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1. Forschungsüberblick und Positionierung
ОглавлениеIm nun folgenden Forschungsüberblick1 werden diejenigen Arbeiten vorgestellt, die für das vorliegende Projekt heuristisch wichtig sind, an die ich also anknüpfen kann oder von denen ich mich verschiedentlich abgrenze. Hier wird ein separater Forschungsüberblick gegeben, damit basale Zusammenfassungen im Hauptteil sich vermeiden lassen.
Hilge Landweer zeigt diskursanalytisch in ihrer Monografie Das Märtyrerinnenmodell2, wie sich seit dem 18. Jahrhundert allmählich ein Rollenmuster herausgebildet hat, nach dem Mütter durch einen Gestus des Sichaufopferns in vielfältigen Formen zu charakterisieren sind.
»Anders als die männlichen – historischen oder politischen – Märtyrer, die sich dadurch auszeichnen, sich für die ganze Gesellschaft oder für Ideale aufzuopfern, opfern sich Märtyrerinnen in erster Linie für ihre ›Familien‹ – Söhne, Töchter, und nicht zu vergessen: Männer. […] Märtyrerinnen sind nichts als Mütter – faktisch oder symbolisch« (S. 72–73).
Ferner arbeitet sie heraus, wie Mütterlichkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker der Weiblichkeit zugeschrieben wird (S. 96), wobei weibliche Individualität aufgrund der Relationalität eher als »Dividualität« zu bezeichnen ist (S. 133). Historisch ist eine sukzessive Verschärfung der Anforderungen an die Mutter festzustellen, eine Steigerung ihrer Verantwortung, eine Ausweitung der Arbeit in direktem Bezug zum Kind (S. 98) und zum Fötus (S. 124). Die Arbeit von Landweer ist im Hinblick auf die vorliegende Studie von Interesse, weil die von dort profilierte Figur der Märtyrerin als Analysekategorie gegenwärtiger Problemhorizonte von Mütterlichkeit verwendet werden kann. Die identitätsstiftende Verschränkung von Mütterlichkeit und Weiblichkeit wird als tödliches Krisenphänomen etwa im Roman Lasse (siehe Unterkapitel 5.2) inszeniert.
Silja Samerski fokussiert in Die verrechnete Hoffnung3 auf die neuen Entscheidungssituationen, die sich durch die genetische Beratung ergeben. Sie zeigt, wie die bis ins 20. Jahrhundert existente Bedeutung von entscheiden im Sinne von »klären«, »bestimmen«, »verfügen« und »urteilen« sich seit den sechziger Jahren verschoben hat. So kann die allgemeine Bedeutung von Entscheidung nunmehr als »Wahl zwischen Möglichkeiten« verstanden werden (S. 87). Samerski zeichnet eine genetikbezogene Logik nach, die Hoffnung durch eine abstrakte Form des Wissens obsolet erscheinen lässt (S. 17–18). Die Thesen Samerskis sind für die hierher gehörende Fragestellung insofern bedeutend, als aktuell jene von ihr problematisierte Kategorie der Entscheidung im Kontext von Familienpolitik virulent und durchaus auch leidvoll verhandelt wird.
Hanna Meißner konturiert besonders mit Blick auf Butler und Foucault »Generativität als historisches Dispositiv«4, wobei der Begriff Generativität ihr zufolge allgemein als Sorge um nachwachsende Generationen (S. 156, Fußnote 3) zu verstehen ist. Generativität ist durch den funktionalen Imperativ der Optimierung des Menschen vorgeprägt (S. 163) und konstituiert sich gerade durch eine »Naturalisierung vermeintlicher Notwendigkeiten des Lebens« (S. 156–157). Zusammenfassend konzeptualisiert sie Generativität als ein multidimensionales dispositives Gebilde, in dem jedweder sorgende Beziehungszusammenhang zum Nachwuchs normativ reguliert ist (S. 163–164). Die dispositive Erfassung von Optimierungsimperativen und Phänomenen der Sorge, allesamt häufig zu beobachten, unterstützt die auch hier zugrunde liegende Annahme der Potenzialität zur (Norm)Veränderung. Meißner fokussiert demnach theoretisch auf ein dispositives Ordnungsschema der Sorge im Kontext von Reproduktion, welches hervorgebracht und wandelbar ist.
