Читать книгу Die Nachtwache - Mina Bialcone - Страница 4
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ОглавлениеDas Geräusch drang durch die Wände, kroch durch die Tür und schlüpfte durch das Federkissen, das er sich auf den Kopf gepresst hatte. Das Telefon schrillte bis Gilbert es nicht mehr länger ertrug aus seinem Alptraum erwachte und er sich barfuß aus dem Bett und seinen Räumlichkeiten stürzte und, wie im Tagtraum die Treppe hinunter in den Flur ging. Bolder stand sinnierend, die Hände auf dem Rücken gelegt vor dem Wandtelefon und betrachtete es, als rätsele er über den Sinn und die Funktion. »Bolder?«, stöhnte Gilbert. Die Sonnenstrahlen, die durch die Buntglasscheiben der Eingangstür fielen schmerzten in den Augen. »Bei Ramses, was machst du?« Bolder drehte sich zur Treppe. »Guten Morgen, Sir. Es scheint kaputt zu sein, es scheppert seit geraumer Zeit.«
»Das es klingelt, habe ich seit 20 Minuten mitbekommen.«
»Dann scheint das Gerät zu funktionieren und auch ausreichend laut zu sein.« Bolder nickte ihm einmal majestätisch zu und machte sich ohne ein Wort der Erklärung hinunter in sein Zimmer. Er stand nur im Notfall vor neun Uhr auf. Das Telefon musste ihn wirklich gestört haben. Gilbert schnappte sich das Hörteil und presste ihn sich gegen das Ohr. Er beugte sich dicht an die Sprechmuschel und zischte, »Anschluss 234 Nachtwache Whitechapel. Wehe es ist, kein Notfall.«
»Wie geht es dir, Darling?«, trillerte Sarah Rutherford. Sie klang entzückend, als stehe sie in lichter Vollmondnacht im luftigen Sommerkleid und Strohhut auf dem blonden Köpfchen auf einer Blumenwiese und sammle Margeriten für ihren Blütenkranz. Sarah nannte aus Prinzip jeden Darling, der in ihrem Alter war und ihrer Gesellschaftsschicht entstammte. Gilbert of Breden schloss seine brennenden Augen und sah sie so klar vor sich, dass er ein leichtes Stechen in seiner linken Hirnhälfte spürte. »Sarah, es ist sieben Uhr und acht Minuten. Ich bin noch müde, also was ist los?«
»Morgenstunde hat Gold im Mund sagen die Leute. Nicht das ich sehr viel auf den Unsinn gebe, den mein Dienstmädchen von sich gibt, dennoch es ist schön von mir geweckt zu werden.« Am Ende ihres Satzes stand kein Fragezeichen, sondern ein dickes Ausrufezeichen das kein Raum für ein Nein zuließ. Es gab bereits tausend Telefonanschlüsse in London, dennoch knackte und rauschte es in der Leitung, als rede man mit jemanden vom Mond. »Dein bester Freund Willbur Sebastian Marklet ist ein richtiger Possenreißer«, flötete Sarah, »er hat mir ein frivoles Kompliment zu meinen Fußknöcheln gemacht. Beim gestrigen Crockett hat der Wind den Saum meines Kleides verweht.« Gilbert knirschte mit den Zähnen. Sarah benahm sich schon nach dem Aufstehen, wie der Ehrengast eines Balls. »Ich hasse Marklet, seit ich ihn kenne.«
Sie schwieg, dabei reagierte Sarah auf die Sticheleien eines müden Geistes mit liebenswürdigen Optimismus, was furchtbar nerven konnte. »Willbur Marklet kann richtig charmant sein«, behauptete sie. Gilbert bezweifelte das Marklet jemals was Frivoles sagen würde, er war einfach nicht der Typ dazu und außerdem war es Gilbert egal, er war nicht der Typ, der zu Eifersucht neigte oder der Typ der sich an, von der Familie arrangierte Verlobungen hielte. »Was machst du gerade, Darling?«, fragte Sarah die die schlechte Angewohnheit besaß selbst ihren Pudel so zu nennen. »Ich stehe nackt im Flur und telefoniere, weil ich dachte, der Anruf ist wichtig.«
»Wie kannst du mir so etwas Unanständiges sagen!«, kreischte sie plötzlich.
