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0. Impressionen in situ – Konturierung der Fragestellung
ОглавлениеIn meiner Dissertation Medienkulturelle Manifestationen gegenwärtiger Familienpolitik werden aktuelle vorgeburtliche Leitideen, Geburtsparadigmen, Schwangerschaftskonzeptionen und »Herstellungsarrangements von Familie«1, also Familiendiskurse, analysiert. Die Zusammenfassung der untersuchten familialen Arrangements (darunter fällt beispielsweise die gezielte Anordnung eines Kinderwagens in einem Schaufenster) unter dem Oberbegriff Familienpolitik impliziert das nicht zu stornierende Spannungspotenzial derselben. Dass Familialität politisch ist, kommt deutlich und eindrucksvoll in Carolin Emckes Rede im Oktober 2016 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels zum Ausdruck. Jene politische Dimension von Familialität verbindet diese mit gesamtgesellschaftlich hoch umkämpften Termini wie etwa Religion und Volk:
»Zur Zeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom ›homogenen Volk‹, von einer ›wahren‹ Religion, einer ›ursprünglichen‹ Tradition, einer ›natürlichen‹ Familie und einer ›authentischen‹ Nation. Sie ziehen Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht.«2
Es ist kein Zufall, dass die natürliche Familie in einem Atemzug mit kontrovers diskutierten Termini wie homogenes Volk, wahre Religion, authentische Nation und ursprüngliche Tradition genannt wird. Ablesbar an Emckes Rede ist neben der Gegenwart von Familie, also der Aktualität und der Brisanz von Familie, eben auch die politisch-konfliktäre Dimension von Familialität.
Aber ganz konkret. Was verbindet die scheinbar private Kategorie Familie mit den Großkategorien Nation, Volk, Tradition und Religion?
Es ist das Zusammenspiel von Exklusion und Selbstvergewisserung. Familialität konstituiert sich wie etwa Nation und Volk stets entgegen etwas3. Familialität existiert nicht aus sich selbst heraus. Familialität braucht das Andere als Grenzmarkierung und Familialität braucht die Selbstvergewisserung.
Die hier zugrunde liegende Annahme einer konstitutiven Verschachtelung von Medien im weiten Sinn (so ist etwa ein Kalender als Medium zu begreifen) und Kultur als Medienkultur (Siegfried J. Schmidt) kann nicht auf einen Ansatz hinauslaufen, der sich mit der Untersuchung verschiedener Aushandlungen »in den Medien« begnügt. Die Annahme einer Medienkultur führt zu neuen und anderen Erkenntnissen rund um Familienpolitik, indem konzeptionell vielfältige, bisher noch nicht gemeinsam betrachtete, auch untypische Medien syntagmatisch zusammengedacht werden.
Wenn ich unterschiedliche Medien syntagmatisch betrachte, dann bedeutet dies, dass disparate Medien nebeneinander, antihierarchisch und zusammengestellt4 betrachtet werden. Damit ist erstens gemeint, dass aus der Analyseperspektive Medien unter Stornierung ihres kulturellen Rufs schlichtweg funktional als Medien betrachtet werden. Zweitens geht damit einher, dass im Hinblick auf die Objektebene Gemeinsames zwischen medialer Disparatheit herausgearbeitet wird. Hierbei lässt sich nun der medienkulturwissenschaftliche Rekurs auf Foucault besonders gut verdeutlichen. Im Rekurs auf Die Ordnung der Dinge führt Frietsch an, dass es Foucault um Gemeinsamkeiten zwischen Disparatem geht:
»Foucaults Analyse gilt den Zusammenhängen zwischen den unterschiedlichen Aussagen und Disziplinen, aber auch zwischen den Instrumenten, Techniken, Institutionen, Ereignissen, Ideologien und Interessen«5.
Frietsch vermerkt dann auch hierin die konzeptionelle Nähe zum späteren Dispositivbegriff6. So wie Foucault auf Zusammenhänge zwischen Unterschiedlichem – vereint im Dispositiv – referiert, so geht es mir um das medienkulturell Gemeinsame zwischen medialer Disparatheit7 – vereint in der Medienkultur.
Indem unterschiedliche Medien miteinander konfrontiert werden8, kann der häufig vorhandene synekdochische Zugang, bei dem ein Medienformat zum Kronzeugen und Repräsentanten aller Medien verlängert wird, umgangen werden. Dies ist von Bedeutung, weil aktuell besonders prekär immer wieder »die Medien« mit reduktivem und demokratiefeindlichem Populismus verbunden werden. Ich leugne nun eine Verbindung von bestimmten Medienformaten und Populismus, auch Rechtspopulismus, keineswegs9. Gerade daher erscheint eine Zusammenstellung disparater Medien nicht nur hilfreich, sondern sogar auch notwendig, um nicht reduktiv zu verfahren. Dies erweist sich nicht zuletzt mit Blick auf die mediale Präsenz Kulturschaffender als sinnvoll. Zahlreiche Künstler_innen10 kommunizieren nämlich fast ausschließlich über soziale Plattformen, wie beispielsweise YouTube, mit ihrem Publikum. Es ist nun leicht einsehbar, dass ein Verzicht auf die Zusammenstellung disparater Medien zu irrigen Schlussfolgerungen hinsichtlich Absenz oder Präsenz11 der jeweiligen Künstler_innen käme. Um eine einseitige mediale Fokussierung zu vermeiden, werden also disparate Medien auf der Objektebene zusammenzustellen sein. Jene (in Anschluss an Foucault) dispositive Zusammenstellung disparater Medien mündet dann in ein Medien-Potpourri gegenwärtiger Familienpolitik. Ein Potpourri ist ja zunächst einmal etwas Diverses, Vermischtes, Verschiedenes, kurz Allerlei12. Seit dem 18. Jahrhundert dient es als Bezeichnung für ein ›aus beliebten Melodien zusammengestelltes Musikstück‹. Dies leitet sich ab vom frz. pot-pourri, was so viel wie ›verfaulter Topf‹ bedeutet. Ein Pot-pourri ist also zunächst ein ›aus verschiedenen Fleisch- und Gemüsesorten zusammengekochtes Eintopfgericht‹13. Mein Medien-Potpourri gegenwärtiger Familienpolitik ist somit eine Zusammenstellung disparater Medien. Nicht verschwiegen werden soll, dass jene negative Konnotation, wie sie in der Metapher des ›verfaulten Topfes‹ anklingt, im vorliegenden Ansatz produktiv umzuwenden sein wird, indem nämlich davon ausgegangen wird, dass die latent negativ konnotierte Vermischung von Verschiedenem, also Hochkulturellem und teils durchaus läppischem Alltäglichem gerade neue und andere Erkenntnisse ermöglicht.
Ich gehe davon aus, dass eine wissenschaftliche Fokussierung auf jene vordergründig unbedeutenden, in die Alltagskommunikation eingeflochtenen familienpolitischen Arrangements wie etwa eine Messe-Topografie oder einen Kalender, und zwar als Medien betrachtet, einen bedeutenden Erkenntnisgewinn darstellt. Grundlage der vorliegenden Arbeit sind deshalb so disparate medienkulturelle Arrangements wie Literatur, Film, Dokumentation, (Zeitungs-)Artikel, TV-Serie, Flyer, Facebook-Kommentar, Schaufenster, Kalender, Nachrichtensendung, Theater und Wunschkarten. Erst eine solche mediale Vielfalt der wissenschaftlichen Objektebene ermöglicht es, die familiale Diversität in unserer gegenwärtigen Medienkultur aufzuspüren und nicht a priori – durch eine vorgängige Eingrenzung auf beispielsweise ›Familie in Spielfilmen‹ – zu domestizieren. Eine Zusammenstellung facettenreicher Medien, die Dichotomien (privat-öffentlich; faktisch-fiktional; Ernst-Unterhaltung u.a.) skeptisch begegnet, ist eingedenk gegenwärtiger familialer Vielfalt eo ipso gerechtfertigt.
Was aber ist die Gegenwart? Es lohnt sich an dieser Stelle die Bedeutungsdimensionen von Gegenwart näher zu bestimmen, weil eine intuitive, rein zeitliche Dimension zu kurz greift. Jahraus etwa hat vermutet: »Aber vielleicht ist die Gegenwart gar keine Zeit, sondern selbst das Gegenteil der Zeit«14. Krauthausen und Kammer arbeiten im Rückgriff auf das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Bedeutungsdimensionen von Gegenwart heraus, die eingedenk der Dominanz der zeitlichen Bedeutung in unserer Gegenwartssprache geradezu erstaunlich sind15. Festgehalten wird eine Verbindung zwischen Gegenwart und Krise: »Sie [die Gegenwart, M.P.] ist als solche krisenaffin.«16 Pointiert formulieren sie: »In diesem Sinne ist gegenwart dann eine gerichtete Bewegung (auf bzw. gegen ›mich‹ zu), impliziert also ein Ereignispotential, das ›mich‹ involviert. Ein Synonym dieser gegenwart wäre: Krise.«17 Das Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Adelung fokussiert im Hinblick auf Gegenwart gerade auf den Aspekt der Wirkung: »Der Zustand, da man durch seine eigene Substanz ohne moralische Mittelursachen, ja ohne alle Werkzeuge an einem Orte wirken kann«18.
Gegenwart lässt sich demnach als eine ortsgebundene Krise auffassen, die weder einer fernen Vergangenheit noch einer fernen Zukunft zuzuordnen ist.
