Читать книгу Sektion 3|Hanseapolis - Präludium - Miriam Pharo - Страница 10

Vivace

Оглавление

In der grellen Mittagssonne waberte der Schwarze Damm, der die Hochstadt vom verseuchten Sumpfland trennte, wie eine düstere Erscheinung. Glitzerndes Gegenstück bildete die Elbe mit ihrer Kraftfeldbarriere, die sich schlangengleich durch das Hamburger Viertel wand; ihren Lauf säumten das helixförmige VisioForum, die frisch getaufte Asimov Arena, die noch vor Kurzem Hoven Kolosseum geheißen hatte, und andere wolkenkratzende Eitelkeiten. Schwärme von Gleitern, Lufttaxen und Frachtern schwirrten scheinbar ziellos hin und her, als wären sie soeben von einem Riesen aufgeschreckt worden.

Nördlich der HafenCity – unweit des phallusförmigen Tower of Lust, wo Prostituierte auf Lebenszeit ihrem staatlich reglementierten Beruf nachgingen – befand sich die Sektion 3, das Morddezernat von Hanseapolis. Im oberen Level des gedrungenen, fliederfarbenen Komplexes ging es ungewohnt heiter zu. Gut ein Dutzend Augenpaare starrte gebannt auf einen großen, halb transparenten GCS-Screen. Die Global Communication Sphere, die weltweite Plattform für Kommunikation, Information, Business und Entertainment, strahlte zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Morgen ein Kurzinterview aus, das in der Sektion für Wirbel sorgte.

„Senior Detective Kosloff! Zahara Sun, YIN Live.“

„Scheiße.“

„Stimmt es, dass Sie und Marino ungeschützten Sex hatten nur 48 Stunden nach Ihrer ersten Begegnung?“

„Sie hat es überlebt.“

„Wird sie bleibende Schäden davontragen?“

„Nein!“

Zwischen den flügelförmigen Paravents, die den Briefingraum von den benachbarten Zimmern abgrenzten, stiegen Pfiffe und Gelächter auf. Einzig die Miene eines der anwesenden Cops verfinsterte sich. Ein beängstigender Anblick: Elias Kosloff maß fast zwei Meter, seine Haare waren schneeweiß, obwohl er erst knapp über 40 war, und seine Nase war unnatürlich gerade, als sei sie nach einem Bruch komplett ersetzt worden. Durch seine linke Augenbraue verlief eine wulstige Narbe, doch das wirklich Furchterregende an ihm waren die Augen selbst. Die Iris schien aus flüssigem Quecksilber zu bestehen – eine fehlgeschlagene Genmanipulation.

„Man munkelt, Sie waren in Ihrer Jugend Mitglied bei der Bruderschaft der Schwarzen Schlange …“

„Lassen Sie mich in Ruhe.“

Nachdenklich strich Elias über die Onyx-Schlange auf seiner linken Hand: schwarze Onyx-Plättchen, die sichtbar in seiner Haut implantiert waren und sich vom Nagel seines Mittelfingers aus über den Arm bis zum Hals wanden. Das Gejohle um ihn herum verstummte jäh. Die Kollegen wechselten heimliche Blicke, während Elias so tat, als würde er diese nicht bemerken. Stattdessen starrte er weiter auf den Screen. Sie hatten nicht nur das Gespräch, sondern auch sein Gesicht manipuliert: die Narbe leuchtete wie ein Feuermal und seine Pupillen hatten einen bizarren rötlichen Schimmer. Zudem klang seine Stimme tiefer als sonst. Als ob mein Anblick auch so nicht schon abstoßend genug wäre, dachte er wütend.

„Bleiben Sie doch stehen! Eine letzte Frage noch.“

„Verpissen Sie sich!“

„Hey, was tun Sie da? Fassen Sie die Übertragungseinheit nicht an!“

„Sehen Sie zu, dass Sie … besser gesagt, Ihr Hologramm Land gewinnt.“

„Ich werde mich beim Polizeipräfekten beschweren, Kosloff!“

„Drehen Sie lieber über diesen Abschaum einen Bericht. Das wäre sinnvoller. Und jetzt hauen Sie ab!“

Elias platzte der Kragen. „Verflucht noch mal“, rief er erbost. Seine raue Stimme klang schneidend. „Das habe ich so nie gesagt!“

„Uns machst du nichts vor“, scherzte einer der umstehenden Officers. „Es ist doch allgemein bekannt, was du und der Polizeipräfekt für gute Kumpels sind!“ Erneut brandete Gelächter auf.

