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Kapitel 2 - Aufmunternder Nachtmittagstee
ОглавлениеLuisa schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Sie war nach dem Gespräch mit Adriana von deren Bett auf das gemütliche Sofa im Wohnzimmer umgezogen und anscheinend eingeschlafen.
Es hatte angefangen zu regnen, und man hörte nur die dicken Tropfen gegen die Scheiben prasseln, ansonsten war es sehr still in der Wohnung. Luisa sah auf die Uhr.
16:15 Uhr. Wo war Adriana? Ach ja, sie hatte zurück ins Büro gemusst. Vorhin hatte sie ihre Mittagspause geopfert, um schnell mal nach ihr zu sehen. Luisa war ihr so dankbar!
Adriana hatte die halbe gestrige Nacht mit ihr durchwacht, sie getröstet und im Arm gehalten. Luisa kamen wieder die Tränen, als sie an den furchtbaren Abend dachte. Nachdem sie Enno und Mia in flagranti erwischt hatte, war sie ziellos losgelaufen, einfach losgelaufen, nur in ihrem Kochoutfit. Es war empfindlich kalt gewesen, eine Hamburger Frühlingsnacht ist nicht zwangsweise milde. Irgendwann stand sie vor ihrer Wohnungstür in der Speicherstadt des Hamburgerer Hafens, immerhin eine halbe Stunde Fußmarsch vom Chez Enno entfernt. Natürlich hatte sie keinen Schlüssel dabei gehabt, daher klingelte sie bei der alten Frau Müller im Parterre, wo sie und Enno einen Ersatzschlüssel deponiert hatten.
Es war ihr völlig egal gewesen, dass die arme Frau bereits im Bett gelegen hatte. Ohne großartig eine Erklärung abzugeben, hatte sie nach dem Schlüssel verlangt und war hinauf in ihr gemeinsames Appartement gestürmt. Sie hatte furchtbare Angst gehabt, dass Enno sie hier suchen würde, sie hatte ihm auf keinen Fall begegnen wollen. Schnell hatte sie ein paar Sachen zusammengesucht, alles in ihre Sporttasche gestopft, ein Taxi gerufen und war wieder nach unten gerast.
Der Wagen hatte sie bei Adriana in Hamburg-Ottensen abgeliefert. Sie hatte Sturm geklingelt, der verblüfften Adriana gesagt, dass sie das Taxi bezahlen solle und sich dann auf deren Bett geworfen. Erst da hatte sie angefangen zu weinen.
Und nun saß sie hier in dieser leeren Wohnung und war mit ihren quälenden Gedanken allein. Sie sah auf den Anrufbeantworter. Die kleine Lampe blinkte wie wild. Enno hatte sich natürlich gleich gedacht, dass sie zu Adriana geflohen war. Auf ihrem Handy hatte er es sicher zuerst versucht, das lag jedoch noch in ihrer Tasche im Chez-Enno, eingeschlossen in ihrem Spint. Soll er doch warten, bis er schwarz wird, dachte Luisa und stand mühsam auf.
Sie fühlte sich um hundert Jahre gealtert. Luisa durchquerte den Wohnraum und ging in die offene Küche. Dort schenkte sie sich ein Glas Leitungswasser ein, nahm einen Schluck und lehnte sich an die Küchenzeile. Sie sah sich in der Altbauwohnung um. Adriana hatte wirklich einen tollen Geschmack. Obwohl die Wohnung sehr modern eingerichtet war, strahlte sie eine ungeheure Gemütlichkeit aus. Günstig war das alles sicher nicht gewesen, mutmaßte Luisa. Aber Adriana konnte es sich leisten, sie arbeitete in dem renommierten Architekturbüro Hermanns und Söhne und verdiente wirklich ausgesprochen gut.
Sie bauten Bürohäuser und ähnliche Ungetüme, und Luisa hatte Adriana bereits einmal auf einer Großbaustelle in Aktion erleben dürfen. Es war herrlich gewesen, die Bauarbeiter hatten beim Anblick dieser hübschen, zierlichen Brasilianerin nicht damit gerechnet, von ihr ordentlich den Marsch geblasen zu bekommen.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Luisa erstarrte. Was, wenn das Enno war? Sie wollte ihn nicht sehen. Es klingelte wieder. Ich mache einfach nicht auf, soll er doch da unten verrotten, dachte sie. Nach einem weiteren Klingeln wurde es ruhig, dann schrillte plötzlich das Telefon. Luisa zuckte zusammen.
