Читать книгу Sektion 3|Hanseapolis - Präludium - Miriam Pharo - Страница 12
Largo
ОглавлениеDie Hoffnungslosigkeit, die in den Straßen aus jedem Riss hervorkroch, überzog die langen Schlangen vor den Armenküchen wie eine tödliche Krankheit und setzte sich in den Augen der Ausharrenden fest. Aldo Farouche zog den Kopf ein, vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Jacke und ging einen Schritt schneller. Ihm kam es so vor, als würden ihn die Häuserreihen mit ihren vernagelten Fenstern tumb anglotzen. Er hatte so lange in CupolaV gelebt, dass er das Elend in den unteren Levels der europäischen Megacitys fast vollständig aus seinem Gedächtnis verbannt hatte. Bis jetzt. In den Straßen wimmelte es vor Menschen; einige drückten sich grüppchenweise in den offenen Bäuchen verlassener Einkaufspassagen herum, saßen auf den verrotteten Rolltreppen und flüsterten miteinander. Hier und da stieg ein dünner weißer Schwaden auf, wenn ein kostbarer Tabacco-Stick die Runde machte.
Nach unten starrend vermied Aldo jeglichen Blickkontakt. Die Atemmaske auf seinem Gesicht und das Augenprotektionsgel, das jeder Neuankömmling am Transkontinental Airport von Hanseapolis kostenfrei ausgehändigt bekam, fühlten sich ungewohnt an. Die ersten Minuten hatte er geglaubt zu ersticken und seine Augen hatten unaufhörlich getränt. Ihm war jedoch nichts anderes übrig geblieben, als sich damit abzufinden, denn auf der Null-Ebene von Hanseapolis war der Gehalt an Stickoxiden und Schwermetallen gefährlich hoch. Wer es sich leisten konnte, lebte oberhalb von Level 15. Um das Erstickungsgefühl am Boden perfekt zu machen, staute sich die trockene Luft in den Straßen, was Aldo ebenso zusetzte wie das gleißende Sonnenlicht, das sich durch seine Gesichtshaut zu fressen schien. Nur wenn der Wind aufkam und zwischen die Häuserschluchten fegte, schienen die Menschen aufzuatmen, auch wenn der aufgewirbelte Staub die Schmutzschicht auf Haar und Kleidung lediglich um eine weitere Maserung bereicherte.
Zwischen den Towern, die bis zum Mond zu wachsen schienen, waren gigantische GCS-Screens gespannt, die ihre bunten Bilder aus aller Welt rund um die Uhr sendeten.
Info Break
Es ist empirisch erwiesen, dass auf der Null-Ebene der europäischen Megacitys die Bevölkerungszahl im direkten Umfeld der GCS-Screens sprunghaft ansteigt und damit auch die Verbrechensrate. Für die Bewohner ist die Global Communication Sphere oft die einzige Zerstreuung und so nehmen die meisten das erhöhte Risiko gleichmütig in Kauf.
Quelle: Yahoogle Investigation Network YIN
Aldo, den die News im Sekundentakt, die Geschichtchen und Skandale nur bedingt interessierten, hatte sich für eine Bleibe abseits vom Rummel entschieden. Für ihn war Hanseapolis lediglich eine Zwischenstation. Sein eigentliches Ziel war die Strait of Dover, ein rechtsfreier Raum im Herzen der Europäischen Föderation, wo jedem Asyl gewährt wurde, der über ausreichende finanzielle Mittel verfügte. Big Spender profitierten sogar vom Bonus einer diskreten Überführung – inklusive Edelnutten und Champagner.