Bevor Elias antworten konnte, knarrte es in seinem InterCom, dem allgegenwärtigen Knopf im Ohr. „Senior Detective Kosloff, kommen Sie unverzüglich in mein Büro.“

Der hoch gewachsene Cop ballte innerlich die Fäuste. Das gibt Ärger.

Auf dem Weg zum Head Office sah Elias schon von Weitem, dass sich seine Partnerin, Louann Marino, bereits dort eingefunden hatte. Sie saß mit dem Rücken zu ihm, die langen dunklen Haare waren, untypisch für sie, zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. Er stellte sich vor, wie sie die Beine im dunkelgrauen Overall parallel nebeneinander hielt, die ernsten braunen Augen auf den Mann vor sich gerichtet, und musste unwillkürlich lächeln. Der sorglose Moment verschwand allerdings so schnell, wie er gekommen war, als er an den Bericht dachte, der über GCS verbreitet wurde. Wie würde Marino darauf reagieren? Zögernd trat er durch die Tür des gläsernen Office.

Der Mann hinter dem Schreibtisch schaute von seinen Unterlagen auf und wies Elias an, neben seiner Partnerin Platz zu nehmen. Fox Sternheim hatte ein etwas eingefallenes Gesicht, das von klaren blauen Augen beherrscht wurde. Er war nicht sehr groß, dafür aber drahtig und robust. Wie es bei kleineren Menschen oft der Fall war, hielt er sich betont gerade.

Elias beschloss, in die Offensive zu gehen. „Chef, wenn es um diesen YIN-Bericht geht, muss ich Ihnen sagen …“

„Darum geht es nicht“, schnitt ihm Sternheim das Wort ab. „Ich bin nicht von gestern, Senior Detective. Ich weiß, wie die Medienmeute vorgeht. Trotzdem hatte ich heute Morgen bereits eine unangenehme Unterhaltung mit dem Polizeipräfekten.“ Ein strenger Ausdruck trat in Sternheims blaue Augen. „Ihr Glück, dass er kein Fan von Zahara Sun ist. Trotzdem: Meiden Sie bitte in Zukunft diese Art von Publicity.“

Hab ich mir das vielleicht ausgesucht?, dachte Elias gereizt und sah verstohlen zu Louann, die seinen Blick aus dem Augenwinkel auffing. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen und Elias’ Laune hob sich augenblicklich. Grinsend schlug er die Beine übereinander, bevor er sich wieder seinem Vorgesetzten zuwandte.

„Mir wurde zugetragen, dass sich ein mutmaßlicher Mörder in Hanseapolis aufhält“, begann Sternheim.

„Was? Nur einer?“, warf Elias ein.

Ein verärgerter Blick traf ihn. „Der Delinquent heißt Aldo Farouche und wird verdächtigt, in CupolaV einen Mann ermordet zu haben. Die Betreiber von CupolaV und die örtlichen Sicherheitskräfte haben uns gebeten, ihn zu finden und auszuliefern.“

„Was wissen wir über ihn?“, fragte Louann geschäftig nach.

„Er ist registriertes Föderationsmitglied und berufsmäßiger Dieb. Alle Infos liegen auf dem Zentralserver. Ich erwarte schnelle Ergebnisse. Ach, und Kosloff …“

„Ja?“

„Es ist ausdrücklich gewünscht, dass wir unauffällig vorgehen.“ Sternheims Stimme hatte an Schärfe gewonnen.

Wider Erwarten war es Louann, die antwortete. „Tun wir das nicht immer?“ Sie schaute in die Runde und lächelte.

„Also gut. Was haben wir hier?“, murmelte Elias.

Er saß gemeinsam mit Louann in der Kommandozentrale ihres MECs und starrte auf die Infos, die im Sekundentakt auf den Screens aufpoppten.