Nach dem fünften Klingeln ging der Anrufbeantworter an. „Luisa, Luisa-Herzchen, bist du da? Hier ist Ben! Luisa, es regnet in Strömen, bitte mach doch auf! Ich habe meine neuen Schuhe an, die sind gleich ruiniert, Luisa bitte!“
Ben!
Den hatte sie ganz vergessen. Er hatte ja versprochen, vor seiner Schicht in der Bar noch bei ihr vorbeizuschauen. Adriana hatte ihn angerufen und ihn ausführlich über die Geschehnisse informiert. Sie eilte zur Wohnungstür, öffnete diese und drückte gleichzeitig auf den Summer für die Haustür. Schnelle Schritte waren im Treppenhaus zu hören und dann stand Ben auch schon vor ihr.
Er sah wie immer entzückend aus.
Seine großen blauen Augen strahlten in einem überraschend jungenhaften Gesicht, wenn man bedachte, dass er genauso alt war wie Luisa. Seine strohblonden Haare trug er zu einem modernen Undercut geschnitten und gekleidet war er – wie immer – für einen Mann ein bisschen zu gut.
Perlen vor die Säue, dachte Luisa nicht zum ersten Mal, denn Ben liebte ausschließlich Männer. Was war das bloß für eine Verschwendung! Sie schloss die Tür hinter ihm. Ben breitete die Arme aus.
„Hier bin ich, wie von dir bestellt, um dich von deinem traumatischen Erlebnis abzulenken. Lass dich mal in den Arm nehmen, Süße.“ Luisa lehnte ihren Kopf an Bens Schulter und er legte die Arme um sie. Sofort fing sie wieder an zu weinen. Es war so schön, dass er da war.
„Schhhh, Süße, es wird alles wieder gut, das verspreche ich Dir.“ Er führte sie zum Sofa, drückte sie in die weichen Kissen, zog seinen nassen Mantel aus und legte ihn über einen Stuhl. Dann setzte er sich neben sie und nahm sie wieder in den Arm.
„Weißt du noch, damals in der zehnten Klasse - das war, glaube ich, zu der Zeit, als ich meine Haare pink gefärbt hatte - da warst du mit diesem Boris zusammen, der immer diese furchtbaren Klamotten trug.“
„Der trug keine furchtbaren Klamotten, der hat sich nur einfach ganz normal angezogen“, murmelte Luisa in seine Schulter hinein.
„Wie dem auch sei“, entgegnete Ben, „aber als dieser schlecht angezogene Boris mit der magersüchtigen Heidi rumgeknutscht hat, da dachtest du auch, dass die Welt untergehen und du nie drüber hinwegkommen würdest. Und Schwupps, zwei Wochen später warst du mit diesem süßen - wie hieß er doch gleich, diesem schwarzhaarigen …“
„Marcel.“
„Richtig, und Schwupps warst du mit Marcel zusammen und verliebt bis über beide Ohren!“
„Du kannst das alles hier doch nicht mit einer Jugendliebe vergleichen! Mensch Ben, ich wollte Enno heiraten! Mit sechzehn steckt man sowas doch viel besser weg, da verliebt man sich alle naslang in jemand anderen. Aber ich bin jetzt fast zwanzig Jahre älter“. Sie schluchzte. „Ich werde nie wieder jemandem vertrauen können, und falls doch, dann dauert das bestimmt noch Jahre, und dann bin ich vierzig, und dann bin ich richtig alt und Kinder kann ich mir dann auch abschminken.“ Sie schluchzte erneut.
„Das ist doch Quatsch!“ Ben zog ein Kosmetiktuch aus einer Pappschachtel, die auf dem Couchtisch stand und reichte es ihr. „Man kann doch heute locker mit Anfang vierzig noch Kinder bekommen“, versuchte er sie zu trösten.
„Das ist mir total egal, ich will einfach keine alte Mutter sein, auch wenn das biologisch oder mit medizinischer Hilfe möglich ist.“ Sie putze sich geräuschvoll die Nase.
„Süße, könnte es sein, dass du so wahnsinnig an diesem Familiending hängst, weil du ohne Mutter aufgewachsen bist?“
Ben streichelte ihr über das widerspenstige blonde Haar.
