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Gilbert sah auf den Brief, der gebügelt auf der Morgenzeitung neben der chinesischen Teetasse auf dem Frühstückstisch lag. Er klopfte ungewöhnlich lange mit einem zierlichen Eierlöffel auf einem Drei-Minuten-Ei herum. »Ich gebe es auf! Bring mir Hammer und Meißel.« Bolder sah sich mit spitzem Mund in der Küche um. Alles war in Ordnung, er sah keine Stelle, die eine Reparatur benötigte. »Werkzeug, Sir? Sind Sie uns jetzt wahnsinnig geworden und wollen ein Loch in das Parkett schlagen?«

»Du liest zu viel Edgar Allan Poe, mein Lieber. Ich brauche schweres Werkzeug, um das Ei zu knacken. Man kann es auch diesen Samstag aus dem Gewehr verschießen, falls einem die Munition ausgegangen ist.«

Bolder runzelte die Stirn. »Sir, du übertreiben schlimmer, als Jackson Peter.«

»Ich will nicht fragen«, Gilbert seufzte, »aber ich kann einfach nicht anders. Wer ist Jackson Peter?«

»Jackson Peter. Sir, du weisst schon!«

»Nein, diesmal muss ich dich enttäuschen. Ich stehe auf dem Bahnsteig Neugier und warte auf die Ankunft des Zuges Wissen.«

»Jackson Peter, der Inspektor der Nachtwache Bromwich. Der stupideste Mensch der mir seit einer Weile untergekommen ist. Der Mann ist er im Sommer immer mit seinem Boot auf der Themse. Er segelt von London bis Marlowe und kehrt dann total mit den Nerven runter mit dem Abendzug zurück. Sein Boot lässt er sich von Flussschiffern und Dennis nach Greenwich bringen. Er denkt, das Themse Segeln ist die einzige Betätigung für einen Gentleman, aber der Mann kann nicht Schwimmen und leidet die ganze Fahrt unter Panikattacken. Dennis erzählte mir, er sitzt dann wimmernd in einer Bootecke und hält die ganze Zeit ein leeres Fass umklammert. Dennis nutzt diese Segelpartien um mit ihm über seine freien Tage und Lohnverhandlungen zu führen. Er hat mir die Methode auch vorgeschlagen, aber ich musste ihm leider mitteilen das du ein guter Schwimmer bist.«

»Warum frage ich auch!« Gilbert seufzte, »erkläre mir, wie bringst du es fertig auf die Eieruhr zu sehen und das Frühstück so zu verhunzen, das man das Ei nicht einmal auf bekommt?« Gilbert nahm es aus dem Eierbecher und schlug es kräftig auf den Tisch, ohne das sich der kleine Riss zeigte. Kurz spielte er mit der Idee es aus dem Fenster zu werfen, um zu sehen, ob der Aufprall der Schale zu Leibe rücken konnte. Bolders Unfähigkeit stellte den Inspektor der Nachtwache vor ein Rätsel. Man sollte doch davon ausgehen, dass jeder ein weichgekochtes Ei hinbekommt, oder irrte er sich und es war eine weitaus komplexere Angelegenheit, ein Ei drei Minuten lang in kochendes Wasser zu tauchen? »Bolder, ich habe dir eine Sanduhr gekauft die genau zwei Minuten und vierzig Sekunden anzeigt.«

»Es war das persönlichste Geburtstagsgeschenk meines ganzen Lebens!«

»Er hat eben keine Fantasie«, sagte Bella mit vollem Mund und aufgeplusterten Wamgen. Gilberts Augenbrauen hoben sich und bildeten elegante Halbbögen über seinen Hawaii-grünen Augen. »Du siehst aus wie ein Eichhörnchen das sich seinen Wintervorrat anlegt. Und du Bolder bist ironisch!«

»Ich würde mir niemals den leisesten Hauch von Ironie wagen, Sir.«

»Wieso ist das Ei wieder so verflucht hart, will ich wissen?«

»Ich weiß eben nie, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem der Sand verronnen ist.«

»Nur das? Ist das Rätsel um die steinharten Eier wirklich gelöst, ist es so einfach?« Gilbert wirkte ehrlich überrascht.

»Ja.« Bolder nickte ermutigend, wie ein Lehrer der feststellt, das sein dümmster Schüler bei der Lösung einer Aufgabe auf der richtigen Spur war.