Info Break

Das MEC – Mobiles Einsatz Center der Polizei –ist ein gepanzerter Polizeigleiter, der als Streife, Office und Verhörraum dient. Die Ordnungshüter verbringen hier neunzig Prozent ihrer Dienstzeit., in der Regel paarweise. Die 5er Serie ist mit zwei High Energy Lasern, einem Mikro-wellen-Werfer –im polizeilichen Sprachgebrauch zur „nicht tödlichen Unterbindung von Störern“ – Multifunktionskonsolen und Screens, tragbaren CS/X-Geräten zur Tatortanalyse und einem Erste-Hilfe-Robot ausgestattet.

Quelle: Yahoogle Investigation Network YIN

Das gelb gehaltene Interieur war in vier Einheiten aufgeteilt. Im spitzen Teil befand sich die Kommandozentrale mit den Konsolen, den Screens und zwei bequemen Sesseln, in denen es sich Elias und Louann gemütlich gemacht hatten. In der Mitte erhob sich ein dreidimensionales Map-Board zur Ansicht von Gebäude- und Lageplänen. Weil es zuweilen vorkam, dass Cops zweiundsiebzig Stunden und länger Streifendienst machen mussten, stand im rechten Flügel eine Sleeping Box, die den Nutzer in einen künstlichen Schlaf versetzte. Der Sarg, wie der silberne Sarkophag auch genannt wurde, ersetzte zwar keinen achtstündigen Schlaf im eigenen Bett, doch die künstliche Induktion der REM-Phase, der Tiefschlafphase, brachte kurzfristige Erholung. Hinter dem Verhörraum links im MEC befand sich die Waffenkammer.

„Ein Video-Stream …“, meinte Elias plötzlich. „Interessant.“

Louann runzelte die Stirn. „Ich dachte immer, CupolaV wäre überwachungsfrei.“

„Anscheinend nicht.“

„Das ist ’ne echte Sauerei, ehrlich! Die werben doch damit, dass die Privatsphäre ihrer Gäste unter allen Umständen gewahrt bleibt.“

„Tja.“ Elias zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Die halten ihre Kugel gern sauber. Wer will ihnen das verdenken?“

„Hmm … Ist das der Tatort?“

„Sieht nicht so aus. Da es der einzige Stream ist, gibt es offenbar von der Tat selbst keine Aufzeichnung. Wahrscheinlich befand sich der Tatort außerhalb der Reichweite der NanoCams. Das hier ist der Moment, wo sich unser Verdächtiger der Leiche entledigt.“

Auf dem Stream sah man, wie ein zierlicher Mann mit Pestmaske sichtlich angestrengt einen schweren Körper über die Pflastersteine zog. Die nebelverhangene Szenerie quälender Langsamkeit wirkte surreal. Während der maskierte Kopf des Opfers über den Boden holperte, hielt der mutmaßliche Täter immer wieder inne – unter der grotesken Nase entwich stoßweise der Atem –, um die Leiche dann unter größter Mühe weiter in Richtung Kanal zu schleifen. Nach einigen Minuten, die Louann wie eine Ewigkeit vorkamen, gelang es der Pestmaske endlich, den anderen über die Mole ins Hydropurit zu rollen.

Befreit atmete sie auf. „Besitzt das Überwachungssystem denn keinen Gefahrenmelder? Zum Beispiel, wenn jemand aus Versehen in den Kanal fällt?“, fragte sie. Ihre Stimme klang belegt.

„Keine Ahnung. Vielleicht gehört ein Bad im Hydropurit in CupolaV zum süßen Leben dazu. Jedenfalls hat das unserem Täter einen halben Tag Vorsprung verschafft.“

„Mutmaßlichen Täter. Woher wissen wir, dass der Mann mit der Pestmaske Aldo Farouche ist?“

„Die Auswertung des Video-Streams bezüglich der Größe des Mannes, des geschätzten Gewichts, der Bewegungsabfolge und der Entourage des Opfers hat 95 Prozent Matches ergeben.“

„Dann scheint die Sache ja klar zu sein“, murmelte Louann und strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „Wie sieht er eigentlich unter der Pestmaske aus?“

Elias tat ihr den Gefallen. „Fahndungsfoto Aldo Farouche“, befahl er. Prompt erschien selbiges auf dem Screen.

