So scheußlich, wie sie sich fühlte und aussah, war sie versucht, nicht zur Tür zu gehen. Aber es konnte ja ihre Vermieterin sein, Mrs. Foragi, und diese Frau gab gewöhnlich erst auf, wenn sie ihre Wünsche losgeworden war. Also zog Angela den Gürtel ihres zerschlissenen Frotteemantels stramm und ging zur Wohnungstür.

Zu ihrer grenzenlosen Verblüffung stand John Franco davor.

Er lächelte entschuldigend. »Darf ich kurz reinkommen? Es dauert ganz bestimmt nicht lang. Ich – ich muss nur dringend mit dir über etwas reden.«

Angela warf einen entsetzten Blick auf ihren Bademantel. Und sie war völlig ungeschminkt! Musste er sie so erwischen? Schlimmer ging’s nicht. Sie sah aus wie Frankenstein im Bademantel! Und sicher roch sie auch so. Gruftig war wohl noch geschmeichelt. Sie schluckte, gab sich einen Ruck und sagte: »Kommen Sie rein.« Er folgte ihr ins Wohnzimmer. »Ist was passiert?«, erkundigte sie sich besorgt.

John nahm auf dem Sofa Platz, und sie setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel. Besser ein wenig Distanz wahren. Man konnte ja nie wissen, ob die damalige jugendliche Leidenschaft mit ihm durchgaloppierte.

Hahaha! Hast du in letzter Zeit mal den Spiegel konsultiert, Angela?

»Ja, äh.« John rieb sich sichtlich unbehaglich den Nacken. »Also, ich war heute in der Apotheke und ...«

»Das weiß ich, Mr. Franco. Mein Gedächtnis ist ausgezeichnet.«

»Ich hab gesehen, wie du diesen Schwangerschaftstest in deine Tasche gesteckt hast, Angela.«

Sie erbleichte, und er hoffte, dass er sie nicht zu sehr – und damit eruptiv – aufgeregt hatte.

»Falls Sie vorhaben, mich wegen Ladendiebstahls anzuzeigen, dann lassen Sie mich Ihnen versichern, dass ich das Geld dafür hingelegt habe.«

Angelas Befürchtungen waren schlicht lachhaft. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund erwachte jedoch auf einmal ein starker Beschützerinstinkt in ihm. »Teufel noch mal, nein! Ich weiß, das klingt jetzt verrückt, aber ich konnte danach an nichts anderes mehr denken, als daran, wie verzweifelt du ausgesehen hast. Na ja, und ich will nur, dass du weißt, dass ich für dich da bin, falls du einen Freund brauchst, jemanden zum Reden. Ich weiß, wir kennen uns nicht sehr gut, aber das ist manchmal sogar besser.«

Angela war gerührt, wusste jedoch nicht, wie sie reagieren sollte. Sollte sie zugeben, dass sie schwanger war, und seine Freundschaft annehmen? Oder alles abstreiten und sich irgendeine hirnrissige Ausrede einfallen lassen? Unglücklicherweise war Angela noch nie gut im Lügen und Ausredenerfinden gewesen, also entschied sie sich für die Wahrheit.

»Nun, ich sollte Ihnen wohl danken, aber es stört mich, dass Sie mir in der Apotheke nachspioniert haben, wenn ich ganz ehrlich bin.« Er machte den Mund auf, um zu widersprechen, doch sie ließ ihm keine Chance dazu. »Aber da Sie’s ja schon mal beobachtet haben, kann ich Ihnen ebenso gut sagen, dass ich schwanger bin – schwanger und unverheiratet. Und kein Mann in Sicht. Ganz schön blöd von mir, in meinem Alter noch so reinzurasseln, nicht?«

Er brauchte einen Moment, um ihre Eröffnung zu verdauen. »Solche Dinge passieren eben. Du solltest nicht zu streng mit dir sein.«

Nein, da hatte er Recht. Die Schelte verdiente Bill McElroy, dieser Mistkerl, aber der war meilenweit weg und verbrachte seine Tage und Nächte in den Armen von Glynnis. Außerdem lag die Schuld genau genommen bei ihr. Sie hätte auf Verhütung bestehen müssen, schließlich war es ihr Körper.

»Ich habe noch keiner Menschenseele etwas davon erzählt, Mr. ... äh, John.« Sie pustete verlegen aus. »Und ich wäre dir dankbar, wenn du meinen Wunsch respektieren und nichts über meinen Zustand verlauten lassen würdest. Ich muss erst mal selbst damit fertig werden. Ich weiß noch nicht einmal, was ich letztlich tun werde.«

Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht, doch er sagte nichts, nickte nur.

Angela lächelte warm. »Danke, dass du vorbeigekommen bist. Deine Besorgnis rührt mich. Sicher ist dir das alles genauso peinlich wie mir.«

»Na ja, ehrlich gesagt, ist es für dich wohl ein klein bisschen peinlicher.« Er zwinkerte ihr zu und erhob sich. »Ich mach mich besser auf den Weg. Dir geht bestimmt eine ganze Menge im Kopf rum. Pass gut auf dich auf, ja? Und ruf mich an, wenn du was brauchst.« Er zog eine Visitenkarte aus seinem Geldbeutel und reichte sie ihr. »Meine Privatnummer steht im Telefonbuch.«

Sie folgte ihm zur Tür. »Weißt du, John, wenn du nicht aufhörst, Damen in Not beizuspringen, ruinierst du noch deinen Ruf als Bad Boy, den du dir in der Schulzeit so hart erarbeitet hast.«

Seine blauen Augen funkelten. »Ach was, ich bin unverändert schlecht bis ins Mark. Man merkt’s mir nur nicht mehr so an.«

Angela gluckste, schloss die Tür und lehnte sich dann an den Türrahmen. Wer hätte gedacht, dass John Franco, der größte Raufbold und Unruhestifter der Bridgemont High, ein so netter, rücksichtsvoller und hilfsbereiter Mensch werden würde? Seine Geste rührte sie zutiefst.

Was natürlich nicht bedeutete, dass je mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein würde. Oder dass sie nicht alles tun würde, um ihren Fall zu gewinnen, wenn sie im Prozess gegen ihn antreten müsste.

Ein Anwalt zum Verlieben

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