„Ach Ben, ich war doch erst ein halbes Jahr alt, als sie starb. Ich kann mich doch gar nicht an sie erinnern. Und ich habe im Übrigen auch nichts vermisst, meine Oma war immer für mich da und Paps ja sowieso.“
„Ich weiß, Oma Josie war schon eine tolle Frau.“ Er lächelte. „Sie war die erste, die gemerkt hat, dass ich anders war als die anderen Jungen.“
Ben und Luisa kannten sich seit Kindergartentagen, hatten in derselben Straße in Hamburg-Barmbek gewohnt und ihre ganze Schulzeit miteinander verbracht. Einmal hatte es so ausgesehen, als ob Ben sitzenbleiben würde. Luisa hatte nächtelang mit ihm gelernt und dann hatte er es glücklicherweise doch noch in die zehnte Klasse geschafft.
„Ich meine ja nur“, nahm Ben den Faden wieder auf, „du weißt schon, dieses ganze Mutter, Vater, Kind-Ding, du hast schon im Kindergarten dauernd diese Bilder gemalt.“
„Ja, natürlich“, sagte Luisa und richtete sich auf, „weil die anderen Kinder das auch gemacht haben. Ich habe auch immer zwei Hunde und drei Katzen dazu gemalt. Und habe ich mich jemals beklagt, dass ich keine Haustiere habe?“ Müde fuhr sie sich über die Augen. „Das ist doch auch gar nicht der Punkt, Hochzeit hin oder her, ich dachte einfach, dass Enno glücklich mit mir ist, und ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich so getäuscht habe, dass ich nichts bemerkt habe. Was weiß ich denn, wie lange die beiden es schon miteinander treiben? Quasi vor meinen Augen? Bestimmt wusste es die gesamte Belegschaft und hat hinter meinem Rücken über mich gelacht.“ Sie ließ sich wieder an Bens Schulter zurücksinken. „Oh Gott, ich schäme mich so, wie konnte ich denn auch glauben, dass so ein toller Mann für immer mit so einer pummeligen ….“
„Jetzt mach aber mal einen Punkt!“, unterbrach Ben sie wütend, „Du sollst dich doch nicht immer so klein machen. Du bist so eine tolle Frau, hübsch, klug, ehrgeizig….“
Luisa hörte gar nicht zu. „Schon damals haben die Männer lieber mit Anorexic-Heidi rumgemacht als mit mir, das hast du doch selbst eben gesagt.“
„Das habe ich nicht so gesagt“, antwortete Ben ungeduldig. „Ich sollte hier mit dir gar nicht diskutieren, du siehst jetzt alles ganz schwarz und das ist ja auch normal nach so einer Sache, aber du wirst sehen, in ein paar Tagen …“ Er blickte Luisa kurz an. „… oder sagen wir mal in ein paar Wochen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Ich für meinen Teil glaube sowieso, dass es eher ein einmaliges Ding mit dieser Kellnerin war. Klar hat Enno sich wie ein absoluter Scheißkerl verhalten, aber ich bin mir ganz sicher, dass er dich liebt. Ihr seid so ein tolles Team, und man konnte immer sehen, dass ihm viel an dir liegt.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Ich habe euch sogar oft um eure Beziehung beneidet.“
Luisa hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. „Du hast uns beneidet? Ich dachte immer, du findest das spießig, zusammen ziehen, Heiraten, Kinder kriegen. Du liebst doch deine Freiheit über alles?“
Ben seufzte. „Ich rede ja nicht von dem ganzen Heiraten und für immer Quatsch. Aber einfach jemanden zu haben, wenn man nach Hause kommt, mit jemandem zusammen zu sein, der einen genau kennt, das vermisse ich schon manchmal“.
„Ben, Ben“, sagte Luisa verwundert, „du wirst doch tatsächlich langsam erwachsen.“
Ben verdrehte die Augen. „Das hat doch mit Erwachsen werden nichts zu tun, ich wünsche mir das halt manchmal, aber wenn ich dann sehe, was da alles dranhängt, dieses ständige aufeinander Rumhocken, die ganzen Ansprüche, die Streitereien, nicht mehr alleine aufs Klo gehen können.“
„Vielleicht hast du einfach noch nicht den Richtigen getroffen, bei dem dich das alles nicht so stört?“, sagte Luisa lächelnd.
Ben machte eine abwehrende Handbewegung. „Nee, lass man diese Küchenpsychologie, es ist schon alles gut so, wie es ist. Also Süße, zurück zu dir. Meinst du nicht, dass du Enno diesen Ausrutscher irgendwann verzeihen kannst? Nach dem Motto: einmal ist keinmal?“
„Fängst du jetzt auch noch damit mit an?“ Wütend stand Luisa auf. „Adriana hat das gleiche gesagt. Für mich ist das aber nicht so einfach.“
Ben stand ebenfalls auf, nahm ihre Hände in seine und drückte sie. „Luisa, wir haben dich furchtbar lieb und wissen ganz genau, wie verletzt du jetzt bist. Wir haben aber auch einfach Angst, dass du einen Fehler machst, wenn du jetzt mit Enno Schluss machst. Weil Eure Beziehung gut war, und eine gute Beziehung muss so eine Sache vielleicht auch einfach aushalten können.“
Luisa schnaufte.