„Ach, herrje!“, entfuhr es Louann. „Der arme Kerl wurde nicht gerade mit Schönheit gesegnet.“

Elias brummte nur und Louann fluchte innerlich angesichts ihrer Taktlosigkeit. In der Absicht von ihrer Äußerung abzulenken, stürzte sie sich auf die vorliegenden Informationen und las diese laut vor. Aldo Farouche war Jahrgang 2033, wie sie selbst auch, was sie irgendwie rührte. Er war nördlich von Grand Paris aufgewachsen, in einer berüchtigten Banlieue, deren Name von gesetzestreuen Bürgern nur im Flüsterton genannt wurde. Seine Kindheit muss schrecklich gewesen sein, dachte Louann in einem plötzlichen Anfall von Mitleid. Beim Vocationtest zweiter Klasse, dem sich jedes Föderationsmitglied im jugendlichen Alter unterziehen musste, um Fähigkeiten und soziale Kompatibilität zu ergründen, hatte Farouche katastrophal abgeschnitten. Ein Jahr später hatte er die Chance bekommen, den Test zu wiederholen, doch auch diesmal war das zufriedenstellende Resultat ausgeblieben. In solchen Härtefällen wurde der Betreffende gewöhnlich für den Dienst am Gemeinwohl rekrutiert. Doch bevor man Farouche im Alter von vierzehn Jahren zu den Tantal-Minen nach Zentralafrika in die Lehre hatte schicken können, war er ausgebüchst. Einige Jahre gelang es ihm, unentdeckt zu bleiben, bis er 2051 wegen Diebstahls verhaftet und zu drei Jahren Korrekturhaft verurteilt wurde. Wieder konnte er fliehen. Seither war er vollends von der Bildfläche verschwunden.

„Er hat dazugelernt“, kommentierte Elias trocken, während Louann Farouches letzte Aufnahme aus dem Jahre 2051 musterte. Unter kurzen rötlich braunen Haaren, die sich für keine Richtung entscheiden wollten, blickte ihr ein schmales Gesicht entgegen: mit Knopfaugen, die ungewöhnlich weit auseinanderstanden, und einem etwas zu groß geratenen Mund, um den ein gequälter Zug lag. Hier war eindeutig kein Geld für Verschönerungen vorhanden gewesen.

„Etwas dürftig“, äußerte Elias.

„Was?“ Irritiert löste Louann ihren Blick vom Screen.

„Die Akte“, murrte er. „Keine sichtbaren familiären Stränge, keine Freunde. Wie zum Teufel sollen wir diesen Freak finden?“

„Sag das nicht!“

„Was soll ich nicht sagen?“

„Freak. Das ist nicht … nett.“ Louanns vorwurfsvoller Blick traf Elias’ volle Breitseite. Sie holte zu einer weiteren Erklärung aus. „Du weißt doch selbst …“

„Schon gut!“, unterbrach er sie ein wenig forsch. „Ich hab’s kapiert.“

Beide schwiegen, dann nahm Louann die Unterhaltung wieder auf, als wäre nichts gewesen. „Der Vocationtest könnte Anhaltspunkte liefern. Der gibt gewöhnlich ein klares Bild ab.“

„Ja, von einem Heranwachsenden in der Pubertät.“ Elias schnaubte. „Sehr aufschlussreich!“

„Du hältst wohl nicht viel von dem Test?“

„Ein fauler Zauber der Föderation, um aufkeimende Individualität in eine gesellschaftskonforme Schablone zu pressen.“

„Findest du nicht, dass es ein sinnvolles Instrument zur Förderung von Talenten und Entfaltung unterdrückter Persönlichkeiten ist?“

„Nein, tue ich nicht“, presste Elias hervor. „Erspar mir bitte dieses propagandistische Gesülze, Marino.“

Das war deutlich und Louann verkniff sich eine Antwort.