Gegenwärtige familienpolitische Manifestationen zeichnen sich also dadurch aus, dass sie am Ort wirken, sich dort einfinden, sich richtungsorientiert den Zeitgenoss_innen zuwenden und einen krisenhaften Vorfall evozieren. Wenn ich von unserer gegenwärtigen Medienkultur spreche, dann beziehe ich mich eher auf eine räumliche Ausdehnung (»in situ«) denn auf eine zeitliche. Die Fokussierung auf die Gegenwart wird hier vor allem dadurch bewirkt, dass der mediale Ort der Aushandlung, die »mediale […] Vergegenwärtigung«19, sukzessive wechselt, wirkt und so stets auf mich und die Rezipient_innen herausfordernd hinzukommt. Die Analyse »medialer Vergegenwärtigung« ermöglicht also, problemorientiert das »antagonistisch Entgegenkommende«20 von Familialität wie etwa die konflikthafte Auseinandersetzung mit Pränataldiagnostik aufzuspüren.
Es wird mannigfaltig und beispielorientiert gezeigt – und dies ist das Hauptanliegen der Arbeit – wie wichtig bei theoretischen und praktischen Aushandlungen rund um Familialität im Zeitalter medizintechnologischer Bedingungen die Berücksichtigung der medienkulturwissenschaftlichen Perspektive ist.
Fokussiert wird mit der Annahme medizintechnologischer Bedingungen auf die gesellschaftliche Präsenz eines breiten Spektrums von Verfahrens- und Argumentationsmodi, die sich stets wechselseitig konturieren und bedingen. Jene medizintechnologischen Bedingungen werden aufgrund der thematischen Einschränkung schlichtweg als familientechnologische bezeichnet. Dabei geht es mir bei jenen familientechnologischen Bedingungen gerade nicht um die konkrete Einordnung und Explikation von spezifischen Verfahren als Mittel der künstlichen Befruchtung (beispielsweise In-vitro-Fertilisation) oder als Vorsorge-Technik. Die in dieser Arbeit beobachteten familientechnologischen Bedingungen, verstanden als Verfahrens- und Argumentationsmodi, bilden ein diskursives Mosaik, in welchem so verschiedene Signifikanten wie etwa Leihmütter, Samenspender, Pränataldiagnostik, Regenbogenfamilien, biologische Mütter, Perfektion, Machbarkeit und Monitoring existieren.
Der kritische und problemorientierte Impetus der vorliegenden Arbeit führt dazu, dass das Analysieren gegenwärtiger familienpolitischer Manifestationen seinerseits gleichsam zum Manifest werden kann. Dennoch: Niemals geht es um Kritik an einzelnen Protagonist_innen. Problematisiert wird hier nur das diskursive Feld (in Anlehnung an Foucault und Butler). Der kritische Impetus soll im Aufmerken auf das stets miteingeschriebene Problematische, in der Haltung des stets wachsamen Misstrauens Toleranz und Demokratie durchspielen. Dieses Vorgehen lässt entglättend Mehrdeutigkeit zu. Mit dieser Strategie kann an Butler angeknüpft werden, die in kritischer und problemorientierter Haltung ambivalentes, differenziertes, plurales, womöglich uneindeutiges und komplexes Mitdenken des stets Anderen im Kontext von Feminismus und Reproduktionstechnologien präferiert:
»Feministinnen, die die Reproduktionstechnologien kritisieren, weil sie letztlich den mütterlichen Körper durch einen patriarchalen Apparat ersetzen, müssen sich gleichwohl mit der erweiterten Autonomie auseinandersetzen, die diese Technologien für Frauen gebracht haben. Feministinnen, die solche Technologien wegen der damit eröffneten Optionen begrüßen, müssen trotz allem mit den Nutzungsweisen klarkommen, zu denen sich diese Technologien gebrauchen lassen, Nutzungen, welche durchaus die kalkulierte Perfektionierung des Menschen oder die vorgeburtliche Selektion nach Geschlecht und Rasse beinhalten können.«21
Das Gefahrenpotenzial der Reproduktionstechnologien und die durch diese eröffneten Möglichkeiten sollen demnach gleichzeitig in den jeweiligen Betrachtungskontext inkludiert werden.
Die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit lautet daher antipräskriptiv: Welcherlei Familienpolitiken manifestieren sich in unserer gegenwärtigen Medienkultur?
Zur Beantwortung dieser Leitfrage werden in den einzelnen Kapiteln (3, 4, 5) jeweils Teilfragen diskutiert. Die argumentative Bewegung entfaltet sich insgesamt vom allgemein Diskursiven über ein spezielles Diskursphänomen hin zum konkreten Exemplum. Folgende Teilfragen können formuliert werden:
Wie lassen sich die konflikthaft-problematisierten diskursiven Elemente in einem als familientechnologisch zu definierenden Zeitalter und Möglichkeitsraum über reine Deskription hinausgehend inhaltlich bestimmen und einordnen (Kapitel 3)?
Wie arrangieren disparate Medien in unserer Medienkultur die wissenschaftlich bereits intensiv thematisierte Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit bei aktuellen Fragen rund um Familie (Kapitel 4)?
Welche Konfliktfelder und Konfliktkontexte werden medienkulturell im Zusammenhang mit Familienbildung und Familienzusammensetzung angeboten (Kapitel 5)?
Wenn es um Manifestationen von Familialität geht, die in unserer gegenwärtigen Medienkultur, also im Zusammenhang mit einer als grundlegend anzunehmenden Verschränkung von Kultur (Lebenspraxis) und Medien (in ihrer ganzen Disparatheit) zu beobachten sind, dann ist es heuristisch erforderlich, antipräskriptiv von jenen vielgestaltigen Observanzen auszugehen. Diese Observanzen erhalten ihren Status als Observanzen von Gewicht (in Abwandlung zu Butlers Monografie Körper von Gewicht22) dadurch, dass sie einen Familienbezug aufweisen. Ich gehe davon aus, dass der familienpolitischen Vielfalt nur durch Beachtung diverser medienkultureller Arrangements wissenschaftlich begegnet werden kann.
Noch einmal pointiert: Die Disparatheit der Familienbeispiele ist eine gewollte Strategie, um der gelebten familialen Mannigfaltigkeit gerecht werden zu können. Den berechtigten Einwänden im Hinblick auf die facettenreiche Objektebene, wonach das beispielorientierte Potpourri mich einholt, der rote Faden womöglich fehlt, oder (ich habe diese Kritik mehrfach gehört) infolgedessen die Objektebene unmöglich gezähmt, eingeordnet, ja sogar bestimmt werden kann, entgegne ich damit, dass Familialität nicht einzuholen ist. Aus dieser Uneinholbarkeit von Familialität resultiert die intendierte Offenheit der Objektebene. Daneben soll darauf verwiesen werden, dass die vereinbarte Nichtunterscheidung oder die Gleichberechtigung mannigfaltiger Medien eben durchaus diskursanalytisch ist.
Die Arbeit zeichnet sich also durch eine mediensyntagmatische Herangehensweise aus, indem disparate Medien nebeneinander stehen. Durch eine antipräskriptive, zum Teil anekdotische Fokussierung auf familienpolitische Aushandlungen sind neue und andere Erkenntnisse rund um Familialität möglich. Observanzen von Gewicht generieren sich nicht durch ihren Status im Diskurs, der ihnen eine Einordnung als etwa fiktional oder lesenswert einräumt. Observanzen erhalten Gewicht, indem sie unterschiedliche Facetten gegenwärtiger Familienpolitik illustrieren.
Bevor die Gliederung und die zentralen Thesen der Arbeit am Ende dieses Kapitels zusammenfassend erläutert werden, erfolgen ein anekdotischer Einstieg und eine begriffliche Erfassung unserer »Medienkultur«.
Mit Franziska Frei Gerlach kann von einer initiierenden Funktion von Intuitionen ausgegangen werden:
»Intuitionen tragen das Stigma der Unwissenschaftlichkeit und werden darum wohlweislich in der Argumentation verschwiegen, nichtsdestotrotz bezeichnen sie meist den Beginn des Nachdenkens.«23
Der Beginn des Nachdenkens ist im Folgenden völlig intentional an Impressionen in situ mit dem Ziel gebunden, auch subtile und unscheinbare Familienbezüge zu illustrieren. Im Anschluss daran wird die Synchronizität von Medialität und Familialität, von Medien und Familienpraxis exemplifiziert, wobei ausgeführt wird, was es bedeutet, in einer »Medienkultur« zu leben. Jene medienkulturelle Ausrichtung ist dabei hinreichend und notwendig an einen näher zu charakterisierenden Medienbegriff gebunden, der Erkenntnis ermöglicht. Nach einer modellhaften Verdeutlichung und Explikation zentraler Begriffe der Fragestellung (Familienpolitik, Manifestation, Medienkultur) können die daran anknüpfenden disparaten Observanzen von Gewicht herangezogen werden, um den Diskussionsbedarf bei Fragen rund um Familialiät zu verdeutlichen.
Der Mehrwert des nun folgenden anekdotischen Einstiegs besteht darin, dass familiale Gewöhnlichkeit hinterfragt wird. Das erste Beispiel zeigt anschaulich und praxisbezogen geschlechterstereotype Zuschreibungen im Kontext der Geburt eines Babys. Das zweite Beispiel dokumentiert erstens Familialität als Herstellungsprozess (»Doing Family«24) und zweitens die selbstvergewissernde, autokonstitutive Sichtbarmachung von Familie (»Displaying Family«25).
In meinem Bekanntenkreis kommt ein Baby zur Welt. Der Vater informiert mich, nachdem ich wider besseren Wissens das ›Geschlecht‹ des Kindes erfragt habe: »Es ist ein Junge, und deshalb werden wir nun die Hausratsversicherung erhöhen«. Ich möchte nicht leugnen, dass es sich bei diesem ulkigen Beispiel, in dem Geschlechtlichkeit hochgradig stereotyp codiert ist, um eine ganz gewöhnliche nichtwissenschaftliche Alltagskommunikation handelt. Dabei handelt es sich jedoch insofern um eine Observanz von Gewicht, als deutlich zum Vorschein kommt, wie die Ankunft eines Jungen, wie Familialität ab ovo in kulturelle Zuschreibungen eingebettet ist.