Vor seinem übereilten Aufbruch aus CupolaV hatte Aldo fünf wertvolle Stücke aus seinem Diebesgut in eine Tasche mit illegaler Capsule-Technologie gesteckt, die oberflächliches Scanning, wie es auf den föderativen Airports üblich war, in die Irre führte. Das hauchdünne Metallgeflecht im Futteral absorbierte die Scanner-Energie und wandelte sie in Wärmenergie um. Diese Energie wiederum setzte ein Bild hinter dem Geflecht frei, das ein falsches Echo zurückwarf. Statt eines MiniCubes mit pikanten Details aus dem Privatleben eines Admirals a.D., einer Gebetskette mit dreißig Kristallen, einem alten, voll funktionstüchtigen iPad5 und einem osmanischen Schwert mit saphirbesetztem Griff hatten die Sicherheitssysteme in Terra Venezia und Hanseapolis lediglich sauber verpackte Kleidungsstücke sowie ein paar Schuhe ausgemacht. Die Controller an den Checkpoints vertrauten der Technik blind. Gut für ihn. Seine übrigen Schätze lagen sicher versteckt im ehemaligen Fondaco dei Tedeschi am Canale Grande und er hoffte darauf, sie eines Tages zu bergen.
Obgleich er erstklassige Ware im Gepäck hatte, würde es für ihn nicht einfach werden, in Hanseapolis einen vertrauenswürdigen Käufer zu finden. Er besaß in der hiesigen Szene keine Kontakte. Bis er sich ein eigenes Netzwerk aufgebaut hatte, würde er sich als Auftragsdieb verdingen müssen. Mochte die Konkurrenz noch so groß sein, er war überzeugt, dass es ihm nicht an Jobs mangeln würde, war er doch in seinem Metier sehr bewandert. Die Geldkarte für sein Singapurer Konto trug er immer bei sich, und obwohl sie auf eine Scheinidentität ausgestellt war, wagte er es nicht, Transaktionen von über hundert Eurodollar zu tätigen, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen.
Zum Glück bescherte ihm sein Können bereits am ersten Tag eine menschenwürdige Bleibe im Distrikt Bergedorf. Sie war klein und besaß den Charme einer Einzelzelle, hatte jedoch den großen Vorteil in einer Straße zu liegen, die von der Sonne niemals beschienen wurde. Was ein Segen war, denn die Jahresdurchschnittstemperatur in Hanseapolis betrug 37,5 °C. Und teure Thermotrop-Technologie – gezielte Verschattung von transparenten Polymer-Fenstern, die durch Temperaturanstieg hervorgerufen wurde – suchte man auf den unteren Levels vergebens. Aldos Vermieter war ein Finne namens Paavo Laine, der nur einen Steinwurf entfernt ein 24/7-Resto im unteren Sockel einer Skybridge betrieb. Aldo hatte sich dort lediglich einen Schluck Hot Beer genehmigen wollen, um den staubigen Geschmack des Elends aus seiner Kehle zu spülen, als ihm der Wirt sein Leid geklagt hatte. Der schärfste Konkurrent des gesprächigen Finnen, ein Asiat aus dem Östlichen Bund, dessen Geschäft sich ein Level höher befand, hatte seit einigen Wochen ein Gericht auf seiner Holo-Karte, das die Leute süchtig zu machen schien. Was zur Folge hatte, dass Paavo die Kundschaft in Scharen davongelaufen war. Zunächst hatte Aldo den Wortschwall schweigend über sich ergehen lassen, dann aber seine Chance gewittert. Noch in der gleichen Nacht hatte er das Wunderrezept für Paavo „sichergestellt“. Bei einer anschließenden chemischen Analyse zeigte sich, dass der Asiat seine Speisen mit einem verbotenen Euphorikum versetzte. Daraufhin war es zwischen den beiden Konkurrenten zu einem heftigen Wortwechsel gekommen, bei dem Paavo der Quittenfresse gedroht hatte, besorgte Verfechter des Reinheitsgebots vorbeizuschicken. Seitdem war die Welt am Fuß der Skybridge wieder im Lot und Aldo nicht mehr ohne Obdach.
