Читать книгу Von Möpsen und Rosinen - Miriam Pharo - Страница 10
4. Himmi Herrgott Sakra!
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Der einzige Luxus in meinem einfach möblierten Apartment zwischen Sphäre1 und City ist die winzige Polymerblase, die mir als Balkon dient. Dort stehe ich jetzt und genehmige mir einen Tabacco-Stick, dabei lasse ich den Blick durch die lichtgesprenkelte Nacht schweifen. Dieser Jimmy ist schon ein eigenartiger Typ. Kleidet sich wie ein Penner, trinkt echten Kaffee und leistet sich die Extravaganz, in Papierbüchern herumzukritzeln. Obendrein scheint er ein politischer Aktivist zu sein ...
Mein unsteter Blick fällt auf eine vorbeischwebende Sky Ad, die für ein teures Parfum wirbt. Womanizer steht da in geschwungenen Buchstaben. Gäbe es noch Vögel am Himmel, würden sie in dieser Sekunde einen nachdenklichen Mann mit Tabacco-Stick im Mundwinkel erblicken, der plötzlich erstarrt, während sich zeitgleich seine Augen ungläubig weiten, um sich dann ruckartig abzuwenden und in die Wohnung zurückzukehren. Was soll ich sagen? In mir ist soeben ein Verdacht aufgekeimt. Ich aktiviere die GCS, lade mir den Bauplan eines dreistöckigen Gebäudes im Zentrum von Sphäre5 herunter und überlege mir eine Strategie, wie ich morgen früh unbemerkt dort einsteigen kann. Danach kontaktiere ich das Institut, in dem tagsüber Kaoris Kind betreut wird.
„Können Sie Shou für die Nacht da behalten? … Das brauchen Sie mir nicht zu sagen! Ich weiß, dass es bereits das dritte Mal ist … Natürlich bin ich mir meiner Verantwortung bewusst, aber heute Abend habe ich etwas Wichtiges zu erledigen … Ja, in Ordnung … Natürlich. Ich danke Ihnen, auf Wiedersehen!“
Ich unterbreche die Verbindung, bevor ich mir weitere Vorwürfe anhören muss. Heute Nacht bleibt mir das qualvolle Starren auf die Zwischenwand erspart, wenn sich Shou nebenan in den Schlaf weint.
Ich bin kein Masochist, aber in einer Welt, die nur aus Lügen besteht, ist physischer Schmerz oft die einzige Wahrheit. So mache ich mich wenig später auf den Weg zu einer Kneipe namens Himmi Herrgott Sakra! im Außenbezirk von München City. Das altmodische Schild aus Leuchtdioden, eine Laus auf einem Bierfass, ist mir von der Tube aus bereits mehrmals ins Auge gestochen. Zur Assimilation zaubere ich mir keine polymeren Makel ins Gesicht wie Augenringe oder großporige Haut, sondern beschränke mich darauf, eine fleckige Stoffhose und eine alte Militärjacke anzuziehen. Meine verwuschelten Haare kämme ich mir ins Gesicht, was mich, wie ich weiß, etwas kindlich aussehen lässt.
Als ich das Himmi Herrgott Sakra! durch die offene Tür betrete, schaut sich niemand nach mir um und so stapfe ich zur Holztheke und bestelle ein Hachinger Bräu. Während ich am groben Gesöff nippe, begutachte ich meine Umgebung. Außer einem Dutzend Männern und Frauen in verschiedenen Stufen der Trunkenheit, die sich auf Holzstühlen um mehrere Tische fläzen, gibt es nicht viel zu sehen. Keine bunten Lichter, keine glatt gebügelten Gesichter, keinen Firlefanz. Ich lasse meinen Blick wandern und entdecke einen Mann mittleren Alters: drahtig, nüchtern, unberechenbar. Für mein Vorhaben ungeeignet. Meine Augen forschen weiter und bleiben an einem Typen hängen; etwa Anfang dreißig, also in meinem Alter. Er ist etwas größer als ich und gut zwanzig Kilo schwerer. Unter seinem Hemd mache ich Muskeln aus. Seine Augen sind leicht glasig, er ist angetrunken, aber nicht so, dass er gleich zusammenklappt. Perfekt.
Mit einem kräftigen Schluck leere ich mein Glas, dann rutsche ich vom Hocker und gehe auf den Typen zu, während es hinter meinen Augäpfeln verheißungsvoll zu pochen beginnt. Mit der rechten Schulter remple ich ihn an. Als er nicht reagiert, baue ich mich breitbeinig vor ihm auf, die Arme leicht vom Körper abgewinkelt. „Hey, pass doch auf, du Affe!“
Sichtlich angestrengt starrt er mich an. „Wie hast du mich genannt?“
„Einen Affen! Aber wenn ich’s mir recht überlege, Fettsack trifft es wohl eher!“ Mit dem blasiertesten Gesichtsausdruck, zu dem ich fähig bin, mustere ich ihn von Kopf bis Fuß. Das muss genügen und ich drehe mich weg.