Unlängst erhalte ich (nicht im Hinblick auf mein Dissertationsprojekt, rein zufällig) eine vermutlich mit dem Smartphone getätigte Aufzeichnung, die eine Familienkomposition medial festhält, begleitet, ja gerade konstituiert: Die Mutter und ihre zweijährige Tochter sitzen am Esstisch und nehmen eine Mahlzeit zu sich. Da der Vater filmt, ist er auf der Aufzeichnung nicht zu sehen, aber zu hören. Familialität erscheint als medial-performativer Signifikationsprozess26.
Im Folgenden gebe ich den Dialog der Familie Müller [Namen geändert, M.P.] wieder, wobei zum Verständnis erforderliche Informationen in Klammern beigefügt und zentrale Elemente hervorgehoben sind:
»Vater: Wo ist die Melanie Müller?
Melanie [nach einem eher unverständlich singsanghaft-tonalem Gemurmel als Mischung aus dem Familiennamen und dem Vornamen sagt sie laut und durchaus selbst- und identitätsbezogen]: Melanie
Vater: Melanie und weiter?
Melanie [erneut]: Melanie
Vater: Müller!
Mutter: Und wie heißt der Papa?
Melanie: Auch Sven [Die erste Verwendung von Melanies auch erscheint aus einer Erwachsenenperspektive falsch, da kein Bezugssubjekt zuvor genannt worden ist. Melanies Kommunikation von einem referenzlosen auch ist aber insofern interessant, als wohl äußerst entschieden von einem allgemein-identitären Zusammenschluss ausgegangen wird, bei dem eben der Vater Sven auch dabei ist]
Mutter: Genau
Melanie: Müller Sven
Mutter: Genau. Müller Sven
Vater [zeitgleich zur Mutter]: Ja genau
Mutter [Melanie isst gerade Salami]: Und wie heißt die Salami?
Melanie: Auch Müller Sven [Mutter und Vater lachen]
Vater [wohl eine Kontamination aus Müller und Salami]: Müllernami
Vater: Wie heißt die Mama?
Melanie: Auch Müller
Mutter: Ja, genau
Mutter: Und wie heißt die Stefi?
Melanie: Auch Müller
Vater: Sehr gut! Mensch, toll!«
Das gerade zitierte alltägliche Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen wird ersichtlich, dass unter bestimmten Bedingungen (zumindest der Bedingung des gemeinsam-einheitlich rhetorischen Bezugnehmens, des kommunikativen Gewahrseins der distinkten Existenz) sogar eine Salamischeibe in den Familienbund aufgenommen ist, und zwar in den Augen von Melanie ganz selbstverständlich (»Und wie heißt die Salami? Auch Müller Sven«). Dagegen erscheint die familiale Integration der Salami für die Eltern schon nicht mehr selbstverständlich – so zeigt es zumindest das Lachen an, das Distanz markiert27. Das von Melanie wiederholt verwendete Adverb »auch« drückt – initiiert durch die Eltern in einem freilich diskursiven Kontext – eine Form der Gleichheit, eine Zusammengehörigkeit, d.h. hier in Verbindung mit dem Nachnamen familiale Gemeinschaft aus. An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass Familie hergestellt wird, und zwar mitunter bezeichnungspraktisch und konstitutiv medial. Es ist kein Zufall, dass die Familienkomposition medial begleitet wird; vielmehr konstituiert die Aufzeichnung Familie mit. Entsprechend konstatieren Theunert und Lange:
»Nur durch ein aufwändiges Zusammenspiel von Routinen und Gemeinsamkeit, Verlässlichkeit und Flexibilität lässt sich noch ein gemeinsames Familienleben etablieren. In diesem Rahmen nehmen die Medien vielfältige unterstützende, zum Teil – so unsere These – konstitutive Funktionen für das Doing Family in symbolischer und praktischer Hinsicht ein«28.
Der Terminus »Doing Family« rekurriert dabei auf »Familie als Herstellungsleistung«29. Die damit anskizzierte aktive und agitatorische, konstruktive Vorstellung von Familie »umfasst Prozesse, in denen in alltäglichen und biografischen Interaktionen Familie als sinnhaftes gemeinschaftliches Ganzes hergestellt wird.«30
In der vorliegenden Arbeit wird konzeptionell von einer »Medienkultur«31 ausgegangen – getreu dem berühmten Ausspruch Siegfried J. Schmidts: »Das Programm Kultur realisiert sich als Medienkultur, und man könnte fast hinzusetzen: und als nichts anderes.«32 So ist auch mit Scheffer erstens davon auszugehen, dass »hauptsächlich Medien […] zur Subjektbildung bei[tragen]«33 und zweitens zu betonen, dass »Realitätserfahrung […] überhaupt erst durch eine vorauslaufende mediale Bearbeitung erzeugt und ermöglicht [wird]«34, wobei der Terminus »›Medialität‹ im Sinne von ›grundsätzlich vermittelt‹«35 zu gebrauchen ist. Auszugehen ist also von einer Synchronizität von Medien/Medialität und Lebenspraxis.
Synchronizität von Medialität und Familialität kommt beispielsweise in einem Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung zum Ausdruck. Simultan zur Injektion von Samen in die Vagina bei einem assistiert reproduktiven Verfahren soll das Lied Eye Of The Tiger abgespielt werden:
»Die Spritze mit dem Spendersperma, das sterile Behandlungszimmer, die sachliche Ärztin – das war alles so unromantisch, so wenig feierlich. Darum hatte Kate Elazegui ein Lied mitgebracht. Als die Ärztin ansetzte, den Samen in Kates Vagina zu injizieren, gab sie ihr das vereinbarte Handzeichen, Kate drückte auf die ›Play‹-Taste, lehnte sich zurück und hörte: Eye Of The Tiger.«36
Besonders deutlich ist jene Synchronizität von Medien/Medialität und Lebenspraxis mit familienpolitischem Bezug in einer Sequenz aus Die Pinguine aus Madagascar37 (Penguins of Madagascar, USA 2014, Regie: Eric Darnell und Simon J. Smith, DreamWorks Animation; DVD) inszeniert. Vor einigen Jahren – so gibt es der Animationsfilm vor – rollte ein einzelnes Pinguin-Ei, zuvor vom Schnee verdeckt in seltsam anmutender Reminiszenz an Social Freezing (Einfrieren von Eizellen), eine abschüssige eisige Landschaft in der Antarktis hinunter. Spuren, ja Lebensspuren im Schnee hinterlassend, atemberaubend schnell vorbei an der possentreibenden Pinguin-Karawane, darunter Skipper, Kowalski und Rico. Wie bei allen kulturell relevanten Ereignissen der Gegenwart ist auch innerhalb der filmischen Diegese ein Kamerateam synchron zu den Vorgängen anwesend (P 00:02:25).
Die diegetisch-sichtbare Synchronizität von Medien/Medialität und Lebenspraxis reflektiert unser medienbezogenes Handeln in unserer Medienkultur. Michaela Ott geht diesbezüglich davon aus, dass »unübersichtliche Durchdringungsverhältnisse zwischen medialen Artikulationen und in sie verschlungenen menschlichen Handlungs- und Äußerungsweisen«38 bestehen.
Auf die (kindliche) Frage, ob das den Abhang hinabrollende Ei zurückgeholt werden solle, antwortet ein (erwachsener) Pinguin:
»Tut mit echt leid, Kleiner. Jedes Jahr verlieren wir ein paar Eier – so ist das eben in der Natur« (P 00:02:27).
Die (kindliche) Gegenrede lautet:
»Oh klar, die Natur. Das macht irgendwie Sinn, aber irgendwas irgendwas tief in meinem Innern sagt mir, dass das überhaupt keinen Sinn macht. Wisst ihr was: Ich lehne die Natur ab« (P 00:02:31).
Diegetisch folgt eine pinguineske Geburtshilfe: gefährlich, lebensgefährlich, aufregend, auf Eisbergs Schneide, emotional und medial angestoßen durch einen gewaltigen Stoß des Mikrofons vom Medienteam. Inszeniert wird eine performativ hergestellte Form von Familie, wobei die konventionelle duale und zweigeschlechtliche Elternschaft (Mutter-Vater, männlich-weiblich) unterlaufen wird. Der Startschuss der Geburt, das Zerbrechen der Schale und das Schlüpfen des Pinguin-Babys (Private genannt) ist künstlich (obschon durch ein Missgeschick) herbeigeführt. Ein unabsichtlicher Flügelschlag (nicht etwa eine Blasensprengung oder die Verabreichung bestimmter Hormone) initiiert das »Wunder der Geburt« (P 00:05:52) – nicht ohne Ironisierung romantisch-ästhetisierender Geburtsvorstellungen. Abgelehnt wurde die Natur: Aber was nun? Wo ist die Mutter, der Vater, die Familie? Wer ist die Mutter, der Vater, die Familie? Die Pinguine können sich wohl auf ein emotionales Band einigen, vermutlich eine Form der sozialen Elternschaft:
»Du hast uns, wir haben einander, und wenn das keine Familie ist, dann weiß ich auch nicht« (P 00:06:37).