Überwachung und Risiko von Schwangerschaft werden von Elsbeth Kneuper korrelativ in Anschlag gebracht: »Die Vorstellungen der Schwangeren von der Geburt sind gerade durch die engmaschige Überwachung des schwangeren und des kindlichen Körpers heute mehr denn je von Risiken geprägt.«5 Dabei verweist die Autorin ferner auf die Reglementierung des Alltags durch Fokussierung auf Gesundheit (S. 195). Die Feststellung der alltagsbestimmenden Norm der Gesundheit im Umfeld von Familienpolitik erweist sich als äußerst wichtig für die vorliegende Arbeit. Im Unterschied zu bisherigen Annahmen verfolge ich allerdings, ausgehend von einem disparaten Mediensyntagma, eine qualitative Einordnung und über Deskription hinausgehende Profilierung der prekären Einkapselung von Gesundheit in Familialität.
Eingangs habe ich Sheldons Persiflage (The Big Bang Theory) eines einseitigen Gendeterminismus aufgezeigt (»Wir begehen einen genetischen Betrug. Es gibt keine Garantie, dass unsere Spermien hochintelligente Nachkommen hervorbringen. Denk doch mal nach. Ich hab eine Schwester mit ziemlich derselben DNA-Mischung und sie serviert Fastfood«). Nichtsdestotrotz – eine Persiflage benötigt eine Folie. Dies ist hier nun gerade die Folie der Genetisierung der Zeugung6, die von Wülfingen herausarbeitet. Das Ziel ihrer Untersuchung ist es, zu zeigen, ob und wie seit Ende der 1990er Jahre diskursive Veränderungen eintreten, die Sterilität normalisieren (S. 12). In ihrer an Foucault angelehnten archäologischen Beobachtung der Veränderungen der Darstellungsweise Neuer Reproduktionstechnologien im Hinblick auf Infertilität und Fertilität (S. 15) geht es ihr weniger um harte Fakten als um faktenschaffende Möglichkeiten aufgrund von Visionen und Fiktionen (S. 9–10). Die Objektebene speist sich aus »Texte[n] in deutschen Publikumsmedien von 1995 bis 2003 […], die den Angaben nach von Experten und Expertinnen aus dem Gebiet der Gen- und Reproduktionstechnologie stammen«7 (S. 15). Sie zeigt u.a., wie es ab ca. 1998 in dem von ihr betrachteten Material verstärkt um Befreiung von Zwängen im Kontext von neuen Reproduktions- und Gentechnologien – im Unterschied zur Heilung – geht (S. 107). Als besonders bedeutsam erweist sich auch ihre Feststellung, dass Reproduktionsprozesse zunehmend ärztlich begleitet werden (S. 248). Von Wülfingens Metaphernanalyse hat ergeben, dass die Diskursstränge ›Unfreiheit durch naturgegebene Bedingungen‹ und ›Befreiung durch Neue Reproduktions- und Gentechnologien‹ zentrale Verhandlungsmomente sind (S. 108). Nur durch gesetzte respektive angenommene Biologisierung erhalten Neue Gen- und Reproduktionstechnologien den Status von ›Befreiungstechnologien‹ (S. 107).8 Der sich manifestierende Argumentationsgang wird als dialektisch konturiert (S. 306). Ihre Studie ist von Interesse, weil sie den Stellenwert von Visionen und Fiktionen zum Ausdruck bringt sowie Strategien der Naturalisierung berücksichtigt. Mit der Autorin ist davon auszugehen, dass das, »was diskursiv präsent«, auch »ernst zu nehmen«9 ist. Während von Wülfingen auf eine »Untersuchung neuer Denkbarkeiten«10 (S. 23) abzielt, geht es mir um die Untersuchung von Elementen, die medial zeigbar sind. In deutlicher Differenzsetzung zu von Wülfingens Arbeit fokussiere ich aber gerade auf eine weitere, funktional bestimmte Objektebene. Die hier erarbeitete mediensyntagmatische Haltung konzentriert sich nicht vorweg auf Aushandlungen in Publikumsmedien und von Expertenstimmen.