»Ich hatte vergessen, wie viel Wert du auf Etikette legst.« Gilbert sah zur Treppe in die Souterrainwohnung hinunter, wo Bolder bereits wieder schlief, anstatt das Gespräch anzunehmen und Sarah zu sagen er sei verreist. Warum hatte er einen Diener, wenn der sich weigerte das Telefon abzunehmen? Bolder benahm sich, wie ein Wilder, der glaubte die Bell telephon Company würde ihm die Seele aus dem Körper ziehen. Und was machte seine Assistentin, schlief immer noch länger als Bolder? Sollten junge Damen nicht mit dem ersten Lerchengesang aus den Federn sein und sich ihren Kopf darüber zerbrechen, welches Kleid sie am Vormittag anziehen sollten und welchen Hut beim Tee? Wenn er jetzt darüber nachdachte, wusste er nicht mehr, warum er sich die teuflisch, scheppernde Apparatur an die Wand montieren ließ? Musste er jeden neumodischen Unsinn mitmachen, er sollte einige Jahre warten, bis die Technik ausgereifter war und man jedes zweite Wort verstehen konnte und bis dahin auf die Post Depesche zurückgreifen. Das war eine gute Idee. Immerhin war der Postdienst bedeutend älter. »Sarah.«
»Ja?«
»Kannst du das nächste Mal einen Brief schicken, wenn du mich am Morgen stören willst? Der Postbote kommt immer erst gegen elf Uhr.« Er war an den besten Schulen von Cambridge erzogen, aber am Morgen nach nur zwei Stunden Schlaf vergaß er Herkunft und Erziehung und das sein Familienstammbaum bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht. Er hatte fast immer ein Lächeln in seinem hübschen Gesicht. Gilbert war schlank, breitschultrig und mit einen Meter achtzig groß gewachsen. Seine für einen Londoner Gentleman ungewohnte Sonnenbräune betonte seine Augen. Die Menschen, mit denen er verkehrte mochten ihn, was an seinem ruhigen Wesen und den Augen lag, die Wärme und Verständnis ausstrahlten, in Wirklichkeit aber bedeuteten das sein Geist gerade mit etwas anderem beschäftigt war und er nicht für einen Sixpence zuhörte. »Warum hast du angerufen?«
»Ich bin mit meiner Familie und Virginia Barksdale und ihrem Verlobten Wycliffe in Hampton Manor. Gestern fand der Jagd Ball stand und heute ist die Fuchsjagd. Wir haben an dich denken müssen. Einer der Mietkellner auf dem Ball sah aus wie du.«
»Was ein Glück, für den Mietkellner.« Gilbert stand halbnackt im Flur der Nachtwache, er hatte mit einem Notfall gerechnet und war deshalb mit verklebten Augen aus seinem Alptraum erwacht, aus dem Bett gekrochen und die Treppe hinunter gehumpelt. »Hättest du geschrieben hättest du ihn mir genau beschreiben können.«
»Ich habe dich doch nicht etwa geweckt?«
»Doch, aber ich werde mich anziehen, Bolder wecken damit er uns allen was zu Essen macht und dann in den Boxclub und danach werde ich einige Recherchen anstellen.« Er hörte, wie sie scharf die Luft ausstieß. Der Gedanke, er esse mit seinen Angestellten widerte sie wirklich an.