Im selben Moment nehme ich aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr. Ich werfe mich herum und ducke mich, so dass der Hieb, der meinen Hinterkopf treffen sollte, ins Leere geht. Durch den Schwung pralle ich seitlich gegen einen der Tische, als sich der Kerl auf mich stürzt. Seine Faust gräbt sich inmeinen Magen, doch zum Glück ist der Schlag nicht kraftvoll genug ausgeführt und es gelingt mir, den zweiten Hieb abzuwehren, in dem ich mich vom Tisch abstoße, um ihm den Fuß in die Brust zu rammen. Mein Gegner torkelt rückwärts. Seine Augen funkeln angriffslustig und ich schaue mich nach einer provisorischen Waffe um. Ich will den nächstbesten Stuhl packen, doch dabei achte ich nicht auf meine Füße und stolpere, was den anderen dazu anregt, mir sein rechtes Knie zwischen die Beine zu rammen und mich wie einen Baum zu fällen. Obwohl der Typ nicht zielgenau getroffen hat, fährt mir ein jäher Schmerz durch Mark und Bein, der mich unwillkürlich auflachen lässt. Endlich! In der Menge der Umstehenden klatscht jemand Beifall. Auch wenn ich zu Boden gegangen bin, fühle ich mich euphorisch wie schon lange nicht mehr und nutze die Verwirrung meines Kontrahenten, um einen Fuß hinter seine Knöchel zu haken. Mit einem Ruck bringe ich ihn zu Fall, was leider zur Folge hat, dass hundert Kilo Fleisch auf mich plumpsen und mir der Gestank von Alkohol und Schweiß Tränen in die Augen treibt. Als Replik auf mein ersticktes „Du stinkst!“ bekomme ich einen Fausthieb auf die Nase. Blut spritzt und nimmt mir die Sicht, da umklammert der Kerl zu allem Überfluss meinen Hals. Wenn ich mir jetzt nicht etwas einfallen lasse, bin ich erledigt, und so schlage ich mit beiden Handflächen kräftig auf seine Ohren. Benommen lässt er meinen Hals los, während ich ihn packe, um ihn zu mir heranzuziehen. Gleichzeitig hebe ich den Kopf und donnere mit einem gezielten Stoß meine Stirn gegen seine Nasenwurzel. Aus seiner Kehle entweicht ein Geräusch, als würde man die Luft aus einem Gummischlauch ablassen, dann verdreht er die Augen, bevor er schwankend nach hinten sackt und regungslos liegen bleibt. Kurz vergewissere ich mich, dass er so bald nicht mehr aufsteht, dann sinke auch ich langsam nach hinten. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich nach oben an die Decke, während sich mein Atem wieder beruhigt. Zu dumm, dass ich nachher die Wunden im Gesicht mit Sprühepidermis verdecken muss.
Der kurze Zauber vergeht, als zwei grünbraune Stiefel in mein Blickfeld rücken. Eine raue Hand greift nach mir und zieht mich mit einem Ruck nach oben, während ich mehrmals hintereinander blinzele, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Vor mir steht eine Frau mit kurzen, roten Haaren und graublauen Augen; um ihre zusammengepressten Lippen liegt ein harter Zug. Sie trägt ein weit ausgeschnittenes Top, darüber eine kurze Jacke mit Lammfellimitat.
„Verschwinde aus meinem Laden!“
Ihr klarer Blick gräbt sich in mein Inneres und obwohl sie für meinen Geschmack eine Spur zu herb ist, erfreue ich mich an der Vorstellung, ihre Klamotten herunterzureißen – in meiner adrenalinumnebelten Fantasie trägt sie keine Unterwäsche – und sie mir vor aller Augen vorzunehmen.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, verschränkt sie die Arme vor der Brust.
„Ich muss noch mein Bier bezahlen.“ Meine aufgerissene Oberlippe spannt beim Reden.
„Tu das, und dann raus hier!“
Bevor ich noch etwas entgegnen kann, rauscht sie davon.
Auf dem Weg zurück zur Tube verkneife ich es mir, in der GCS nach dem Profil der Rothaarigen zu suchen. Jeder Knochen in meinem Körper schmerzt, die Platzwunden in meinem Gesicht brennen und ich muss lächeln. In dieser Nacht schlafe ich fest wie ein Baby.