Die kulturwissenschaftliche Medienanalyse Reproduziertes Leben. Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik (2011) von Julia Diekämper fokussiert innerhalb einer klar abgegrenzten Objektebene diskursanalytisch auf ein zeitlich und räumlich definiertes medial Sagbares: »Ich untersuche, was zu einer bestimmten Zeit (1995 bis 2010) an einem bestimmten Ort (Printmedien) anlässlich von bestimmten Ereignissen (im weiteren Sinne: Reproduktionstechnologien) sagbar war.«11 In Auseinandersetzung mit Diekämpers Arbeit lassen sich nun explizit methodologische Säulen herauspräparieren, die meine Studie mit bereits existierenden kultur- und medienwissenschaftlichen Arbeiten teilt bzw. mit denen die vorliegende medienkulturwissenschaftliche Untersuchung andere und neue Wege geht. Wie Diekämper gehe ich davon aus, dass »Medien als Reflektions- und Initiationsorgan eine markante Schlüsselposition zu[kommt]« (S. 21). Ebenso ist ihrer Auffassung, dass mediale Aushandlungen Normen hervorbringen (S. 20), vollends zuzustimmen12. Daneben verweist die Autorin auf machtförmige Kräfteverhältnisse im Reproduktionsdiskurs (S. 21). Wenn sie ankündigt, »ganz vom Material auszugehen« (S. 20), dann ist darin wohl eine Ähnlichkeit mit meiner Analyse von »Impressionen in situ« auszumachen. Diekämpers »Grundannahme«, »dass es keine klare Trennlinie […] zwischen einer ›reinen‹ Wissenschaft und der in den Printmedien auftauchenden vermeintlichen Populärwissenschaft [gibt]« (S. 15), liegt auch der vorliegenden Untersuchung zugrunde. Und dennoch: Meine medienkulturwissenschaftliche Haltung kann (in deutlicher Differenz zu Diekämpers Studie) auf keine homogene Objektebene fokussieren, schon gar nicht sich auf Printmedien beschränken. Der größte Unterschied besteht darin, dass in meiner Kopplung von Medienkulturwissenschaft und diskursanalytischen Werkzeugen nicht aussagenorientiert vorgegangen wird. Denn zu der zitierten Untersuchung »liefern Aussagen das Rohmaterial, weil sie die Möglichkeit einer systematischen Darstellung diskursiver Strategien bieten.«13 Hier dagegen soll es nicht darum gehen, dass »sich in den manifesten Sagbarkeiten (und Unsagbarkeiten) Normen ablesen lassen« (S. 104), sondern darum, dass disparate mediale Manifestationen herausgehoben, arrangiert-verdichtet, letztlich ostentativ Familienpolitik zeigen. Anders formuliert: Nicht »[m]ediale Sagbarkeit« (S. 26), sondern mediale Zeigbarkeit interessiert hier. Zwar gibt es sicherlich Interpenetrationszonen zwischen medialer Zeigbarkeit und Sagbarkeit – so formuliert Diekämer: »Exemplarisch zeigt sich anhand der Medien dann etwa, was zu einer bestimmten Zeit sagbar ist.«14 Wenn Diekämper jedoch einigermaßen verwundert festhält, dass die »diskursiven Nebenwirkungen der Pille […] sogar bis in die Unterhaltungsindustrie hinein[wirkten]« (S. 56) und ein Lied als Beispiel dafür zitiert wird, dann frage ich mich schon, was daran – zumindest vor dem Hintergrund eines funktionalen Medienbegriffs – denn nicht zu erwarten war, so suggeriert es zumindest das Adverb sogar. Zeigbarkeit ist in der vorliegenden Arbeit funktional und unstornierbar an (disparate) Medien in dem für unsere Medienkultur als charakteristisch anzunehmenden Mediensyntagma gebunden. Auch in Diekämpers Arbeit ist zu lesen, dass printmediale Medienbeiträge etwas »veranschaulichen« (S. 166) und »Debatten« unterschiedliche Wahrnehmungen sichtbar machen (S. 165). In meiner Studie sind aber die Zeigbarkeiten strikt methodologisch grundiert, an neue Medientheorien, an ein Mediensyntagma und an Medienkultur gebunden.