Jetzt saß er in seinem Mini-Apartment, einer mintgrünen Röhre mit schmalem Bett, Stahlschrank und Nasszelle, und starrte auf den Kunststoffboden, da wo er die Capsule-Tasche samt Inhalt unter den Platten versteckt hatte. Vor seinen unsteten Augen spielte sich der Mord an Pantalone immer wieder ab. Warum ist er auf mich losgegangen?, fragte er sich zum wiederholten Male. Beide hatten seit Jahren Geschäfte gemacht, ohne dass es irgendwelche Probleme gegeben hätte. Doch diesmal war alles anders verlaufen. Kaum hatte Aldo den kleinen Laden betreten, hatte Pantalone ihn angebrüllt.
„Du hinterfotzige Ratte! Ich hätte es wissen müssen!“
Bevor Aldo hatte nachfragen können, hatte der andere schon einen Laser gezogen. Ohne nachzudenken, hatte sich Aldo den nächstbesten Gegenstand gekrallt und seinem Angreifer damit eins übergezogen. Schnelligkeit war eine seiner Stärken. Zu seinem Leidwesen war der ergriffene Gegenstand ein schwerer Kerzenleuchter gewesen, der Pantalones Schädel hatte aufplatzen lassen wie eine Melone.
„Das Leben ist wie Wüstensand, ständig in Bewegung und völlig unberechenbar.“ Die letzten Worte seines Vaters, bevor ihn dieser aus dem Haus geworfen hatte, klangen Aldo noch deutlich in den Ohren; so deutlich, als sei es erst gestern und nicht einen Tag vor seinem elften Geburtstag gewesen. Er seufzte. Ausnahmsweise hatte dieser Hurensohn etwas Wahres gesagt. In CupolaV hatte er sich ein gutes Leben aufgebaut, auch wenn er vom Erlös seiner meist kostbaren Ausbeute einiges hatte abzweigen müssen, um habgierige Gesellen wie die Supervisors von Glob4Kic! zu schmieren. Dennoch war er zufrieden gewesen, endlich seinen Platz gefunden zu haben. Aldo fröstelte. Die ungewisse Zukunft jagte ihm eine Heidenangst ein – und hinter einer Maske verstecken konnte er sich jetzt auch nicht mehr.
„Rufus, Kumppani! Was möchtest du essen?“
Der tiefe Bass des Wirtes dröhnte durch den gesamten Raum, als der Koloss mit einer weit ausholenden Geste und einem breiten Grinsen seinen neuen Gast heranwinkte. Das 24/7-Resto Paavos Galaxie war nur zu einem Drittel gefüllt und so steuerte Aldo, der sich neuerdings Rufus nannte, einen Platz direkt neben der Essenstheke an, wo sein breitschultriger Vermieter gut gelaunt mit diversen Gerichten hantierte.
Aldo begrüßte den Finnen mit einem dünnen Lächeln. Der Hüne mit seiner lauten Herzlichkeit bereitete ihm Unbehagen. Nicht, dass Aldo ihm in irgendeiner Weise misstraut hätte, doch für jemanden wie ihn, der seine Mitmenschen auf Abstand hielt, war der glatzköpfige Mann mit der gewaltigen Körpermasse entschieden zu präsent. Trotzdem ließ er sich ab und zu in dessen Resto sehen. Zum einen fühlte er sich Paavo gegenüber verpflichtet, zum anderen war das Essen hier genießbar – eine Riesenleistung, wenn man bedachte, dass die Lebensmittelversorgung auf der Null-Ebene katastrophal war. Außerdem musste er anerkennen, dass Paavo mit viel Fantasie und wenig Budget das triste Sockelinnere der Skybridge in ein wahres Schmuckstück verwandelt hatte. Decke und Betonwände waren mit winzigen Metallspänen verkleidet, die in allen Richtungen abstanden; dazwischen steckten Leuchtdioden, deren Lichter sich tausenfach im Metall brachen und den kreisförmigen Raum in ein Farbenmeer tauchten. Um die schwarz gehaltene Theke herum waren spiralförmig Gästenischen angeordnet, die entfernt an kleine Monde erinnerten. Die Wirkung war erstaunlich: als säße man in einem kosmischen Nebel, der um ein schwarzes Loch rotierte.