Die hier zugrunde liegende Annahme einer konstitutiven Verschachtelung von Medien im weiten Sinn und Kultur als Medienkultur sensu Siegfried J. Schmidt kann nicht auf eine Haltung hinauslaufen, die sich mit der Untersuchung verschiedener Aushandlungen »in den Medien« begnügt. Eine solche Haltung würde nämlich erstens einer präjudizierten Einschränkung auf bestimmte Medien, häufig immer noch subtil durch Qualifikationen wie fiktiv, real, technisch, hoch und niedrig geprägt, Vorschub leisten. Zweitens impliziert der Ausdruck »in den Medien« ein latent inhärentes Verbot, Medien jedweden Status und Kultur konstitutiv zusammenzudenken. Angeknüpft werden kann vielmehr an diejenige Forschung zum Themenkomplex Geburt/Familie/Reproduktionstechnologien, die stets auf Grenzverwischungen zwischen Realität und Fiktion, Wissenschaft und Kunst sowie auf die enorme Bedeutung der Medien, Medialität, Diskursivität und Kulturalität verweist (siehe Forschungsüberblick, exemplarisch seien hier Dreysse und Nusser genannt), wobei über den Begriff Medienkultur und die mediensyntagmatische Haltung, in die auch unorthodoxe Medien inkludiert sind, dennoch zu bereits existierenden Untersuchungen eine erkenntnispraktische Verschiebung erfolgt, die noch erläutert wird. Drittens kann der Mediengebrauch nur aktiv sein39. Hier wird ein weiter Medienbegriff40 präferiert. Die Annahme einer Medienkultur führt zu neuen und anderen Erkenntnissen rund um Familienpolitik, indem konzeptionell vielfältige Medien und Kultur zusammengedacht sind. Auf der Grundlage eines konstitutiven Zusammendenkens von Medien und Lebenspraxis kann gerade auf einer ersten Ebene weder eine qualitative Separation (»die Medien«) und Subordination (»indirekt«) noch eine kanalisierende Wirkung (»durch die Medien«) von Medien angenommen werden:
»Die öffentliche Meinung spielt eine große Rolle im Zusammenhang mit der Entscheidung, ob eine Schwangerschaft fortgeführt oder beendet werden soll. Diese kann direkt vertreten werden durch den Partner, die Familie, die beratenden GenetikerInnen/ÄrztInnen oder auch indirekt durch die Medien [Hervorhebungen M.P.].«41
Grundlage der vorliegenden Arbeit sind hingegen medienkulturelle Arrangements. Dazu gehören neben Literatur und Filmen auch Facebook-Kommentare, eine Messe-Topografie oder ein Kalender. Mit Bernd Scheffer gehe ich davon aus, dass »Kunst und Literatur […] (bestenfalls) auf herausgehobener Bühne das Spiel [spielen], das überall stattfindet«42. Betont werden soll damit die stets konstruktive Gestaltungspraxis, oder weniger neutral – keinesfalls aber kokett –, das buchstäbliche, stets vorhandene medial-performative Spiel, gerade auch im Kontext von Familie. Thomä konturiert beispielsweise Elternschaft als verlängerte Theaterprobe, als alltägliches Abenteuer: »Elternschaft hat vielleicht noch am ehesten – jedenfalls was die Unübersichtlichkeit betrifft – etwas von einer Theaterprobe, die nicht enden will; sie ist ein Abenteuer des Alltags.«43 Für dieses Abenteuer, für familiale Identitätsentwürfe werden unterschiedliche Medien benötigt:
»Identitätsentwürfe brauchen Medien, um sich selbst zu entwerfen und um zu wirken. Medien bieten Bühnen für dieses Theater: die Straße, das Lokal, die Zeitung, das Radio, das Kino, das Fernsehen, das Internet. Und jedes dieser Medien bietet für sich selbst wieder eine Vielzahl an unterschiedlichen Bühnen, in denen Aspekte dieser Identitätsentwürfe artikuliert werden können. Jede Stadt hat Straßen ganz unterschiedlicher Funktion, die auch bestimmt, wie sich die Passanten verhalten.«44
Neben der Erfassung der Bedeutung von Medien für die Identitätsbildung geht es demnach um die Betrachtung von so unterschiedlichen Arrangements wie etwa der Straße oder einem Lokal als Medien.
Die Fokussierung auf medienkulturelle familienpolitische Arrangements umgeht bewusst naturphilosophische Fragen45. Dabei soll jedoch auch kein reiner Kulturalismus nach dem Motto ›Alles ist Kultur‹ ausgespielt werden. Das heißt nicht, dass Fragen nach Natur und Kultur sowie nach deren Verhältnis zueinander im Kontext von Familie nicht gestellt werden dürfen oder sollen. Es heißt aber, ich stelle sie nicht, und zwar a priori. Ich kann hier an Bergmann anknüpfen, der stets mittelbar auf Argumentationen mit Natur und Kultur fokussiert: »Es ist aufschlussreich zu verfolgen, wann mit Natur und wann mit Kultur argumentiert wird, wann die biologischen und wann die sozialen Grundlagen von Verwandtschaft herangezogen werden, wann von Substanz und wann von Prozessen gesprochen wird.«46 Bergmann bezieht sich mit dem Begriff »assistierte Authentizität«47 auf die performative Praxis der Authentifizierung, die zur Naturalisierung führt (wobei der materielle und symbolische Aufwand genannt werden). Die Beobachtung einer Kommunikation von Natur und Kultur ist dann vollends kompatibel mit Ullrichs kritischer Einschätzung der Tragfähigkeit einer dichotomen Unterscheidung zwischen Natur und Technik aufgrund der langen Tradition von Eingriffen in den Reproduktionsprozess48 und gemäß Meißners Klassifikation der Bestimmung des natürlichen Kerns eines gesellschaftlichen Phänomens als »müßige[r] Spekulation«49.
Durch die bisherigen Ausführungen und Beispiele wurde verdeutlicht, dass durch die Annahme einer Medienkultur von einer konstitutiven Verschachtelung von Medien und Lebenspraxis ausgegangen wird. Damit ist freilich noch nicht vollends geklärt, wie – ausgehend von dieser Annahme – neue und andere Erkenntnisse bei Fragen rund um Familienpolitik gewonnen werden können. Wie ist es möglich, das theoriegeleitete Beobachten von familienpolitischen Manifestationen in unserer Medienkultur an die Profilierung neuer und anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse – an Medienkulturwissenschaft – zu binden? Unter der oben ausgeführten Voraussetzung ist es ja gerade nicht möglich zu behaupten, in den Medien werde etwas (Neues) gezeigt. Gleichsam ist damit die Annahme einer kanalisierenden Wirkung von Medien (»durch die Medien«) verunmöglicht. Einfach gefragt: Was ist dann aber gerade mit, und nur mit Medien in einem wissenschaftlichen Ansatz möglich? Wären Medien, und nur Medien zur Erkenntniserzeugung nicht nötig, dann wäre dieser Ansatz, der auf Medien rekurriert, obsolet. Sensu Siegfried J. Schmidt wird nun gerade Beobachtung zweiter Ordnung von den Medien erleichtert oder sogar erzwungen50. Omnipräsente, nicht zu stornierende, existente »Kultur als Programm materialisiert sich und ist entsprechend beobachtbar in Anwendungen wie Kunstwerken, Architekturen, Büchern oder Zeitungen«51. Daher fordert Schmidt gerade dazu auf, »möglichst genau die Rolle der Medien zu explizieren.«52
Erst jüngst ist nun eine Studie erschienen, die in medientheoretischer und medienhistorischer Aufarbeitung und Dekonstruktion einen neuen und äußerst fruchtbaren Medienbegriff konzipiert. Neues und Anderes, gerade Wissenschaft, kann in der vorliegenden Arbeit auch deshalb erzeugt werden, weil hinsichtlich des präferierten (weiten) Medienbegriffs auf die vor kurzem erschienene Studie Das Erscheinen des Mediums. Autoreflexivität zwischen Phänomen und Funktionen (2015) von Martin Mann zurückgegriffen wird. Im Hinblick auf die vorliegende Arbeit erweisen sich mindestens zwei miteinander verbundene Aspekte der Untersuchung von Mann als zentral. Der Autor zeigt, dass dem Kunstwerk Elemente aus dessen Außenraum einkopiert sind, wodurch es sich zu sich selbst verhält53. In Abkehr von der Transparenzthese geht er davon aus, dass »Medien ihr eigenes Medialisieren immer auch aus[stellen]«54 und »ihr Erscheinen zum Erscheinen [bringen]«55. Zum Ausdruck kommt damit eine das Medium als solches im Vollzug stiftende Eigenwendung. Strenggenommen kann erst mit einem erkenntnisleitenden Medienbegriff Medienkulturwissenschaft, und damit die Produktion von Erkenntnissen via Beobachtung einer Medienkultur, betrieben werden. Medienkulturwissenschaft kann sich erst dann erkenntnisorientiert entfalten, wenn die Berücksichtigung der Eigenschaften von Medien, und nur von Medien, einen Mehrwert generiert, den es sonst nicht gäbe. Die Medienkulturwissenschaft könnte ansonsten einfach auf den Terminus Medien verzichten. Anders formuliert: Medienkulturwissenschaft benötigt substantiell die Auseinandersetzung mit Medien als Medien, um einen Unterschied zu erzeugen, um Medienkulturwissenschaft zu sein. In Anlehnung an Mann kann gerade die selbstbedingende Passung der Medien, »nicht rein unauffällig (störungsfrei)«56 zu funktionieren, ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen57 zu sein, medienkulturwissenschaftlich gewendet werden, und zwar insofern als »die Störung konventioneller Medienprozesse [hochgradig produktiv] sein kann.«58 Krämer, auf die Mann vielfach zurückgreift59, macht deutlich, dass Medien nicht einfach Sinn und Bedeutung vermitteln60. Sie haben aber laut Krämer eine wichtige Funktion: »Medien phänomenalisieren, sie machen wahrnehmbar.«61 Mann formuliert denn auch in Anschluss an Krämer:
»Sowohl Medium als auch Performanz sind in dieser Perspektive demnach erstens als Ereignis (also als Momente, die bei ihrem Entstehen schon wieder vergehen) und zweitens als Inszenierung (also als gerahmtes Geschehen) zu verstehen.«62
Das Medium ist demnach ereigniskonstituierter Schauplatz63.