Die Überlegungen von Rapp fungieren als symptomatische Belege für (all) die wissenschaftliche Konturierung von Kontextualität (und all ihren Varianten wie Situativität, Interpretativität etc.) im Umfeld von Reproduktion. Es war Rayna Rapp, die mit Testing Women, Testing the Fetus15 eine Untersuchung vorgelegt hat, in der intervieworientiert facettenreichste, kontextbasierte, glaubensspezifische, multiperspektivische, lokale und globale, kategorienabhängige (unter anderem class, age, gender) Diversität, Komplexität, Verflechtung, Differentialität bei Fragen rund um die Anwendung von Fruchtwasserpunktion beleuchtet wird. So konstatiert sie:
»To understand each negotiation, we would need a different, fuller context within which to situate the meaning of this particular pregnancy in light of community values, reproductive histories, and the trajectory of each particular woman and her partner. Such a grounding would provide more ample space for examining the contradictory social relations and limits each pregnant woman faces, and the constrained agency she exercises in her reproductive choices« (S. 100).
Dabei fokussiert sie auf Entscheidungsprozesse sowie verschiedene Grenzziehungen und fragt nach den basalen Konstitutionsbedingungen für die Notwendigkeit entschiedenen Grenzziehens. Die Bedeutung etwa von Kontextualität, Situativität oder Interpretativität bei Fragen rund um Familie kann nicht überschätzt werden. Dennoch gehe ich über die (bloße) Feststellung und Einforderung von Kontextualität, Situativität oder Interpretativität deutlich hinaus, indem ich mithilfe eines erkenntnisleitenden Medienbegriffs zeige, dass Kontextualität in unserer Medienkultur ostentativ vorliegt.
Insgesamt betrachtet erweisen sich die jüngeren Sammelbände Soziologie der Geburt. Diskurse, Praktiken und Perspektiven16; Mütter – Väter: Diskurse, Medien, Praxen17; Das Imaginäre der Geburt. Praktiken, Narrationen und Bilder18 und Geburt in Familie, Klinik und Medien. Eine qualitative Untersuchung19 sowie Tanja Nussers Monografie »wie sonst das Zeugen Mode war«. Reproduktionstechnologien in Literatur und Film20 als echte Meilensteine, insofern als dort diskursive, kulturell-symbolische, narrative, historisch-gesellschaftliche, rituelle, praxisbezogene und mediale Aspekte sowie ihre Verschränkungen beleuchtet und interpretiert werden. Barbara Thiessen und Paula-Irene Villa heben beispielsweise hervor, dass TV-Formate wie nachmittägliche Talkshows »alles andere als unseriöse populärkulturelle Details«21 sind. Explizit führt auch der Sammelband Techniken der Reproduktion. Medien – Leben – Diskurse22 »aktuelle biotechnologische und biopolitische Entwicklungen mit kultur- und medienwissenschaftlichen Diskursen zusammen, die sich mit der Reproduktion von Texten und Identitäten befassen.«23
Die jüngst erschienene Monografie Kinder machen24 von Andreas Bernard fokussiert auf die Geschichtlichkeit assistierter Empfängnis und bezieht Literatur (Huxley: Schöne neue Welt, Zola: Fruchtbarkeit, Goethe: Die Wahlverwandtschaften etc.) und Filme (etwa Cholodenko: The Kids Are All Right) in den Deutungshorizont mit ein. Dabei geht der Autor von familialer Kontinuität aus: »Die mit Unterstützung der Reproduktionstechnologien entstandenen Familien sind schlichtweg die zeitgenössische Ausprägung eines traditionellen Lebensmodells« (S. 482). Besonders beeindruckend erscheint mir die Berücksichtigung des topografischen Arrangements in Samenbanken: »In allen Samenbanken und Reproduktionszentren […] ist dieses Masturbations-Ensemble nahezu identisch zusammengestellt. Es ruft in Erinnerung, dass auch der leidenschaftslosesten, maschinellsten Gewinnung des männlichen Ejakulats so etwas wie Erregung des Mannes vorangehen muss« (S. 99). Bernards Arbeit ist von Bedeutung, weil durchwegs auf das historische Gewordensein von Familialität fokussiert wird. Ferner berücksichtigt sie mediale und räumliche Aushandlungen, ohne kulturpessimistisch zu verfahren. Meine Studie stellt dennoch eine Erweiterung dar, indem topographische Arrangements wie etwa ein Messe-Aufbau stärker in das Mediensyntagma der Familialität integriert werden.