„Ich bin froh, dass dieser Test erst eingeführt wurde, als ich schon zu alt dafür war“, sprach Elias weiter. Seine vernarbte Augenbraue hob sich kurz. „Ich bin sicher, du hast bei dem Test zufriedenstellend abgeschnitten.“

„Man hat mir eine hohe soziale Verträglichkeit attestiert“, erwiderte Louann leise. „Ich sei einsichtig, anpassungsfähig, hilfsbereit … lauter solche Sachen eben.“ Unangenehm berührt schaute sie auf ihre Hände.

„Das perfekte Föderationsmitglied.“

In Louanns Ohren klangen Elias’ Worte höhnisch und sie blickte stirnrunzelnd zu ihm herüber, doch zu ihrer Überraschung umspielte ein leises Lächeln seinen Mund. Dann wurde sein Gesichtsausdruck unvermittelt wieder ernst.

„Na gut, von mir aus“, sagte er. „Lass uns den Vocationtest dieses Kerls etwas genauer unter die Lupe nehmen.“

Der Vid-Report vom 5. Juli 2046 enthüllte das Bild eines viel zu dünnen Jungen, der leicht stotterte und dessen gehetzter Blick nie ruhte. Farouche war ein durchschnittlich intelligentes Kind gewesen, introvertiert und bindungsschwach, das einem „Domizil mit psycho-sozialen Auffälligkeiten“ entstammte, so die amtliche Bezeichnung für Vernachlässigung und Verwahrlosung eines Kindes. Seine Antworten waren vage, manchmal zurückweisend oder sogar aggressiv. Louann seufzte hörbar.

Elias, der sich Notizen machte, schaute auf. „Was ist denn nun wieder?“

„Er wirkt so traurig“, war die dumpfe Antwort.

Nun war es an Elias zu seufzen. „Louann, hör auf, dir jede verkrachte Existenz zu Herzen zu nehmen. In unserem Job werden dir solche Typen tagtäglich begegnen“, sprach er eindringlich auf sie ein. „Wenn du das nicht lässt, wirst du kaputt gehen.“

„Wie schaffst du das nur? Du bist doch nicht aus Stein oder doch?“

„Jahrelange Übung“, antwortete er betont lässig. „Also, was wissen wir über diesen Kerl?“

Louann holte tief Luft. „Farouche war schon früh auf sich gestellt“, berichtete sie mit leicht zittriger Stimme. „Ihm wurden eine scharfe Beobachtungsgabe und geschickte Hände attestiert. Schon mit neun Jahren wurde er straffällig … Er hielt sich mit Diebstählen über Wasser.“ Was für eine Verschwendung von Talent, dachte sie. „Dabei ist er wohl geblieben.“

„Beim Vocationtest erreichte er gerade mal ein Zehntel der möglichen Punktzahl“, las Elias vom Screen ab. „Unangepasstes Sozialverhalten und seine Unsicherheit im Umgang mit anderen haben die staatlichen Prüfer nicht gerade in Begeisterung versetzt. Hier steht, dass diese Unsicherheit bei ihm schnell in Niedertracht umschlagen konnte, dennoch nie in körperliche Gewalt.“

Louann runzelte die Stirn. „Und der soll ein Mörder sein?“, äußerte sie laut ihre Bedenken.

„Menschen können sich ändern“, lautete Elias’ knapper Kommentar.

„Aber in seinem psychologischen Profil steht …“

„Ach, komm, Marino! Jeder Mensch wird Gewalt anwenden, wenn er lange genug drangsaliert wird.“ Er lehnte sich weiter vor. „Das hier ist allerdings interessant.“

„Was?“ Louann wandte sich ihm zu, verärgert, dass er ihr wieder einmal in die Parade gefahren war. Diese Eigenart an ihm ging ihr gehörig auf den Nerv und sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihm mal wieder ins Gesicht springen würde.

„Unser Fr… der Gesuchte leidet unter Akrophobie“, fuhr Elias fort.