„Ich will so eine Sache aber gar nicht aushalten, ich will einen Mann, dem ich vertrauen kann.“
In diesem Moment öffnete sich die Wohnungstür und Adriana kam herein. Sie schloss die Tür und schüttelte ihre nassen Locken.
„Hallo ihr beiden, was für ein Scheißwetter da draußen, echter Hamburger Frühling.“ Sie zog Mantel und Schuhe aus, begrüßte Ben mit einem Kuss auf die Wange und nahm Luisa kurz in den Arm.
„Na, Süße, ist doch schön, dass Ben jetzt da ist, oder?“
„Ja, das ist es“, murmelte Luisa.
„Aber?“ Adriana sah sie fragend an.
„Nichts aber. Es ist toll, dass ihr beide euch so um mich kümmert. Ich habe nur irgendwie das Gefühl, dass ihr nicht versteht, wie ernst es mir mit der Trennung von Enno ist. Dass ich ihm die Sache wirklich nicht einfach verzeihen kann.“
„Ach Luisa, gibt dir doch einfach nur etwas Zeit“, sagte Ben aufmunternd.
„Genau, es ist alles noch so frisch, wir wollen doch einfach nur nicht, dass du jetzt etwas tust, was dir später vielleicht leidtun wird.“ Adriana setzte sich auf die andere Seite von Luisa, so dass diese jetzt zwischen ihren beiden Freunden auf dem Sofa saß.
„Genau, ich brauche Zeit und Abstand, aber nicht, weil ich in einer Woche plötzlich denke, dass es okay ist, was Enno getan hat, sondern weil ich es einfach nicht aushalten kann, in der Nähe von diesem Scheißkerl zu sein.“ Luisa stand auf und lief vor dem Sofa auf und ab. „Ich glaube nicht, dass ich es zurzeit überhaupt aushalte, in derselben Stadt mit ihm zu sein.“ Sie hielt im Laufen inne und schnippte mit dem Finger. „Das ist es! Ich fahre weg! Ich muss jetzt mal einen klaren Kopf bekommen. Deshalb werde ich weg fahren.“ Sie nickte und lief wieder vor dem Sofa auf und ab. Adriana und Ben sahen sich kurz an und folgten ihr dann weiter stumm mit den Augen.
„Am besten ans Wasser.“ Sie sah aus dem Fenster, als fiele ihr gerade in diesem Herzschlag ein, dass ihre Wohnung direkt am Hafen lag. „Ans Meer, genau! Ja, ans Meer! Das ist immer gut, um einen klaren Kopf zu bekommen.“
„Und was ist mit deinem Job?“, wagte Ben einzuwerfen.
Entgeistert starrte Luisa ihn an. „Du denkst doch nicht im Ernst, dass ich für diesen Scheißkerl noch kochen werde? Das kannst du doch nicht wirklich glauben?“
„Aber du hast doch einen Vertrag“, erinnerte Adriana sie und sank vorsichtshalber etwas tiefer in die Sofakissen zurück.
„Vertrag?“ Luisa tippte sich an die Stirn. „Ich scheiß auf meinen Vertrag. Soll Enno doch zusehen, wie er ohne mich klar kommt. Das ist wahrscheinlich sowieso der einzige Grund, warum er mich die ganze Zeit erreichen will. Er braucht mich in der Küche! Aber nein, nicht mit mir, da muss er halt Paul aus dem Urlaub zurückpfeifen, das ist nun wirklich nicht mehr mein Problem.“ Es tat gut sich etwas Luft zu machen. Besonders in dieser etwas hysterischen Tonlage wirkten ihre Worte noch dramatischer.
Adriana und Ben sahen sich unsicher an, sagten jedoch nichts mehr. Luisa setzte sich zurück aufs Sofa zwischen ihre Freunde.
„Macht euch keine Sorgen, es fühlt sich richtig an. Wirklich.“
Sie merkte, wie sie langsam ruhiger wurde. Es tat gut, eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie würde ans Meer fahren, auf unbestimmte Zeit.
Gleich Morgen.