Nach Konturierung des verwendeten Medienbegriffs kann nun der erkenntnisleitende Terminus Manifestation erläutert werden. Wenn ich in der vorliegenden Arbeit von familienpolitischen Manifestationen in unserer Medienkultur spreche, dann sind damit herausgehobene, als arrangiert-verdichtet zu kennzeichnende, konstruktiv-spielerische – dadurch nicht minder reale – Momente gemeint, welche die Medienkulturwissenschaft als ostentativ charakterisieren kann. Eine symptomatische familienpolitische Manifestation ist, und zwar insofern, als sie medienkulturwissenschaftlich gesehen als emphatisch gelten darf, eine Sequenz der Folge Onkel Doktor Cooper64 aus der Sitcom The Big Bang Theory (USA 2007-, CBS, Warner Bros. Entertainment; AMAZON VIDEO). Als emphatisch kann nun gerade die plakative Ineinssetzung von ›Schwangerschaft und Krankheit‹ sowie die je perspektivisch-konträre Bewertung von Schwangerschaft und Geburt (ultranüchtern versus emotional) in der Konfligierung aufgefasst werden. Emphase zeigt sich auch durch den dargebotenen Zynismus, wenn ein Motorradunfall des Vaters als glücklicher Umstand kommuniziert wird, der Absenz bei der Geburt des eigenen Kindes erlaubt, oder in der vollends absurden Korrelation der Dauer der Geburt mit der Zeit auf der High School.
Ich gebe nun den Dialog zwischen Sheldon (Jim Parsons), Leonard (Johnny Galecki), Amy (Mayim Bialik) und Penny (Kaley Cuoco) wieder:
»Sheldon: Ich muss gleich weg.
Leonard: Wohin?
Sheldon: Nach Texas.
Amy: Jetzt sofort? Wieso?
Leonard: Ist jemand krank?
Sheldon: Ja, der Uterus meiner Schwester brütet im Moment ein Baby aus.
Penny: Oh, sie ist schwanger. Das ist ja toll. Dann wirst du ja Onkel – Onkel Sheldon.
Sheldon: Was, nein. Ich bin dann Onkel Dr. Cooper.
Amy: Warum hast du nie erzählt, dass sie schwanger ist?
Sheldon: Ich hab dir auch nicht gesagt, dass mein Bruder Nierensteine hat. Willst du alles wissen, was aus den Genitalien meiner Familie kommt?
Leonard: Ich gratuliere, schön für deine Schwester, dass du dabei sein wirst.
Sheldon: Naja, ich springe für ihren Ehemann ein, der sich noch von einem ganz furchtbaren Motorradunfall erholt – der Glückliche.
Penny: Wow. Und wie lange wirst du weg sein?
Sheldon: Tja, der Geburtstermin soll morgen sein. Allerdings hat sie sechs Jahre für die High School gebraucht. Also, wer weiß« (B 00:00:30).
Festgehalten werden kann also, dass eine Verstrickung von ›Schwangerschaft und Krankheit‹, konkurrierende normative Geburtsvorstellungen, eine bestimmte väterliche Absenz-Position via Zynismus sowie Geburtsterminologie qua Absurdität als Echo widerhallen.
Eine weitere familienpolitische Manifestation entfaltet sich herausgehoben durch ein intermediales Arrangement (etwa B 00:03:02 und B 00:03:46), in dem Sheldon innerhalb der Metadiegese via iPad abwertend-normativ die Geburtskonzeption seiner Schwester (»Hausgeburt«) erzählt, wobei diese erneut in der Gegenrede von Raj (Kunal Nayyar) konfligiert wird.
Durch die serielle Verschaltung unterschiedlicher Darbietungen (vom Klingeln bis hin zur Metadiegese) des iPad qua Einstellungsgrößen wird gerade die Aufmerksamkeit auf das iPad gelenkt, und zwar verstärkend, indem ein wunderlicher Okkasionalismus65 (»Fruchtwasserschlitterbahn«) installiert ist. Ich gebe nun den Dialog wieder:
»Penny: Hey, wie geht’s deiner Schwester?
Sheldon: Sie hat seit knapp einer Stunde ihre Wehen.
Amy: Das ist wunderbar, seid ihr im Krankenhaus?
Sheldon: Nein, sie wollte eine Hausgeburt. Ihr Lebensstil gleicht gewissermaßen dem in der Steinzeit, und eine Höhle ist gerade nicht verfügbar.
Raj: Weißt du, viele Leute glauben, dass eine Hausgeburt besser ist, weil die Mutter in einer angenehmen, vertrauten Umgebung ist und ihre Liebenden [sic!] sie pflegen können.
Sheldon: Und dort den Schlafzimmerfußboden in eine Fruchtwasserschlitterbahn verwandeln« (B 00:03:22).
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Geburtskonzeptionen wie etwa eine Hausgeburt und kulturell damit verbundene Klischees (vertraute Umgebung) sowie ihre konträre Kritik und damit einhergehende Konnotationen (wie etwa Fragen zum Lebensstil) als konfligierende herausgehoben sind. Eingedenk der konstitutiven Verschachtelung von Medien und Familienpraxis ist es demnach auch kein Zufall, dass Sheldon durch Aufforderung einer weiblichen Stimme aus dem Off, die zum Familienfoto während des Geburtsvorgangs einlädt, zu diesem Geburtsgeschehen zurückgeholt wird: »Sheldon, komm her! Der Muttermund deiner Schwester ist jetzt vollständig geöffnet und sie will ein schönes Familienfoto, bevor hier alles verblutet« (B 00:03:50). Durch die Inszenierung eines skurrilen und hyperbolischen Vorgangs des Geburtsgeschehens ist die mitkonstituierende Funktion des Fotos markiert. Skurril ist die synchrone Kopplung des vollständig offenen Muttermunds mit einem als ästhetisch sich darstellenden fotografischen Festhalten. Hyperbolisch ist die gleitende Bewegung vom schönen Foto hin zur Szenerie des Verblutens.
Im Kontrast zum klaren Bekenntnis des Pinguins aus dem Film Die Pinguine aus Madagascar (»Du hast uns, wir haben einander und wenn das keine Familie ist, dann weiß ich auch nicht«) manifestiert sich aktuell in unserer Medienkultur ein lebhafter Diskurs über Familialität (»Die neue Unübersichtlichkeit der Familie«66). Da ist medienkulturell beispielsweise die Rede von Regenbogenfamilien (ihren Befürwortern und Gegnern), gespaltener Elternschaft (die Existenz von drei Müttern und zwei Vätern ist möglich67), Single Parenting, Leihmüttern und Samenspendern. Die erste Folge der ersten Staffel der bereits zitierten Sitcom The Big Bang Theory68 zeigt beispielsweise, wie Dr. Leonard Hofstadter und Dr. Dr. Sheldon Cooper eine Samenbank für Leute mit hohem IQ aufsuchen, um einen finanziellen Zuschuss für einen Breitband-Internet-Anschluss zu erhalten. Neben der grotesken Verknüpfung von Samenbank und Breitband-Internet wird auch der deterministisch-monokausale Glaube an Gene persifliert, indem Sheldon seine Bedenken äußert: »Wir begehen einen genetischen Betrug. Es gibt keine Garantie, dass unsere Spermien hochintelligente Nachkommen hervorbringen. Denk doch mal nach. Ich hab eine Schwester mit ziemlich derselben DNA-Mischung, und sie serviert Fastfood« (B 00:01:31).
Im nun folgenden Potpourri medienkultureller Diversität soll gezeigt werden, wie persistent in unserer Gegenwart Familienpolitik verhandelt wird. Nur durch jenen mediensyntagmatischen Zugang, nur durch das Zulassen einer weiten Objektebene kann familienpolitischer Diversität begegnet werden.
In unserer Gegenwart hat sich ein medienkulturelles Koordinatensystem herausgebildet, in dem – so wird vielerorts und allgemein angenommen – die Parameter sozial und biologisch, sowie künstlich und natürlich vielfältig miteinander kombiniert sind. Zu beobachten sind eine Erweiterung der Familie als Sozialisation und eine Eventisierung von engster biologisch-leiblich-genetischer Konturierung der Familie sowie eine scharfe Konkurrenzsituation zwischen den rhetorischen Deklarationen von natürlicher und künstlicher Familie.
In dem Sommerhit Hey Brother (USA 2013, DJ/Produzent: Avicii, Label: Universal Music und PRMD; RADIO), in dem expressis verbis Blutsverwandtschaft gefeiert wird (»Know the water’s sweet but blood is thicker«), wird grenzenlose brüderliche Solidarität, grenzenloses brüderliches Engagement besungen: »Oh, if the sky comes falling down, for you, there’s nothing in this world I wouldn’t do«.
In dem Actionfilm Fast & Furious 7 (USA 2015, Regie: James Wan, Universal Pictures) dagegen erhebt Dom (Vin Diesel) seine Freunde zur Familie. Konstituens ist in diesem Fall eine sozial-familiale Verbindung. Bereits der Trailer zu Fast & Furious 769 (2015) beinhaltet das Aufgehen von Freundschaft in Familie: »Ich habe keine Freunde, ich habe Familie« (00:01:02).
Ein Facebook-Nutzer erweist einem Freund auf seiner Facebook-Seite eine freundschaftlich-familiale Hommage: »Happy to see you, bro! Stay the way you are. God bless you!« Die Anrede »Bro« für einen sehr guten Freund erborgt für Freundschaftskonzepte den Nimbus gerade ›unleugbarer‹, also genetisch-biologischer Verwandtschaft, so dass nicht nur der »Brocode« in How I met your mother (USA 2005–2014, CBS; TV (PRO 7)) zu einer Verflüssigung zumindest familialer Rhetorik-Konzepte führt.