Gilbert nickte. »Also das erklärt deine Unfähigkeit etwas Simples, wie ein weichgekochtes Ei hinzubekommen! Du siehst ganz einfach nicht auf die Sanduhr. Aber was spiele ich mit dem Willen des Olymp? Wenn uns in England die Ziegelsteine ausgehen, wird man aus deinen Dreiminuten-Eiern Monumentalbauten errichten die, wie die ägyptischen Pyramiden die Sandstürme und die Zeiten überstehen.«

Bella nahm den Löffel aus dem Honigglas und schob ihn sich in den Mund, drehte ihn herum und stellte ihn zurück ins Glas. Bolder deutete auf den Brief, den Gilbert mit dem Glätteisen gebügelt hatte. »Heute ist Samstag.«

Gilbert sah iritiert auf. »Na und?«

»Sir, wir wollen sich doch nicht die Einladung dieser Person annehmen, von der Sie ganz angetan scheinen?«

»Warum nicht, ich kann ja nicht wählerisch sein und Auftrag ist Auftrag.« Er betrachtete Bella, Bolder und den Tisch. Das am vorigen Morgen volle Honigglas war fast leer und eine geradezu unsinnige Anzahl Krümel bedeckten im Halbkreis die Tischdecke in ihrer Nähe. Bei all dem Honig, den die Beiden verschlangen, mussten sie im Sommer für die Bienen, wie der heilige Gral aussehen. Zu Miss Bella passte es, sie war ein niedliches Mädchen, hatte man sich an die Tätowierungen in ihrem Gesicht gewöhnt. Bolders kurze, dickliche Gestalt versteckte eine ganz ungewöhnliche Körperkraft, während die niedrige Stirn und seine wässrigen blauen Augen unter borstigen Brauen seine Verfressenheit anzeigten. Gilbert hatte auf dem Gebiet der Physiognometrie Erfahrung gesammelt, aber er brachte der in den Kinderschuhen steckenden Wissenschaft nicht viel Vertrauen entgegen. Sein scharf-geschnittenes normannisches Gesicht mit dem adligen Profil des Haus of Breden verriete niemals, das er sich mit einem Diener abplagen musste, der kein weiches Ei hinbekommt und hinge sein Leben daran. Und einer Assistentin die immer das letzte Wort haben musste und ihm mehr als einmal vor das Schienbein getreten hatte. Er hatte sich am Trinity College auf die Physiognomie gestürzt und schnell festgestellt das es Unfug war. Nach einem Vergleich, zwischen seiner Fotografie und den Zeichnungen italienischer Berufsverbrecher in Lombrosos Werk, war er ein Wüstling mit aufwallendem Temperament. Er hatte die Augen eines toskanischen Heiratsschwindlers, die hohe Stirn eines Schlägers und die schmale Nase eines Trickbetrügers der Witwen um ihr Erspartes brachte. Auch der Abstand zwischen seiner Nasenwurzel und der Fontanelle verhieß nicht Gutes. Nach Professor Lombroso's Standardwerk, war aber auch der Dekan des Trinity Colleges ein Trunkenbold mit klebrigen Fingern und nur das erste stimmte.

»Heute ist Samstag!«, sagte Bella mit vollem Mund und sah aus als habe sie bereits Pläne gemacht. Gilbert sah sie an, Bella war zierlich, aber ihr Kreislauf verlangte immense Mengen an Kohlenhydraten und Zucker und er fragte sich was ihr Körper damit anstellte, so dürr sie war. Sein Blick wanderte wieder zu Bolder. Wenn er ihm beim Mampfen zusah, musste er an die Schweinefütterung denken. Leute wie er, starben nicht auf natürliche Weise, sie erstickten am Essen. Nur beim Essen erlosch die Illusion, man habe es mit einem jungen Gentleman zu tun, dann zeigte sich Bolders Herkunft und seine Seele. Das Bolder ihm vor Jahren das Leben gerettet hatte, musste ein reiner Zufall gewesen sein. Vielleicht hatte er das Gleichgewicht verloren, war in den River Rhee in Ashwell gefallen und hatte ihn gleich mit aus dem gekenterten Boot gefischt. »Also, warum sollte ich nicht gehen, es klingt vielversprechend?« Gilbert nahm den Brief und hielt ihn sich vor die Nase.