»Heute ist Samstag!«
»Wem sagst du das!« Er schnupperte, es roch im Haus in der Pembrose Street nach Holzwachs, mit dem die Treppenstufen und das Geländer auch Hochglanz poliert waren. Etwas musste Bolder beschäftigt haben, denn selbst die Bilderrahmen an der Treppenwand war poliert. Nur dann brachte er das Haus auf Vordermann. Er saß dann den lieben langen Tag seufzend auf der Treppe und polierte das Geländer. Aber sein Butler war kein Dienstbote im herkömmlichen Sinne, dafür hatten beide zu viel durchgemacht. Es war eine Verbindung die Bolder schamlos ausnutzte, in dem er zum Beispiel bis in die Puppen schlief. »Hast du mir zugehört?«, fragte Sarah, die es an der langen Pause hätte erkennen sollen. »Sarah, ich will nicht beginnen dich schon vor der Verlobung anzulügen, also nein. Was hast du gesagt?«
»Vergiss den Ball zum Saisonschluss am nächsten Samstag nicht.«
»Ein Ball? Schon wieder!«
»Deine Mutter sagt, ich soll dir den ersten Platz in meiner Tanzkarte reservieren und damit ein Zeichen setzen. Unsere Familien würden gerne sehen, dass wir unsere Verlobung noch im Herbst signalisieren.«
»Das muss ich erst mit meinen Fällen abgleichen.«
»Du und dein Amt! Ich erwartete das jemand mit deinem familiären Hintergrund in einem anderen Metier arbeitet. Es ist, als ob ich Prinz Philipp dabei erwische, wie er sich als Tellerwäscher verdingt. Gesundheitsarbeit ist nicht die Arbeit eines Gentleman. Der Umgang, den du pflegst, ist bereits Gesprächsstoff und ich weiß wirklich nicht, wie ich deine Marotte länger verteidigen kann. Und warum macht das nicht deine schreckliche Dienerin mit den Tätowierungen im Gesicht? Ich weiß wirklich nicht, wie du sie einstellen konntest. Manchmal fragt man sich, wer beim Ministerium für Seuchenkontrolle das Sagen hat.«
»Eine vertrauensvolle Quelle hat sie empfohlen.«
»Bei wem hat sie gearbeitet?«
»Hier und da.«
»Wie alt ist sie?«
»Woher soll ich das Wissen, ich nehme an jünger als ich, aber ich habe nie gefragt.«
»Mutter meint, erst nach Jahren kann man erkennen, was für eine Arbeitsmoral das Personal besitzt.«
»Lässt deine Mutter deswegen immer die Schilling im Haus herumliegen und kontrolliert, ob sie noch da sind?«
Sarah schwieg zum Verhalten ihrer Mutter im Hauspersonal notorische Diebe zu sehen. »Ich verstehe nicht, warum dich diese blonde Frau Hals über Kopf verlassen musste!«
»Miss Stewart ist der neuen Cholera zum Opfer gefallen!«, erklärte Gilbert und verscheuchte das Schuldgefühl. Aber die Kreaturen die Londons East End heimsuchten reagierten auf Menschenblut und wenn man sie alle erwischen wollte, ging nichts über eine frische Schnittwunde. Er hatte die Anzahl der Schattengänger unterschätzt, die aus ihren Verstecken krochen und über Miss Stewert herfielen. »Und wer sagt dir, dass deine Neue nicht dasselbe macht?«, fragte Sarah vorwurfsvoll. Einen Moment verschlug es ihm die Sprache, dass sie ihn das ernsthaft fragte. Sie war ein niedliches Ding aus einer der prominentesten Familien des Westend, aber leider war sie auch ein Wolkenkopf, deren Denken mit Standesdünkel gewürzt war. In einigen Jahren war Sarah die exakte Kopie ihrer Mutter. Eine hübsche Frau eine gute Partie, ohne Geist, aber Sinn für Mode und mit einem offenen Ohr für Dienstboten Probleme. »Das ist dein Problem. Du vertraust Menschen zu schnell.«
»Was?«
»Du … ver-traust … Men-schen … zu … schnell.«
»Ich vertraue nicht einmal mir«, erklärte Gilbert und beendete das Gespräch nach weiteren Belanglosigkeiten zur Verlobung und stieg die Treppe hoch um ein Bad zu nehmen.