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3. Ein Geschenk des Hauses

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Unweit vom Seeshaupter Rondell führt eine zypressengesäumte Allee schnurgerade zu einem weißen, klassizistischen Haus mit hohen schmalen Fenstern: das Beau Rivage, ein Asyl für Extrakte, in dem eine Handvoll Patienten rund um die Uhr von einem Pflegepersonal aus Fleisch und Blut betreut wird. Extrakte sind Individuen mit einem besonderen Talent oder außergewöhnlichen Aussehen, die für viel Geld die Rechte an ihrer Person abtreten und pixeligen Abbildern menschlichen Daseins ihre Seele vermachen. Vor über zwanzig Jahren hat Valeri Duchasnel, der weißhaarige Unbekannte aus dem Leopold, ein begnadeter Sänger und Gitarrist, genau das getan und damit die beispiellose Karriere von KennyD geebnet, einem weltbekannten Cyber-Rockstar. Noch heute singt dieser mit Duchasnels Stimme, betört mit dessen tiefgründigen Künstleraugen ein Milliardenpublikum und vollbringt wahre Wunder auf der Gitarre. Im Gegenzug sind Duchasnels eigene Gehversuche auf der Bühne kläglich gescheitert. Niemand hat ihn sehen oder hören wollen. Wie viele andere Extrakte auch hat er die Erkenntnis niemals verwunden, dass die Welt ihm ein Trugbild vorzieht, und ist schließlich im Beau Rivage gelandet. Inzwischen gaukelt ihm sein Verstand vor, KennyD zu sein. Wie mir Zuby wenig später versichert – als inoffizielle Mitarbeiterin des Europäischen Verwaltungsrats verfügt sie über vertrauenswürdige Quellen – ist Valeri Duchasnel ein harmloser, wenn auch wohlhabender Irrer, der dreimal in der Woche Freigang hat.

Im Asyl gebe ich mich als freier Autor aus, der für den Musikkanal WOJ einen Bericht über Duchasnels Anleihen aus Blues und Jazz machen will, und man gewährt uns eine Stunde draußen im Garten, der zur Straße hin durch eine hohe Mauer begrenzt ist. Wir setzen uns auf eine Bank, die um den Stamm einer imposanten Rosskastanie verläuft. Prompt beginnt es im Laubwerk über unseren Köpfen zu rascheln und ich bilde mir ein, eine warme Brise in meinem Nacken zu spüren. Erneut packt mich die Neugier und ich unterbreche Regency für einen kurzen Moment. Ein Fehler. War es mir bisher gelungen, den unterschwelligen Geruch von Hartgummi zu verdrängen, trifft er mich nun wie ein Schlag ins Gesicht. Das Gras unter meinen Füßen ist braun und zertrampelt, das Haus klotzig und streng und statt der Kastanie fristet ein Königsfarn mit verwelkten Wedelblättern ein trauriges Dasein. Wasser ist zu kostbar, um sie an Pflanzen zu verschwenden und zum wiederholten Male frage ich mich, warum die Städteplaner nicht einfach auf lebendes Gewächs verzichtet haben.

Valeri Duchasnel stellt sich als eindrucksvolle Erscheinung in weißem Leinen mit Bassstimme und theatralischem Gehabe heraus, das man ihm gern verzeiht.

„Herr D., Sie waren gestern Abend im Leopold …“

„Nennen Sie mich Kenny.“ Er lächelt mich breit an. Ich habe mich als ein Fan ausgegeben und so auf Anhieb sein Wohlwollen erlangt.