»Lesen Sie ihn uns schon wieder vor?«, fragte Bolder und öffnete den Gürtel um seinen Bauch mehr Luft zu verschaffen.

»Nein. Nun, warum eigentlich nicht?« Gilbert räusperte sich. »Mein lieber Sportsfreund. Ich hoffe, du stehst auf dem “T”.« Er schmunzelte zufrieden, »mein Freund ist schon so lange Beobachter der Menschen in dieser Stadt, dass er die Sprache der einfachen Leute angenommen hat. Auf dem “T” zu stehen bedeutet, das alles in bester Ordnung ist. Das Wort ist eine Entlehnung aus dem Golfsport und findet die erste Erwähnung im 1867 herausgegebenen Lexikon der Sprache der Unterwelt von London. Aber zurück zum Brief von Mister Bannings. Gilbert, Sportfreund und alter Haudegen du bist doch immer auf der Suche nach Arbeit, warum du auch immer tust, anstatt das Geld deines Vaters mit vollen Händen aus dem Fenster zu werfen. Du bitterernster Kerl mit der Lebensfreude eines mittelalterlichen Mönchs, solltest dir Miss Buckingham anhören, sie hat eines dieser Choleraprobleme und sucht jemanden der es löst. Ich habe natürlich dich empfohlen. Sie sieht sensationell gut aus, Sportsfreund. Also mein Lieber, wenn du ein Herz hast lass deinen alten Kameraden nicht hängen und besuche sie und schicke mir gleich auf dem Weg postalisch 50 Pfund. Ich stehe auf dem Trockenen wie die Wüste Sinai. Dein kleines Darlehen dürfte mich, bei meinen bescheidenen Bedürfnissen eine Weile über Wasser halten. Die Adresse des Gasthofes in Marlowe steht unten. Gehe Samstag zu ihr, Miss Buckingham erwartet dich. Ich fresse meinen Hut, wenn ihr Diener nicht schon die Einladung gebracht hätte. Die Adresse steht dennoch unten. Sie ist eine Göttin, ich habe sie bei einem Dinner bei den Westons getroffen. Gilbert, wenn du einen meiner Bekannten siehst, sage ihnen das ich aus Patritismus in den Kolonialdienst getreten bin und in zehn Jahren aus Indien zurückkehre! Sportsfreund verrate bloß niemanden, dass ich im lieblichen Marlowe stecke, sonst schlafe ich bei den Fischen. Übrigens was ist mit dem kleinen niedlichen Ding in deinen Diensten? Ganz formidable Sache. Hätte man sie in Clapham nicht zu einem Scheusal gemacht und ohne die Tättowierungen in ihrem Gesicht wäre sie nett anzusehen. Grazil wie eine Wassernymphe nur das sie Blut an den Händen hat. Und vermutlich meines vergiessen wird, wenn du das laut vorliest, wie es deine dumme Angewohnheit ist.« Gilbert nahm einen Schluck Tee, um sich die Stimmbänder zu befeuchten und sah zu Bella. »Beim letzten Teil tun wir so, als hätten wir ihn nie gehört.«

Sein Butler hörte natürlich nicht zu. Er sah verträumt auf das Honigglas. Er war ein Mensch den kein Erdbeben dazu bewegen konnte, den Blick von einem Teller mit Essen zu heben. Er nahm nicht einfach Nahrung zu sich, sondern er betrieb Götzendienst und war in seine Andacht versuncken. Aber Bella hatte aufmerksam gelauscht. »Samstag ist die Nachtwache geschlossen und wir hätten Zeit etwas zu unternehmen.«

Bolders Kopf fuhr auf. »Am the Strand hat ein neues Restaurant aufgemacht, das Mac Doodles das für sein Haggis berühmt ist.«

»Haggis?« Bella verzog das Gesicht. »Das schottische Haggis? Schafsherz, Leber und Lunge und das alles im Schweinemagen gekocht?«

»Haggis wird von den Leuten unterschätzt.« Bolder schob seine Hand über den Tisch in Richtung Honigglas, als führe er seine Finger an der Leine spazieren.

»Wenn ihr eure Gesichter sehen könntet, Bolder deine leidende Miene ist einfach herrlich, aber ich nehme nur Bella mit und du verrichtest den Notfalldienst!«


Die Nachtwache

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