So stellt Dreysse eine sukzessive Ersetzung der biologischen Familie in der populären Kultur fest: »In der populären Kultur der Mehrheitsgesellschaft treffen wir […] zunehmend auf chosen families, die die biologische Familie ersetzen.«70 Dabei verweist sie auch auf die Serie How I met your mother (ohne allerdings auf den »Brocode« einzugehen) und fasst zusammen:
»Das Zerbrechen traditioneller Familienstrukturen in der gesellschaftlichen Realität ebenso wie das Bedürfnis nach nicht hierarchischen, nicht normativen Formen des Zusammenlebens bzw. der Zugehörigkeit scheint zu Vorstellungen von Familie, die selbst gewählt und frei gestaltbar sind, aber emotionale Qualitäten der bürgerlichen Kleinfamilie wie Zugehörigkeit, Verlässlichkeit, emotionale Nähe und Schutz garantieren, zu führen. Sie werden in den erwähnten Fernsehserien [u.a. Big Bang Theory M.P.] als dauerhaft, meist dauerhafter als jedwede durch Biologie, heterosexuelles Begehren oder die Ehe begründete Beziehung, dargestellt, zugleich aber auch als Effekt einer Praxis, eines alltäglichen Tuns, das die familiäre Gemeinschaft immer wieder aufs Neue kreiert und artikuliert. […] In diesem Sinne sind viele der Freundesgruppen in Film und Fernsehen als Formen der Verwandtschaft zu betrachten«71.
Die Auflösung althergebrachter Vorstellungen von Familialität sowie der Wunsch nach egalitären Verbindungen bedingen nun Familienkonzeptionen, die sich nicht mehr biologisch aus sich selbst heraus rechtfertigen, sondern gerade willentlich gestaltet werden. Mediale Darbietungen illustrieren die Viabilität dieser neuen Formen der Verwandtschaft.
Im Kontext der Sozialisation von Verbindungen ist wohl auch jüngst das Buch Ziemlich feste Freunde. Warum der Freundeskreis heute die bessere Familie ist von Susanne Lang erschienen. Darin ist der Freundschaft ein zukünftiges Versicherungskonzept eingeschrieben:
»So gesehen sind Freundschaften eine der größten Investitionen, die wir künftig eingehen werden – und eine der erstrebenswertesten. […] Ich sorge mit der Pflege meiner Freundschaften für ein ebenso gutes Zukunftsfundament wie mit meiner Riester-Rente. Denn vor allem für das Alter, so lautet eine der großen Gesellschaftsprognosen, würden gute, langjährige Sozialkontakte immer wichtiger.«72
Daneben zeugen die zahlreichen neuen Reproduktionstechnologien allerdings auch vom großen Wunsch nach dem eigenen Kind. Der Wunsch nach einem (biologischen) Kind manifestiert sich je nach Konstellation unterschiedlich, wobei zu berücksichtigen ist, dass »[d]urch das neue Angebot ›Reproduktionsmedizin‹ […] möglicherweise eine sinkende Bereitschaft ungewollt kinderloser Paare zur Adoption plausibel [wird]«73.
Am 7. Januar 2016 tritt in Deutschland die geänderte Bundesförderrichtlinie in Kraft, gemäß der »erstmals auch unverheiratete Paare für reproduktionsmedizinische Behandlungen eine finanzielle Unterstützung durch das Bundesfamilienministerium [erhalten]«74. An jenem durchaus historisch zu nennenden Tag stellt Manuela Schwesig auf ihre Facebook-Seite eine Abbildung, welche eine klassische (Vater, Mutter, Kind) und zugleich neuartig-technologische Familienkomposition in Bild und Schrift (»Wir wollen allen Paaren die Möglichkeit geben, sich den Wunsch nach einem eigenen Kind zu erfüllen, egal ob verheiratet oder unverheiratet.«75) zitiert. Den Eltern steht das Glück buchstäblich ins Gesicht geschrieben, Familie erscheint als distinkter und ästhetischer Verbund, wobei zwischen Mutter und Baby ein inniger Augenblick festgehalten wird. Der Kind und Mutter umfassende Arm des Vaters fungiert als Schutzschild und Bewahrer des Verbunds, in dem somit Mutter und Kind regelrecht eingeschachtelt sind. Die Abbildung entfaltet ein Familienszenario, indem eine tolerante Erweiterung von Familialität suggeriert (alle Paare, Gleichgültigkeit gegenüber einer rechtlichen Verankerung) und gleichzeitig verengend wieder zurückgenommen wird, denn Familie ist – so der ›Subtext‹ des Bildes – eben doch ausschließlich Vater, Mutter und das eigene Kind.
Kurze Zeit später erscheint ein kritischer Kommentar auf Facebook, der Familialität und duale Elternschaft entkoppelt:
»Frau Schwesig, das ist ein guter Ansatz, aber dass in Deutschland immer noch Familienglück an eine Partnerschaft gebunden ist, ist ein Armutszeugnis! Auch alleinstehenden Frauen sollte das Recht auf künstliche Befruchtung gewährt werden. Aber da sieht man mal wieder, dass Deutschland immer noch in der Steinzeit tickt!«
Ferner ist ein Kommentar zu lesen, der die Fokussierung auf Heterosexualität kritisiert:
»Alle Paare? Nein, natürlich nicht. Homosexuelle unverheiratete Paare (die gar nicht heiraten dürfen) sind natürlich wieder ausgenommen.«
Die beiden Facebook-Kommentare beanstanden mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung (alleinstehende Frauen; homosexuelle Paare) den gesellschaftlich-politischen Ausschluss bestimmter Gruppen. Interessant ist dabei, dass sowohl die Abbildung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend als auch die kritischen Facebook-Kommentare an der gleichen Logik partizipieren. Der Mechanismus der Erweiterung und Öffnung des adressierten Personenkreises ist jeweils verflochten mit einer Beschränkung von Familialität auf ausschließlich das (biologisch) eigene Kind. Mit Schaffer ist von der Existenz »hegemonialer Repräsentationsformen und -grammatiken«76 auszugehen und zu erkunden, »was überhaupt denkbar, sagbar und daher anschaulich ist in dieser Ordnung [gemeint ist die Episteme im Sinne Foucaults, M.P.].«77 Ihre Arbeit basiert auf der Annahme »der Notwendigkeit einer Analyse der Bedingungen der Sichtbarkeit.«78
Die neuen Reproduktionstechnologien lassen sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zu gesellschaftlichen Normen nicht eindeutig bestimmen: »Die neuen Reproduktionstechnologien stabilisieren auf der einen Seite gängige Normen – des Kinderkriegens, der Blutsverwandtschaft, der Heterosexualität etc. –, auf der anderen Seite unterlaufen sie diese (wie z.B. die Vorstellung der Kindeszeugung in einer Liebesnacht ohne technische Hilfe).«79
Auszugehen ist also mit Bergmann von einem »Spannungsverhältnis zwischen den aktiven, denaturalisierenden, alternativen und queeren Praktiken des Verwandtschaftmachens und einem biogenetischen Verständnis von Verwandtschaft, in dem das Wissen von und um Verwandtschaft durch den Code der Substanz beschrieben wird«80. Pointiert resümiert er: »Der Prozess, Verwandtschaft zu machen, wird gespiegelt von einer strukturierenden Praxis, Verwandtschaft zu sein.«81 Prozedurale und substantielle Verwandtschaftspraxen sind demnach miteinander verflochten.
Die Reportage Das Geschäft mit Social Freezing (von Christiane Hawranek und Lisa Schurr, ausgestrahlt am 24.03.2015, ARD) von Report München (Deutschland 1962-, Bayerischer Rundfunk; TV (ARD)) problematisiert facettenreich Risiken und Chancen dieser Technologie. Dargeboten werden Motive und Hintergründe, also Beweggründe von Frauen, ihre Eizellen einfrieren zu lassen. Ist einmal die Existenz der Reproduktionsmedizin akzeptiert, dann erscheint ihre Einordnung interessant. Der Kommentator der Reportage informiert über eine Social-Freezing-Patientin: »Am liebsten würde sie aber trotz der eingefrorenen Eizellen auf natürlichem Wege schwanger werden« (00:05:43). Die Kategorien Natur und Technik werden deutlich geschieden. Demnach gäbe es eine natürliche Geburt und eine technische Geburt. Die Konkurrenz zwischen natürlicher und künstlicher Geburt, der Glaube an die Existenz zweier völlig unterschiedlicher Konzepte ist hyperpräsent.
In dem Roman Lasse (2015) von Verena Friederike Hasel werden (personell und methodisch) natürliche Geburt und Kaiserschnitt dichotomisch arrangiert:
»Und deshalb hat meine Beleghebamme mich auch gewarnt vor den Ärzten. Selbst in ihrer fortschrittlichen Klinik herrsche ein wahrer Sektiowahn, hat sie gesagt, und wer sich nicht in Acht nehme, erlebe nicht das Wunder einer natürlichen Geburt, sondern lande unterm Messer.«82
Ein auf der Titelseite der ZEIT am 23. Oktober 2014 angekündigter Artikel Dürfen Firmen Familien planen?, der im Kontext einer lebhaft geführten Debatte um Social Freezing entstand83, reproduziert ebenso die Natur-Technik-Dichotomie: »Heute ist Frauke Holtmann 41 Jahre alt, hat einen neuen Partner, mit dem sie Kinder haben möchte. Aber auf natürlichem Wege hat es nicht geklappt.«84
Wenn ich in meiner Studie beispielsweise von Natürlichkeit, Gesundheit, Krankheit oder Behinderung spreche, dann gehe ich stets davon aus, dass es sich um gesellschaftliche Zuschreibungen und Kategorisierungen handelt. Eine durchgängige Kursivierung dieser historischen Kategorien würde die Lesefreundlichkeit massiv einschränken. Die Kursivierung wird daher in den einzelnen Fällen unterschiedlich gehandhabt. Davon abgesehen wird insbesondere dort, wo die illokutive Qualität solcher Ausdrücke im Sinne eines zitierenden Handelns als geklärt gelten darf.