„Höhenangst?“

„Ja. Früher litten viele Menschen darunter. Die Krankheit wurde genetisch weitgehend ausgemerzt. Bis auf einige Ausnahmen …“

„Was für Ausnahmen?“

„In den 30er Jahren wurden die Bewohner in den Banlieues um Grand Paris bewusst mit dieser Art von Phobie infiziert. Und zwar durch ihren eigenen Stadtrat. Die Menschen dachten, sie bekämen eine kostenlose Schutzimpfung gegen die ultraviolette Strahlung, stattdessen bekamen sie einen Virus verpasst, der direkt ins Gehirn gewandert ist.“

„Du scherzt wohl!“ Ungläubig schüttelte Louann den Kopf.

„Leider nein. Man wollte sicher gehen, dass die Menschen am Boden unter sich bleiben und nicht auf die dumme Idee kamen, nach Höherem zu streben.“ Er stieß ein bitteres Lachen aus angesichts der Doppeldeutigkeit seiner Aussage.

„Und das hat funktioniert?“

„Nun ja, einige Ausreißer wird es sicher gegeben haben.“

„Wie Aldo Farouche?“

„Glaube ich nicht, wenn man bedenkt, wo er die letzten Jahre verbracht hat.“

„Stimmt: CupolaV befindet sich sogar einige Meter unter dem Meeresspiegel“, erwiderte Louann und lehnte sich entspannt zurück. Die Massagesensoren in ihrem Sessel setzten sich automatisch in Gang und sie verkniff sich in letzter Sekunde ein genussvolles Stöhnen. „Was also heißen würde, dass wir Farouche zuerst auf der Null-Ebene suchen sollten.“

„Ja.“ Elias rieb sich geistesabwesend über die Onyx-Plättchen auf seiner linken Hand. Noch vor sechs Monaten hatte die schwarze Schlange Louann eine Heidenangst eingejagt, inzwischen hatte sie sich an den Anblick gewöhnt.

„Also gut“, überlegte sie laut. „Das Fahndungshologramm mit Alterungsmodifikation liegt zwar auf dem Hauptserver inklusive aller Abwandlungsvarianten, dennoch sollten wir eine separate Nachricht an die diensthabenden MECs versenden sowie an die offiziellen und nicht-offiziellen Stellen der Verwaltungsbehörden und der Inneren Sicherheit mit der Bitte um Unterstützung, Dringlichkeitsstufe Drei.“

Elias schenkte ihr einen anerkennenden Blick. „So machen wir’s.“

Während Louann die entsprechenden Eingaben machte, kam ihr ein Gedanke. „Woher weißt du das mit den Banlieues? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Stadtrat eine Rundmail geschickt hat, nach dem Motto: Wir haben dem Mob die Flügel gestutzt.“

„Von Nes.“

„Deinem Freund bei der Inneren?“

„Genau dem.“

„Wann stellst du ihn mir denn mal vor?“

Elias stellte sich dumm. „Wen?“

„Nes! Ich würde ihn gern endlich kennenlernen“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Louann wusste, dass dieser für seinen hohen Frauenverschleiß berüchtigt war.

Elias’ Gesichtsausdruck sprach Bände. „Warum sollte ich das tun?“

„Immerhin hattest du das Vergnügen, an meiner besten Freundin eine tiefgehende … äh … Analyse vorzunehmen, während ich im künstlichen Koma lag. Hab ich jedenfalls gehört.“

Elias, dem natürlich klar war, worauf seine Partnerin anspielte – nämlich seine Bettakrobatik mit der rothaarigen Selena vor vier Monaten –, erwiderte nichts. Ihm war die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, sichtlich unangenehm.

„Das wäre nur gerecht“, insistierte Louann und setzte noch einmal nach. „Außerdem ist Raoul momentan ausgebucht.“ Raoul war Louanns bevorzugtes City Toy, ein gekaufter Liebhaber mit staatlicher Lizenz und großer Zungenfertigkeit.

Elias knurrte. „Können wir jetzt wieder auf den Fall zurückkommen?“

„Natürlich“, flötete Louann, die sich an Elias’ Verlegenheit weidete. Das, mein lieber Freund, geschieht dir ganz recht, frohlockte sie innerlich. Es wird dir eine Lehre sein, meine beste Freundin zu nageln!

Sektion 3|Hanseapolis - Präludium

Подняться наверх