„In Ordnung … Kenny. Sie haben gestern mit einem Herrn gespeist, graue Augen, etwas vierschrötig. Können Sie sich erinnern?“

„Aber natürlich. Er kannte sich mit Alarmsystemen gut aus.“

„Warum haben Sie sich zu ihm gesetzt?“

„Er wirkte gescheit und ich dachte, er würde meine Gesellschaft zu würdigen wissen. Mein viertes Album „Trigital Brand“ hat sich über zwei Milliarden Mal verkauft, wussten Sie das?“

„Selbstverständlich. Ihre Musik hat die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts maßgeblich geprägt.“ Was nicht einmal gelogen ist. „Worüber haben Sie mit dem Mann gesprochen?“

„Über dies und das, aber vor allem über unser lasches Sicherheitssystem. Nicht auszudenken, wenn ein Stalker die Mauern meines Anwesens überwindet!“

„Das würde niemand wagen, Kenny. Dafür haben die Menschen zu viel Respekt vor Ihnen.“

„Sie haben Recht. Und doch ist die Zeit nicht spurlos an mir vorübergegangen. Trotz Defroisseur. Früher strömten die Frauen scharenweise hierher.“

„Ach was! Sie haben Ihre besten Jahre noch vor sich. Haben Sie dem Mann von gestern Abend einen Drink spendiert?“

„Nein, aber der Garçon hat uns echten Champagner serviert. Ein Geschenk des Hauses. Nach einem Glas bin ich gegangen. Im Laufe unseres Gesprächs stellte sich der Herr an meinem Tisch als nicht sehr gute Gesellschaft heraus. Er hatte keine Ahnung, wer ich bin und ich begann mich zu langweilen.“

„Das ist unverzeihlich!“

„So ist es, junger Mann. Ich verrate Ihnen jetzt etwas. Es ist niemals an die Öffentlichkeit durchgesickert, aber in den Vierzigerjahren hatte ich eine Affäre mit La Donna St. John. Ein chilenisches Playmate und …“

So geht es noch eine Weile, ohne dass ich etwas Neues erfahre. Inzwischen bin ich fast zu der Überzeugung gelangt, dass der Bolzen ohne Valeri Duchasnels Zutun in Jimmys Brust gelangt ist, zumal zwischen den beiden außer einem gemeinsamen Abendessen keine Verbindung besteht. Mit dem Versprechen, ihn bald wieder zu besuchen, verabschiede ich mich von dem Extrakt und rufe beim Hinausgehen den Bericht über Lena Wittgenstein ab. Zwar existiert laut Zubys Nachforschungen auch hier keine offenkundige Verbindung zu Jimmy Marquard, dafür füllt die Leiterin des Leopold bei DELFI, der Verbrecherdatei der Europäischen Föderation, einen ganzen Aktenschrank. Im Laufe der letzten fünfzig Jahre geriet sie unzählige Male mit dem Gesetz in Konflikt, zuletzt als Mitbegründerin der faschistoiden Vereinigung für ein Neues Isar Auen. Ich kann mich schwach an die Schlagzeile bei YIN, dem Yahoogle Investigation Network, vor zwei Jahren erinnern, als die Vereinigung in ihrer Absichtserklärung verkündete, alle Einwohner aus München City verbannen zu wollen, die jünger sind als siebzig.

Um mir ein Bild von Jimmys Umfeld zu machen, statte ich ihm am frühen Abend einen Besuch ab; aber vor allem will ich wissen, wie er zu Lena Wittgenstein steht, bevor ich sie in die Mangel nehme. Mittlerweile hat Sphäre5 die Dämmerung eingeläutet: Die Wischer am Himmel sind zartrosa angehaucht, Mosaike, Balkone und Portale erstrahlen in den schillerndsten Farben. Auf dem Steinbrunnen vor Jimmys Laden hockt ein weißblauer Löwe und spuckt im hohen Bogen virtuelles Wasser in das Becken. Beim Anblick des nassen Goldes überkommt mich der Durst, was wohl der Zweck der Übung ist, und ich steuere den Beckenrand an, dort wo ein blaues Tropfensymbol im Stein eingemeißelt ist. Bei meiner Ankunft und Registrierung in München City wurde mir von offizieller Seite eine TransApp auf meinen rechten Unterarm aufgepinselt: ein dünner Film aus Nanozellen, der sich mit der menschlichen Epidermis verbindet, und auf dem meine Kontodaten gespeichert sind. Als ich mit dem Arm über den Brunnenrand fahre, scheint sich das Tropfensymbol zu verflüssigen: meine kostenlose Wasserration für diesen Tag. Gierig nehme ich einen der bereitstehenden Becher und trinke das kostbare Nass aus dem Steingefäß, das sich daraufhin wieder verschließt, viel zu schnell aus. Also gönne ich mir eine weitere Portion. Wieder fahre ich mit dem Unterarm über das Symbol, während der Betrag automatisch von meinem Konto abgebucht wird. Diesmal gehe ich mit Bedacht vor und setze mich auf den Beckenrand. Während ich trinke, beobachte ich die seelenlosen Gesichter, die an mir vorbeiwabern. Nicht alle Bewohner von Sphäre5 widern mich an, aber in diesem Moment lasse ich es zu, dass sie zu einer amorphen Masse verschwimmen.