In der vorliegenden Arbeit interessieren diejenigen familienpolitischen Manifestationen in unserer Medienkultur, die ostentativ facettenreiche (insofern im weiten Sinne zu verstehende) Konnotationen der Kategorien Natur und Kultur/Technik arrangieren. Butler macht innerhalb eines dekonstruktivistischen Argumentationsgangs in Körper von Gewicht deutlich, dass ein identitär-problematischer Begriff oder eine ebensolche Kategorie – zu nennen wäre hier nicht zuletzt der Begriff oder die Kategorie Natur85 – weder einseitig verbannt, noch unreflektiert verwendet werden sollte:
»Daß der Begriff fragwürdig ist, bedeutet nicht, daß wir ihn nicht gebrauchen dürfen, aber die Notwendigkeit, ihn zu verwenden, bedeutet auch wiederum nicht, daß wir nicht andauernd die Ausschlüsse befragen müssen, mit denen er vorgeht, und wir haben dies genau deshalb zu tun, damit wir lernen, wie die Kontingenz des politischen Signifikanten in einer Kultur demokratischer Auseinandersetzung zu leben ist.«86
Butlers Ansatz sieht also gerade nicht die Vermeidung identitär-problematischer Begriffe vor, sondern dessen Befragung auf ihr exklusives Potenzial hin, wobei zu berücksichtigen ist, dass Butler Materie nicht als rein diskursives Konstrukt versteht87.
Mit Blick auf die vorliegende Arbeit wird die Berücksichtigung der Medienkulturwissenschaft bei Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik gefordert und realisiert. Diese Forderung lässt sich freilich etwas schlichter formulieren: Es wird gezeigt – so das Hauptanliegen dieser Arbeit – wie wichtig die Berücksichtigung medienkulturwissenschaftlicher Problematisierungen bei Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik ist.
Eingedenk der omnipräsenten kommunikativen Auseinandersetzung mit Reproduktionsmedizin (die oben zitierten Ausführungen von Manuela Schwesig und die Kommentare führen es vor), erscheint die medienkulturwissenschaftliche Fokussierung umso virulenter, denn Humanwissenschaften – so Claus Dahlmanns im Rekurs auf Foucault – »verbleiben im Grunde im Feld der klassischen Episteme der Repräsentation, ohne die erkenntnistheoretischen Konsequenzen und Problemstellungen zu verarbeiten, welche die Philosophie seit Kant aufgeworfen hat.«88 Allgemeinverbindliche und eindeutige, universelle Repräsentationen von Familienpolitik kann es nicht geben und gibt es auch nicht. Zu zeigen, wie sich jedoch die vielfältigen Familienpolitiken in unserer gegenwärtigen Medienkultur manifestieren, ist Teil der nun folgenden Untersuchung.
Die einzelnen Kapitel zeichnen nicht chronologisch die verschiedenen Phasen einer Familiengründung nach. Diese Entscheidung lässt sich hinreichend legitimieren, denn Familialität der Gegenwart lässt sich aus sich selbst heraus in kein intrinsisch-chronologisches Phasenmodell einbetten. Aus der wissenschaftlichen Perspektive soll daher auch keine Domestizierung erwirkt werden. Kapitel 3, 4 und 5 sind insofern miteinander verbunden, als sie jeweils problemorientiert und kritisch einen Schwerpunkt von Familialität der Gegenwart zeigen, nämlich familientechnologische Gesundheitsmelancholie (Kapitel 3), ostentative Diversität (Kapitel 4) und Familienkonflikte (Kapitel 5). Der Gliederung ist eine argumentative Struktur inhärent, die sich vom allgemein Diskursiven über ein spezielles Diskursphänomen hin zum konkreten Beispiel entfaltet. Im folgenden Absatz werden die einzelnen Kapitel sowie die zentralen Thesen vorgestellt.
Kapitel 1 gibt einen umfassenden Forschungsüberblick, um darauf aufbauend die eigene Fragestellung verorten zu können. Es ist wichtig, darauf zu verweisen, dass »[k]ein Buch über Elternschaft […] unpersönlich geschrieben werden [kann]«89. Teilhabe kann im Diskurs über Elternschaft nicht nicht heraustreten. Involviertheit erscheint somit virulent auf der Ebene der Autorin, anderer Diskursteilnehmer_innen, die als wissenschaftliche Stimmen rezipiert werden, und der Rezipient_innen der vorliegenden Arbeit.
Kapitel 2 präzisiert die der Arbeit zugrunde liegende Methodologie. Dabei wird eine mediensyntagmatische Herangehensweise gewählt, die durch diskursanalytische Werkzeuge ergänzt wird.
Kapitel 3 entfaltet über mehrere Schritte, aufbauend auf der Studie von Bruner und den Disability Studies sowie auf Butlers Konzept der Geschlechtermelancholie, die These, dass wir uns gegenwärtig in einer familientechnologischen Gesundheitsmelancholie befinden. Im deutlichen Rekurs auf die Dokumentation Der Traum vom perfekten Kind von Patrick Hünerfeld, jedoch auch abstrahierend davon, durch zusätzliche beispielorientierte Heranziehung weiterer »Medienangebote«90 (Siegfried J. Schmidt), werden problematisierte diskursive Elemente im Umfeld von Pränataldiagnostik und Familienpolitik herausgearbeitet und über Deskription hinausgehend in einen größeren medienkulturellen Kontext gestellt. Bei aller Pluralität der Vorstellungen und Entwürfe rund um Schwangerschaft ist der Wunsch nach Gesundheit, also derjenigen Gesundheit, die über basales Wohlergehen hinausgeht und nicht selten mit Perfektion (so suggeriert es der Titel Der Traum vom perfekten Kind) verwechselt wird, als einendes, die gesamte Elternschaft betreffendes Moment artikuliert (Unterkapitel 3.1). In Differenz zu bekannten Narrationen, in denen die Exklusivität des Eigenen stolz und abgrenzend betont wird, erscheint die Artikulation des natürlichen Wunsches nach Gesundheit des Kindes als elterngemeinschaftliche Universalie konstruiert. Universalität wird aber dennoch nicht eingelöst. Es werden parallel diskursive Elemente dargeboten, die Eindeutigkeit, Klarheit im Umfeld von Pränataldiagnostik drastisch unterlaufen. Aus diesem Grund werden ferner Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge im Umfeld pränataler Diagnostik untersucht (Unterkapitel 3.2). Was bedeutet es nun aber, wenn vielerorts – sowohl wissenschaftlich in der Forschungsliteratur und praktisch in zahlreichen konkreten Beispielen – Unsicherheit integriert und kommuniziert ist? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst unterschiedliche Konfigurationen familienpolitischer Unsicherheit in unserer Medienkultur herauspräpariert (Unterkapitel 3.3). Anschließend werden die vielfältig zusammenspielenden Kategorien Unsicherheit, Schuld, Ich-Verarmung, Narzissmus und Schamlosigkeit in unserer Medienkultur gemeinsam in Anschlag gebracht (Unterkapitel 3.4). In Anlehnung an den diskursanalytischen Untersuchungsstil Foucaults91 kann gefolgert werden: Mütter und Väter verweilen in der Rolle von Gesundheitsminister_innen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbstidentisch die Reziprozität zwischen Gesundheit und Krankheit verdrängen. Dieser Verdrängungsprozess ist unbetrauerbar und politisch. Wie begründet sich aber die Verwendung des Begriffs Gesundheitsminister_innen? Minister_innen sind erstens Leiter_innen eines eigenständigen Geschäftsbereichs sowie einem übergeordneten Verbund (beispielsweise dem Bundestag) zugehörig und gegenüber diesem auch verantwortlich. Im Französischen und Englischen ist zweitens eine Verbindung zum religiösen Bereich vorhanden. Der ministre du culte und der minister sind Priester, Seelsorger, kurz Geistliche. Das Verb to minister bedeutet gerade dienen, betreuen oder einen Gottesdienst abhalten. Gesundheitsminister_innen üben demnach wie die Regierungsmitglieder eine (gesundheitliche) Führungsaufgabe aus und sind gleichzeitig einem übergeordneten Ganzen, nämlich den Gesundheitsidealen der Zeit, verpflichtet und verantwortlich. Wie die Priester betreiben sie Fürsorge und Betreuungsarbeit. Dabei dienen sie gleichzeitig einer autoritären Instanz respektive einem nicht zu hinterfragenden Ideal. Zudem sind sie Repräsentant_innen dieses Ideals und halten Gesundheitsdienste. Die Verleugnung jener konstitutiven Verbindung zwischen Krankheit und Gesundheit in unserer Gesundheitsmelancholie funktioniert aber nur vermeintlich. Gesundheitsminister_innen werden nämlich von einem unbotmäßigen, gärenden Rest eingeholt. Dieser Rest zeigt sich in Form vehementer Unsicherheit, von Ich-Verarmung und in der Erfahrung von Schuldgefühlen. Zudem erscheint die Selbst-Thematisierung der Gesundheitsminister_innen narzisstisch und schamlos. Neben der Kommunikation von Trauer als subversivem Mittel zur Unterbrechung der Gesundheitsmelancholie wird anhand einiger Sequenzen aus Scrubs die ambivalente Potenzialität von Lachen konturiert (Unterkapitel 3.5).