Die vorliegende Arbeit kann an die im vorigen Abschnitt erwähnten Sammelbände und Monografien in ihren sicherlich unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen deutlich anknüpfen, besonders aufgrund von deren Betonung diskursiver, medialer, kulturell-symbolischer, kurz performativer und konstruktiver Momente im Kontext von Familialität. Diese Arbeiten sind demnach grundlegend für mein Forschungsvorhaben. In diesem Zusammenhang soll auch auf die sehr wesentliche theater- und kulturwissenschaftliche Studie Mutterschaft und Familie. Inszenierungen in Theater und Performance25 von Miriam Dreysse, die ebenfalls Judith Butler heranzieht, verwiesen werden. Die Autorin verfolgt das Ziel, »Inszenierungen von Mutterschaft, Familie und Verwandtschaft in der visuellen Kultur und den darstellenden Künsten der Gegenwart zu untersuchen« (S. 24). Ihre Studie zeichnet sich durch ein in mehrfacher Hinsicht facettenreiches Korpus aus:
»Die Arbeit analysiert Inszenierungen von Mutterschaft und Familie in der zeitgenössischen Kultur. Künstlerische Diskurse wie Theater, Tanz, Performance und bildende Kunst begreift sie als Teil der kulturellen Praxis, die Gesellschaft begründet. Sie geht mithin von einem kulturwissenschaftlichen Ansatz aus, demzufolge Gesellschaft als ein plurales Ensemble von Diskursen gesehen wird, die als Texte zu lesen und analysieren sind. Künstlerische Praktiken oder theoretische Texte haben diesem Verständnis nach grundsätzlich denselben Stellenwert wie alltägliche oder massenmediale Praktiken; […] Kultur wird als ständiger, performativer Prozess verstanden« (S. 25).
Aufgrund der Betrachtung verschiedener Medien erfolgt in Dreysses Untersuchung das Gewahrwerden einer »Medienspezifik des Mutterbildes« (S. 17). Die Autorin verweist darauf, dass das Theater im 18. Jahrhundert einen Sonderstatus im Hinblick auf Mutterfiguren besitzt. Im Unterschied zur Präsenz idealer Mutterbilder in der bildenden Kunst, erscheint die Mutter in bürgerlichen Trauerspielen bestenfalls randständig (S. 16). Diese Diskrepanz hängt Dreysse zufolge möglicherweise mit einer Ineinssetzung von Mutter und Natur zusammen, »die sie aus der symbolischen Ordnung ausschließt, und die zwar mit den Mitteln der bildnerischen Gestaltung, nicht aber im Medium des handlungs- und sprachbasierten Sprechtheaters darstellbar ist« (S. 150). Als Gemeinsames zwischen diesen beiden Medien werden Darstellungskonventionen, die der ersichtlichen Repräsentation entgegenlaufen (S. 200), ausgemacht. Mit Blick auf die Gegenwart beobachtet die Autorin ein werbespezifisches Arrangement von Müttern und Vätern: »Während Mutterfiguren in der Werbung für Baby- und Kinderprodukte sowie Haushaltswaren inszeniert werden, kommen Vaterfiguren beispielsweise in der Kfz-Werbung vor, wenn ein Auto als Familienauto vermarktet werden soll« (S. 39). Sie zeigt anhand zahlreicher Beispiele die künstlerische Inszenierung pluraler und vielfältiger Familienformen.
Inwiefern stellt nun mein medienkulturwissenschaftlicher, mediensyntagmatischer Ansatz eine methodologische und heuristische Erweiterung dar? Geht doch schon Dreysse davon aus, dass »Medien […] für die Alltagspraxis eine zentrale Rolle [spielen], gerade auch solche medialen Bilder, die Teil der Alltagsrealität sind, aber nur beiläufig rezipiert werden, wie etwa die Werbung« (S. 17). Sie untersucht u.a. »visuelle Konstruktionen von Mutterschaft in der gegenwärtigen populären Kultur«, wobei »Beispiele aus der kommerziellen Werbung, der Ratgeberliteratur sowie der politischen Kommunikation« (S. 17) herangezogen werden. Besonders beeindruckend ist auch Dreysses Berücksichtigung der Geschichte eines geschlechtlich codierten Dingobjekts, nämlich des Puppenhauses (S. 249).