Am Eingang von Jimmys Atelier tummelt sich ein buntes Völkchen, das sich bei genauerer Betrachtung als eine Gruppe von Hologrammen entpuppt. Eine elegante, höchst schmeichelhafte Variante von Jimmy schüttelt diversen Projektionen die Hand, von denen ich annehme, dass sie die Lokalprominenz darstellen. Mit einem leichten Bedauern blicke ich auf den leeren Becher in meiner Hand, bevor ich ihn zurückstelle, wo er augenblicklich recycelt wird, und setzte mich seufzend in Bewegung.

Als ich durch die offene Tür des Ateliers treten will, stellt sich mir der Holo-Jimmy in den Weg und entbietet mir ein fröhliches „Herzlich willkommen!“.

Unbeeindruckt gehe ich weiter.

„Wussten Sie schon? Fransen über den Augen verjüngt Ihr Gesicht um vier Dekaden!“, ruft er mir noch hinterher, dann wendet er sich wieder seinen prominenten Freunden zu.

Jimmys Atelier ist nicht groß, aber exquisit eingerichtet. Sechs pilzförmige Kapseln stehen sich in Dreierreihen blitzblank gegenüber. Als ich den Laden betrete, sind vier davon besetzt. Eine Mitarbeiterin sitzt weiter hinten mit einem Kunden an der Computerkonsole und entwirft für ihn eine Haarkreation, die später in einer der Kapseln mithilfe von Thermostrahlung, Gebläse sowie Schneid- und Schweißlaser umgesetzt wird. Offensichtlich herrscht Uneinigkeit und sie flüstern aufgeregt miteinander. Jimmy selbst ist nirgendwo zu sehen.

„Könnte ich bitte Herrn Marquard sprechen?“, unterbreche ich das hitzige Gefecht. „Es ist sehr wichtig.“

Sauertöpfisch schaut die Mitarbeiterin auf, während sich der Kunde neben ihr zurücklehnt und einen entnervten Seufzer ausstößt. „Herr Marquard ist heute indisponiert!“ Bevor sie erneut zum Reden ansetzen kann, macht sie eine ruckartige Kopfbewegung, als würde jemand mit ihr über InterCom kommunizieren. Sie schaut überrascht, dann zeigt sie mit der Hand auf einen Ganzkörperspiegel links von ihr.

„Gehen Sie hier durch!“ Ihr Ton ist feindselig und die Tatsache, dass der Kunde postwendend eine Schimpftirade loslässt, weil ich den Maître sehen darf, er aber nicht, besänftigt ihren Blick in keiner Weise.

Das optische Kraftfeld im Spiegel wird deaktiviert und ich betrete einen winzigen Kontrollraum, von wo aus Jimmy anscheinend das Tun und Wirken in seinem Laden überwacht.

„Was für eine unfähige Kuh! Morgen ist auch noch der umsatzstärkste Tag des Monats! Wenn das alles vorbei ist, schmeiße ich sie raus!“, schallt es mir als Begrüßung entgegen.

„Wie geht es Ihnen, Jimmy?“ Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, dass ich mich bereits zum zweiten Mal an diesem Tag in einer höchst explosiven Situation befinde.

„Haben Sie etwas herausgefunden?“, bekomme ich statt einer Antwort.

Ich erzähle ihm, was ich über Valeri Duchasnel erfahren habe und er nickt interessiert, aber teilnahmslos. Als die Sprache jedoch auf Lena Wittgenstein fällt, kneift er hasserfüllt die Augen zusammen.

„Sie beide kennen sich?“

Er nickt heftig.