„Also, was möchtest du essen?“, fragte der Finne erneut.
„Keine Ahnung. Was würdest du mir empfehlen?“
„Frische Seesterne … habe ich heute morgen unerwartet reinbekommen“, senkte der andere verschwörerisch die Stimme, während er schelmisch zwinkerte.
Aha, dachte Aldo. Vom Container gefallen also.
„Ich habe daraus ein leckeres Mus gezaubert und mit Eiweiß angereichert“, fuhr Paavo leise fort. „Garniert habe ich das Ganze mit Analogreis. Ich sag dir, mein Freund, du wirst davon nicht nur satt, sondern es schmeckt auch. Interessiert?“
„Sehr.“ Aldo liebte Seesterne und spürte, wie sich seine Laune langsam besserte. „Krieg ich auch ’nen Kaffee?“
Das Leuchten in Paavos Gesicht erlosch jäh, seine Mundwinkel zogen sich bedauernd nach unten. „Tut mir leid, Kumppani!“, antwortete er aufrichtig und schniefte hörbar durch die Nase. Nichts behagte ihm weniger, als einen Gast nicht zufrieden zu stellen. „Ich habe ihn von der Karte gestrichen, nachdem mir zum x-ten Mal der Getränke-Replikator mit Kaffee-Modul geklaut wurde.“
„Kein Problem“, beeilte sich Aldo zu versichern, obwohl er nach Kaffee lechzte. Mit dem Geld auf meinem Nummernkonto könnte ich hunderte solcher Replikatoren kaufen, dachte er frustriert.
Kurze Zeit später schob ihm Paavo eine großzügige Portion Seesterne herüber und er begann zu essen, während sich der Finne seinen anderen Gästen widmete. Als Aldo nach dem Essen Anstalten machte aufzubrechen, hielt Paavo ihn auf.
„Warte einen Augenblick. Ich muss etwas mit dir besprechen“, sagte er im Vorübergehen. „Hast du noch fünf Minuten Zeit? Dann habe ich etwas Luft.“
Aldo nickte wenig begeistert und begann nervös mit dem Fuß zu wippen. Mit mildem Interesse beobachtete er die Menschen, die im Resto ein und aus gingen. Viele ältere Menschen waren darunter, mehr Männer als Frauen. Ein pickeliger Junge mit langen braunen Haaren, der von Tisch zu Tisch ging, erregte seine Aufmerksamkeit. Offenbar war dieser auf der Suche nach einem Gönner. Er würde nicht lange suchen müssen, denn seine Jugend machte ihn für die meisten Anwesenden unwiderstehlich. Aldo hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, als sich Paavo an seine Seite zwängte und sich vertraulich zu ihm beugte.
„Eine gute Freundin von mir hat eventuell einen Job für dich“, sprach er im Flüsterton. Sein Atem roch etwas säuerlich, sein Blick aber war freundlich.
„Wieso?“, fragte Aldo konsterniert, da er sich bisher in Sachen Eigenwerbung bedeckt gehalten hatte, noch unsicher darüber, wie er vorgehen sollte.
Der Finne kratzte sich verlegen am Kopf. „Na ja … Ich fürchte, ich hab vor ein paar Tagen im Suff zu viel gequatscht. Tut mir wirklich leid, ehrlich! Ich weiß, wie viel Wert du auf die Einhaltung deiner … äh … Privatsphäre legst.“
Aldos Ausdruck verfinsterte sich und für einen Moment blitzte echte Wut in den kleinen Augen auf, die Paavo zu einem hastigen Beschwichtigungsversuch veranlasste.
„Du musst dir keine Sorgen machen, dass dich jemand an die Behörden verpfeift. Hier unten bleibt alles in der Familie. Außerdem hat das Ganze etwas Gutes …“
„Was soll daran gut sein?“, zischte Aldo. Man sollte dir die Zunge herausreißen, du elender Schwätzer!