Kapitel 4 zielt darauf ab zu illustrieren, wie Medien familienpolitische Diversität/Komplexität/Mehrdeutigkeit und auch deren unterschiedliche Eingrenzung herausgehoben arrangieren. Das folgende Kapitel stellt demnach eine metapraktische Erweiterung derjenigen einschlägigen Studien dar, die Diversität und reduktive Einschränkung im Kontext von Familialität lediglich deskriptiv behandeln. Familiale Mehrdeutigkeit in unserer gegenwärtigen Medienkultur ist bestenfalls tolerante Vielfalt und schlechtestenfalls Oxymorie. Bevor die gegenwärtige medienkulturelle Konfiguration familienpolitischer Vielfalt (und Eingrenzung) anhand verschiedener Medien dokumentiert wird (Unterkapitel 4.2 und 4.3), werden zunächst diejenigen Elemente herausgearbeitet, die autokonstitutiv mit dem Diskursphänomen Familienpolitische Mehrdeutigkeit bis hin zu Oxymorie verbunden sind (Unterkapitel 4.1). Es sind die Elemente Unsicherheit, Sorge und Angst, die für Unbehagen im Kontext von Familialität verantwortlich zeichnen. Inwiefern aber, warum und auf welche Weise erscheint Familialität der Gegenwart unbehaglich? Um familiale Malaise charakterisieren zu können, werden Begründungshorizonte im Umfeld von Pränataldiagnostik untersucht und analysiert. Als Grundlage hierfür dienen Erzählungen von Eltern und Experten im Dokumentarfilm Am Anfang – Vor der Geburt. Um allerdings einen diskursiven Einblick in familiales Unbehagen der Gegenwart gewährleisten zu können, wird die Objektebene erweitert. Die Gemeinsamkeit der betrachteten Aushandlungen (Artikelüberschriften, Sachtexte und der Roman Angst) besteht darin, dass sie einen konstitutiven Bezug zu familialer Unbehaglichkeit aufweisen. In Links’ Dokumentarfilm (Unterkapitel 4.2) wird Hybridität bei Fragen rund um Schwangerschaft ostentativ visualisiert. Welche filmischen Strategien und welche kommunikativen Elemente ermöglichen die Heraushebung von Hybridität? Um die familienpolitische Hybridität der Gegenwart in unserer Medienkultur besser fassen zu können, wird Bruno Latours Theorie in seinem Essay Wir sind nie modern gewesen herangezogen. Die von Frischs Protagonisten Walter Faber kommunizierte Klarheit, seine eindeutige Positionierung im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch (»Schwangerschaftsunterbrechung: eine Konsequenz der Kultur, nur der Dschungel gebärt und verwest, wie die Natur will«92) ist in unserer gegenwärtigen Medienkultur unter familientechnologischen Bedingungen unterlaufen. Aber was ist geschehen? – kann mit Latour gefragt werden? Eingetreten ist jene wissenschaftlich vielerorts konturierte Vermischung von Gegensätzen, die sich metapraktisch auch zeigt. So fokussiere ich im Rückgriff auf neueste Medientheorien auf den existenten, manifesten, ja auf den ostentativen Charakter der familienpolitisch ambivalenten Zwischenräume in unserer Medienkultur. Ein interessantes zwischenräumliches Spektakel ist etwa das Schaufenster93 im Seed Brand Store München. Weiterhin bildet die Babywelt-Messe (MOC Veranstaltungscenter) eine Topografie mehrdeutiger Vielfalt. Die Babywelt-Messe ist somit ein Konzentrat der bunten konzeptionellen Diversität von Familialität. Diese komplexe Vielfalt zeigt sich gleichfalls, ist demnach augenfällig, ostentativ und herausgehoben. Butler zufolge macht gelebte Familialität in komplexer Daseinsform die Idealität der Norm zunichte94. Familiale Komplexität mündet in Entgrenzung und impliziert (produktive) Mehrdeutigkeit. Abschließend (Unterkapitel 4.3) wird problemorientiert ein Kalender mit Texten von der Ärztin Maya Fehling und Illustrationen von der Schauspielerin Ina Gercke zur Veranschaulichung der Manifestationen familienpolitischer Diversität und zur Vergegenwärtigung machtförmiger familienpolitischer Reduktionismen herangezogen und analysiert. Dieser Kalender für das Jahr 2016 stellt »12 Wege zum kindlichen Glück« aus.
Kapitel 5 zeigt in Familialität eingeschobenes Konfliktpotenzial, welches strenggenommen dramatisch ist. In den Unterkapiteln wundere ich mich diskuranalytisch darüber, dass und wie95 persistent das Funktionieren von Familialität in unserer Medienkultur unterlaufen wird. Was sich anhand der jeweiligen Medienangebote illustrieren lässt, sind Konfliktfelder in ihren je spezifischen Kontexten. Kälter als der Tod, eine Episode der TV-Krimiserie Tatort entfaltet in mehrfacher Hinsicht Familiendramen (Unterkapitel 5.1). Er fungiert in einer Gesamtsicht als ein Medium, das familiale Problemhorizonte als Problemhorizonte antinormativ verhandelt. Hinsichtlich der Analyse der Tatort-Episode lässt sich gerade kein Fazit formulieren: Weder lassen sich Aussagen über soziale Elternschaft noch über biologisch-leibliche Verwandtschaft machen. Jener schlussfolgernde Gestus bezüglich Familialität ist filminhärent ausgehebelt. Schmerzlich und narratologisch brillant dargeboten ist jedoch Familialität als katastrophales Monster. Familiale Monstrosität beinhaltet Ausgrenzung und Entgrenzung, Gewalt, Idealität, Naturalisierung, Macht, Verschleierung und Maskerade, Verleumdung, Perfektion und Bürgerlichkeit. Es wird filmanalytisch illustriert, dass die Tatort-Episode vordergründig diese Monstrosität als eine chiastisch-antithetische Familienkonstellation inszeniert, die in ihrer Tragik und Drastik verdeutlicht, dass familiale Positionen synchron eben nicht eindeutig bestimmbar sind. Weiterhin zeigt sich, dass fehlende familiale Positionalität als katastrophal aushandelbar ist. Im Rekurs auf die Butlersche Lévinas-Lektüre wird die These formuliert, dass die visuelle Darstellung der Familienmitglieder (speziell von Lydia Sanders) deren erfahrenes (Familien)Leid verdeutlicht. Das Gewahrwerden des Gesichts des Anderen ermöglicht die Berücksichtigung der Verletzlichkeit des Lebens. Das Lévinassche Gesicht (konnotiert mit Verletzlichkeit und Gefährdung) lässt keine direkte Darstellung zu. Wenn einige Familienmitglieder auf den Bildern gerade uneindeutig dargestellt werden – weitere Unschärferelationen sind im Übrigen ebenso inszeniert –, dann wird im Scheitern eindeutiger visueller Identifikation das Leid, die Qual und Gefährdung durch den Großvater, der dagegen deutlich konturiert ist, erhellt. Weiterhin ist Kälter als der Tod ein Film über Adoption, soziale Elternschaft, generell über Familialität – wie sie eben nicht funktioniert. Es ist ein Strukturmerkmal dieser Tatort-Episode, uneindeutige Perspektiven auf Familialität anzubieten. Es wird kein Familienkonzept (leiblich; sozial; Mischformen) als viabel inszeniert. Die Uneindeutigkeit des Kamerastandpunktes erhöht die Komplexität und vermeidet das Fällen eines endgültigen Urteils. Jeder Schlusskommentar liefe dem filmischen Spiel facettenreichster Uneinholbarkeit (der Subjektivierung, Familialisierung, Beurteilung) und Mehrdeutigkeit zuwider.
Als vollends inkommensurabel erscheinen familiale Konflikte in unserer Medienkultur, in denen Frauen ihre eigenen Kinder töten. Ausgelöst respektive motiviert wird die Katastrophe der Kindstötung im Roman Lasse von Verena F. Hasel (Unterkapitel 5.2) – so meine These – durch die Kombination einer fehlenden Anrede und einer gewaltvollen Anrede, die die Protagonistin Nina erfahren muss. Ich werde ausführen, dass Kindstötung in diesem Werk ein Reflexionsfeld eröffnet, welches weibliche Intelligibilität der Gegenwart problematisiert. Der Kindsmord im Roman ist eine Chiffre des Scheiterns einer weiblichen Intelligibilität, die ausschließlich verengt-abhängig ist. Ninas Identität ist insofern verengt-abhängig, als erst qua Schwangerschaft eine intelligible (nicht minder prekäre) Position eingenommen werden kann. Daneben – so die These – wird im Roman ein Modell der weiblichen Selbstkommunikation und Selbstwahrnehmung problematisierend angeboten, das die verengt-abhängige Intelligibilität als Bedingung auch der Selbstanerkennung vollends internalisiert hat. Der Roman Lasse erweist sich nicht zuletzt wegen der dargebotenen Destruktion biologisch-leiblicher Vaterschaft als äußerst spannend. Jene Destruktion ist aber nicht als Emanzipation von biologistischen Familienkonzepten, sondern als Flucht vor Verantwortung zu verstehen.
Das Schlusskapitel 6 resümiert die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit. Daneben wird noch einmal abschließend und zusammenfassend die Relevanz der antipräskriptiven Beobachtung und Analyse von anekdotischen, eher ›läppischen‹ Medienereignissen im Umfeld von Familialität illustriert. Anhand einer Begebenheit auf einem Spielplatz kann gezeigt werden, dass beim Durchspielen von Familie zwangsläufig auf akzeptierte Rollenmuster zitathaft zurückgegriffen wird und folglich von familialer Beliebigkeit nicht die Rede sein kann. Eine an Voraussetzungen gebundene familiale Variabilität in unserer Medienkultur ist aber beobachtbar und lebbar. Darüber hinaus erfolgt in Auseinandersetzung mit einer jüngeren Faust-Inszenierung eine kompakte und beispielorientierte Umsetzung der hier entwickelten neuen Methodologie. Es ist nicht zuletzt das Anliegen der vorliegenden Studie, einmal zu exemplifizieren, was mit einer solchen Herangehensweise möglich ist.