„Also doch jemand, der Ihnen wenig zugetan ist?“

„Die Frau ist eine Hexe!“

„Wussten Sie, dass sie mehrfach wegen staatsfeindlicher Gesinnung verhaftet wurde?“

Er schüttelt den Kopf, wirkt aber nicht überrascht.

„Schulden Sie jemandem Geld? Ich will eine ehrliche Antwort, Jimmy.“

Erneut schüttelt er den Kopf, und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu glauben. Trotzdem nehme ich mir vor, Zuby zu bitten, mir einen Blick in Jimmys Finanzen zu gewähren, sofern das überhaupt möglich ist. Das Bankgeheimnis ist neben dem Geburtsjahr der über Hundertjährigen das größte Heiligtum in den Biosphären.

„Und wie geht’s jetzt weiter?“

„Morgen werde ich Lena Wittgenstein einen Besuch abstatten. Mal sehen, was ich herausfinde. Im Moment ist sie die einzige Spur.“

„Ist das alles?“

„Was erwarten Sie denn?“ Für fünfhundert Eurodollar. „Ich bin erst seit sieben Stunden an dem Fall dran.“

Jimmy verzieht das Gesicht. Keine Ahnung, ob aus Verständnis oder Unmut. Nach unserer kurzen Bekanntschaft würde ich auf Letzteres tippen, dann aber verblüfft er mich.

„Möchten Sie Kaffee? Selbstgebraut, kein Replikat!“

„Gern.“

Zwar drängt es mich, so schnell wie möglich den Abstand zwischen mir und dem Bolzen zu vergrößern, doch einer guten Bohne kann ich nicht widerstehen. Jimmy bittet mich per Handzeichen, ihm zu folgen. Wir durchschreiten eine automatische Tür in der Rückwand des Kontrollraums und gelangen in einen langen Flur, der in den privaten Bereich seiner Wohnung führt, genau gesagt in eine halbrunde Bibliothek, in der hauptsächlich MiniCubes gestapelt sind, aber auch einige echte Papierbücher, was einer Sensation gleich kommt. Ich hätte Jimmy niemals für einen Sammler gehalten. Während Genannter kurz verschwindet, schaue ich mir die zwei Dutzend Bücher in einem eigens dafür gebauten Schrein neugierig an. Ein Titel erregt meine besondere Aufmerksamkeit und ich ziehe die dünnen Handschuhe an, die ich stets bei mir trage, um das Papier vor Keimen und Schweiß zu schützen. In der Regel dienen sie dazu, keine DNA-Spuren zu hinterlassen. Bei dem Buch handelt es sich um Quintessenzen, eine bekannte föderale Schrift. Erstaunlicher als der Inhalt selbst ist die persönliche Widmung des Verfassers Frederico Halini, ehemaliger Oberster Kanzler der europäischen Föderationsregierung. Neugierig blättere ich durch die Seiten, bis ich auf eine Passage stoße, die mich stutzen lässt. Dort, wo von Konkordanz und Solidarität die Rede ist, entdecke ich handschriftliche Randnotizen. „Lebensmotto?“ steht da und etwas weiter unten „unbedingt!“ und „unumstößliche Wahrheit“. Kein Wunder, dass Lena Wittgenstein und Jimmy der Mops wie Feuer und Wasser sind. Föderalismus und Nationalismus sind keine guten Gesellen. Ob die Bolzensache ideologisch motiviert ist?

Da nehme ich neben mir eine Bewegung wahr.„Ihres?“, frage ich so beiläufig wie möglich und zeige auf das Buch in meinen Händen.

Jimmy, der ein Tablett mit zwei Tassen und etwas Gebäck vor sich trägt, nickt. Seine Augen funkeln, als wolle er etwas hinzufügen, doch er verkneift es sich, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Schließlich sitzen wir eine kleine Weile friedlich zusammen und genießen unseren Kaffee. Eine seltene Arabica-Mischung. Ich komme nicht umhin, den außergewöhnlichen Geschmack zu loben.

Als ich wenig später das Haus verlasse, kann ich Jimmys angespannten Blick in meinem Rücken spüren.

Von Möpsen und Rosinen

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