„Wenn du die Sache nicht vergeigst, werden noch mehr Jobs folgen. Was ich dir anbiete, ist ein richtig fetter Fisch, der dich direkt in die Oberliga katapultiert!“
Paavo nickte eifrig in Erwartung großer Dankbarkeit, doch Aldos Stimme troff vor Misstrauen, als er mehr Informationen verlangte.
Der Finne gab bereitwillig Antwort. „Der Kumpel meiner Freundin Cyd kennt einen reichen Kunstliebhaber, der ihm Geld schuldet.“
„Wer ist dieser Kumpel?“ Nach außen hin gab sich Aldo unbeeindruckt, doch bei dem Wort „Kunstliebhaber“ hatte sich seine Pulsfrequenz leicht erhöht.
„Weiß ich nicht. Cyd sagt, er will anonym bleiben. Aber das ist bei dieser Art von Job keine wirkliche Überraschung.“
„Und weiter?“
„Na ja. Dieser Kunst-Typ schuldet Cyds Kumpel eine Menge Geld und weil er nicht zahlen will, fordert der eine kleine Wiedergutmachung.“
Aldo schwieg abwartend.
„Er glaubt, dass nur ein Gegenstand die offene Schuld aus der Welt schaffen kann“, sprach Paavo weiter, bevor er mit leuchtenden Augen verlautete: „Die Affrodite.“
„Was soll das sein?“
Dem Finnen verschlug es kurzzeitig die Sprache. „Du kennst die Affrodite nicht?“
„Sieht wohl so aus.“
„Das ist eine berühmte Skulptur, die ’ne Million oder so wert ist.“
„Aha“, erwiderte Aldo, äußerlich nach wie vor ungerührt. „Und was ist dein Part in dieser Geschichte?“
„Ich bin der Vermittler. Für mich ist natürlich eine kleine Gebühr drin. Das ist bei solchen Deals üblich“, grinste Paavo selbstzufrieden, dann wurde er ernst. „Aber Kumppani, mein Anteil wird nichts im Vergleich zu dem sein, was du für deine Kunstfertigkeit kassierst. Nicht jeder Neuankömmling in Hanseapolis bekommt eine solche Chance!“, schloss er, bevor er Aldo etwas Hot Beer einschenkte. „Hier, genieß deinen Drink, geht aufs Haus! Ist zwar kein Kaffee, schmeckt aber trotzdem. Überleg dir die Sache gut. Cyd will morgen früh eine Antwort.“
Nachdenklich biss sich Aldo auf die Unterlippe. Das Geld käme ihm gelegen, zumal er auf diese Weise nicht mehr gezwungen wäre, Transaktionen über sein Singapurer Konto zu tätigen, bis Gras über die Sache gewachsen war. Abgesehen davon war die Besitzumverteilung eines wertvollen Kunstgegenstandes eine Herausforderung, die er sich ungern entgehen ließ. Wahrscheinlich würde er dafür in ein Apartment oder eine Galerie auf einem der höheren Levels einsteigen, diverse Sicherheitssysteme überwinden und vielleicht noch einen Safe öffnen müssen. Ein Job ganz nach seinem Geschmack. Nur die Sache mit der Höhe bereitete ihm Kopfschmerzen … Aber darüber wollte er jetzt noch nicht nackdenken. Augen zu und durch, entschied er mit einem grimmigen Lächeln. Das wäre nicht das erste Mal. Mit etwas Glück würde er den Moloch von Hanseapolis schneller verlassen können als gedacht.