Dreysse macht zwar theoretisch keine Rangunterschiede zwischen unterschiedlichen Medien. Tatsächlich aber unterscheidet sie sehr wohl zwischen Kunst, die ihr zufolge dekonstruieren kann, und Manifestationen aus der Werbung, die beispielsweise Geschlechterrollenmuster bestätigen und verstärken: »So einseitig Bilder von Mütterlichkeit in der Werbung und der Ratgeberliteratur diese darstellen, so ambivalent und vielseitig wird Mutterschaft in den Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen inszeniert.« (S. 116) Der hier präferierte Ansatz ermöglicht über die Annahme einer Medienkultur eine noch weitergehende Beobachtung von in gelebter Beiläufigkeit26 verschachtelten medienkulturellen familienpolitischen Manifestationen der Gegenwart, indem hier andere Medien (etwa Babywelt-Messe, Kalender, Schaufenster, Nachrichtensendung etc.) zusammengestellt und schlichtweg funktional betrachtet werden. Die einzige Vorverabredung, und zwar funktional, ist die Annahme, dass es sich bei den beobachteten Manifestationen um mediale handelt. Indem hier von Medienkultur gesprochen wird, kann der ›kulturelle Ruf‹ der jeweiligen Medien leichter storniert werden. Dreysse geht zwar expressis verbis davon aus, dass künstlerische Praktiken, theoretische Texte und alltägliche oder massenmediale Praktiken den gleichen Stellenwert haben (S. 25). ›Hinterrücks‹ werden doch aber die Medienangebote mit kulturellem Wert versehen, wenn rhetorisch differenziert wird in »künstlerische Praktiken« oder »massenmediale Praktiken«. Der hier vorgeschlagene funktionale Medienbegriff im Mediensyntagma unterläuft die Ordnung von Dreysse, in der ein Unterschied zwischen Alltagskultur und Kunst entgegen erklärten Absichten letztlich doch aufrechterhalten wird. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die rhetorische Einordnung in »künstlerische Praktiken« oder »massenmediale Praktiken« folgenreich ist. Ist es da nicht unvoreingenommener, ergebnisoffener, antipräskriptiver, von Medienkultur zu sprechen? Ich bevorzuge eine antipräskriptive(re) Erfassung von Medien in der Medienkultur (etwa eines Kalender als Medium, der Babywelt-Messe als Medium, von Werbung als Medium) in Abgrenzung zu doch institutionalisiert aufgefächerten Klassifikationen wie beispielsweise »populäre[r] Kultur«, bildende[r] Kunst« oder »Performance-Kunst« (S. 17).
Zwar gehe ich ebenso wie Dreysse von kulturellen Ambivalenzen (beispielsweise S. 10, S. 14), von familienbezogener Vielfalt und Stereotypen (S. 48), vom politischen Charakter von Familialität (S. 9), von Widersprüchlichkeit (S. 113), von der Herstellung im Sinne des »Doing Family« (S. 12), von Historizität (S. 14) und von Naturalisierungs- und Entnaturalisierungstendenzen (S. 9) aus, differenziere jedoch funktional nicht zwischen »stereotype[r] Darstellung oder aber dem offensichtlichen Spiel mit stereotypen Familienbildern« (S. 17). Vielmehr soll im Rückgriff auf neueste Medientheorien funktional von medialen Ostentationen (die bei Werbung und Theater strukturäquivalent sind) und im medienkulturwissenschaftlichen Rekurs auf Diskursanalyse von medienkulturellen Zeigbarkeiten (völlig unabhängig von Dekonstruktion und Reproduktion) die Rede sein. Damit sollen die Verdienste der Arbeit von Dreysse keineswegs in Abrede gestellt werden. Zugutezuhalten ist ihr, dass sie keine einseitige Verknüpfung von Theater und Dekonstruktion vornimmt27, aber gewahrt bleibt doch eine Vorrangstellung bestimmter institutionalisierter Medien, wenn kommuniziert wird:
»Der Raum des Theaters bietet die Möglichkeit, zwingende Wiederholungen von Identität zu verfehlen und aufs Spiel zu setzen und auf diese Weise naturalisierte Annahmen über Mutterschaft und Familie zu dekonstruieren.«28