Leila, die Göttliche, machte ihrem Spitznamen alle Ehre. In einen schwarzen Luftkissensessel gefläzt, das linke Bein unter das Hinterteil geschoben und die Augen starr nach innen gerichtet, schickte sie ihre Hände auf eine huschende Reise über die halbkreisförmige Verbindungskonsole vor sich. Ab und zu hielt sie inne, bevor sich ihre Hände wieder in Bewegung setzten. Die ganze Zeit über kaute sie herzhaft auf einem Long-Life-Kaugummi herum, der alle dreißig Minuten den Geschmack wechselte und nebenbei wichtige Nährstoffe freisetzte. In dieser Position konnte die Göttliche schon mal zwanzig Stunden verharren, ohne zu trinken oder auszutreten. Ihren Spitznamen verdankte Leila nicht einer überirdischen Schönheit oder einem unwiderstehlichen Liebreiz, besaß sie doch weder das eine noch das andere. Ihr Aussehen konnte man eher als durchschnittlich bezeichnen: Sie war mittelgroß und schlank mit glatten blonden Haaren, die asymetrisch über die eine Hälfte ihres Gesichts hingen – dabei handelte es sich um Transplantate, schließlich waren die letzten Naturblonden 2046 gesichtet worden –, einem schmalen Gesicht und hellen Augen. Ihr Lächeln allerdings hatte es in sich. Ihre Eigenart, immerfort einen leicht debilen Ausdruck auf den Lippen zu tragen, jagte den Menschen in ihrem ohnehin überschaubaren Gefolge kalte Schauer über den Rücken.
Das Göttliche rührte vielmehr daher, dass Leila den Großteil ihres Lebens damit verbrachte, zweitausend Meter über dem Boden zu schweben, eingeschlossen in einer fünfzig Quadratmeter großen Luftboje, die bis oben hin mit Hightech vollgestopft war. Diese war unter anderem mit einer Tarnvorrichtung ausgestattet, die das Licht rundum vollständig umleitete; Transport- und Passagierfrachter, die in dieser Höhe flogen, nahmen statt der Boje nur ein leichtes Flirren wahr. Die Frühwarnsysteme der Schiffe identifizierten dieses Phänomen als tückische Luftströmung, die man besser aus sicherer Entfernung umflog.
Seit einer knappen Woche schwebte Leila über Hanseapolis und blickte ihren arglosen Mitmenschen bis auf die fleckige Unterhose und schmutzigen Gedanken. Im aktuellen Jagdrevier der Göttlichen lebten rund zwölf Millionen Frauen, zehneinhalb Millionen Männer und einige zehntausend Kinder, davon zweieinhalb Millionen NIPs, Non Identified Persons, die illegal in die Föderation eingeschleust worden waren. Sie alle boten Leila ein breit gefächertes Unterhaltungsprogramm dar. Doch ganz gleich, was sich unter ihr abspielte, ob Mord, Folter, Raub oder Vergewaltigung, die Göttliche schritt niemals ein, sondern nahm lediglich zur Kenntnis – das ewige Lächeln auf den Lippen –, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf das nächste Subjekt richtete. Machte sie allerdings staatsfeindliche Aktivitäten aus, informierte sie die zuständigen Stellen und sorgte dafür, dass ein unheilvolles Gewitter auf die Übeltäter niederging.
Leila war verdeckte Observatorin. Eine von zehn, die im Auftrag der Zentralregierung die Megacitys der Europäischen Föderation auf der Suche nach militanten Systemgegnern sondierte. Dazu zählte der Separatist genauso wie der Anarchist, Idealist oder Terrorist. Zu viel ist wurde in der Föderation nicht gern gesehen. Die Frau mit dem ungewöhnlichen Haarschnitt war eine außerordentlich talentierte Observatorin. Natürlich half ihr die ausgeklügelte Technik, angefangen mit Neurokommunikator, DNA-Erkennung und Pupillenmessung über die Vernetzung mit den anderen Observatoren und das Molekularscanning bis hin zum Simultanabgleich mit DELFI, der Verbrecherdatei der Europäischen Föderation; doch abgesehen davon, besaß Leila ein untrügliches Gespür für „Störer“. Tarnungen mussten schon sehr einfallsreich sein, um nicht von ihrem inneren Radar erfasst zu werden.
Als plötzlich das Fahndungshologramm von Aldo Farouche auf ihrer Hornhaut aufpoppte, blähten sich ihre Nasenflügel unmerklich auf. Die Knopfaugen unter dem wirren Haarschopf hatte sie schon einmal gesehen.