Führen nicht auch andere, bisher in ihren ostentativen Funktionen weniger beachtete Medien (wie etwa eine Messe) »die historische, diskursive und immer auch heterogene Konstruktion von Familie vor Augen«29? Die Frage nach einer möglichen medialen Dekonstruktion und/oder Reproduktion von Stereotypen wird in meinem Ansatz nicht anhand des jeweiligen Mediums entschieden. Dieses macht (lediglich oder bzw. überhaupt erst) wahrnehmbar30. Die Frage nach Dekonstruktion oder Reproduktion wird schlichtweg an die Medienkultur delegiert. Damit geht einher, dass antipräskriptiv Qualifikationen vom Medium weg an die Medienkultur abgegeben werden. Diese Tage um den Jahreswechsel 2016/17 sind von Diskussionen um Fake News im Internet und der pauschalen Diffamierung der ›vierten Gewalt‹ als »Lügenpresse« geprägt. Innerhalb eines poststrukturalistischen Designs kann es zwar bestenfalls um ein mehr oder weniger wahr gehen, gleichfalls leugne ich nicht die Feststellbarkeit der Falschheit bestimmter Aussagen. Jede diesbezügliche Feststellbarkeit lässt sich aber erst im Nachgang verorten, im medienkulturellen Nachgang. Das Medium spricht nicht aus: »Ich bin eine Fake News«. Der zu diesem Zeitpunkt noch designierte US-Präsident Donald Trump klassifiziert schlichtweg in einer Pressekonferenz den Fernsehsender CNN als »Fake News«31. Hätte das Medium interne Mechanismen zur (Selbst)Klassifikation als Falschnachricht oder Wahrnachricht (gleichsam zur Dekonstruktion oder Reproduktion) würde eine solche Behauptung überflüssig. Dass sie dies nicht ist, zeigt eindrucksvoll das Beispiel der deutschen Politikerin Renate Künast, die sich auf dem Rechtsweg gegen eine Falschnachricht zur Wehr setzen muss. Das folgende Zitat ist eine Nachricht über die Falschnachricht und damit eine Klassifikation der Falschheit des vermeintlichen Statements im medienkulturellen Nachgang:
»Seit dem vorigen Wochenende hatten […] mehrere Facebook-Seiten ein Foto der Politikerin samt einem vermeintlichen Zitat gepostet, wonach Künast über den Mord an der Studentin Maria und die Festnahme eines Verdächtigen in Freiburg gesagt habe: ›Der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen.‹«32
Künasts vermeintliche Stellungnahme (›Der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen.‹) klassifiziert sich nicht selber als falsch.
Diese prekären Beispiele illustrieren, dass zunächst einmal die mediale Aushandlung etwas wahrnehmbar macht. Wie und vor allen auch wozu dies dann wahrgenommen wird (zur Dekonstruktion oder Reproduktion etwa), wird in der Medienkultur ausgehandelt.
Mein Augenmerk liegt auf der Beobachtung von medialen Manifestationen in der Medienkultur, die sich signifikant von der Beobachtung von Manifestationen in einem Film, in einem Theater oder »in den Medien« unterscheidet. Ich halte es nämlich für irreführend, einerseits eine umfassende Untersuchungsebene zu suggerieren und andererseits diese durch Fokussierung auf bestimmte Medien zurückzunehmen, wie dies indes in der Forschung immer wieder durchaus geschieht. So fokussiert der Titel des Aufsatzes von Sigrid Graumann Die Rolle der Medien in der öffentlichen Debatte zur Biomedizin33 zwar auf ein weites Untersuchungsfeld, widmet sich dann aber ausschließlich Zeitungen und Zeitschriften, was nichtsdestoweniger als »Medienanalyse« (S. 212) deklariert wird. Ich übe keine Kritik an einer ausschließlichen Untersuchung der Berichterstattung in Presseerzeugnissen, schon gar nicht an ihren Untersuchungsergebnissen. Ich halte jedoch den zugrunde liegenden Medienbegriff mit seinem synekdochischen Gestus für problematisch. Die im Titel angekündigte »Rolle der Medien« (S. 212), die »Medienanalyse«, die »Medienwirklichkeit« (S. 214), die »mediale […] Problematisierung« (S. 227) ist synekdochisch verengt auf eben Massenmedien, die neben anderen Medien freilich auch Medien sind. Wenn der Autorin zufolge Pluralismus von Werten und Normen in den untersuchten Beiträgen zur Geltung kommt, dann ist nicht klar, wie dieser in der Medienkultur zu verorten ist:
»Der Pluralismus von Werten und Normen kommt in journalistischen Beiträgen dadurch zur Geltung, dass in der Regel Pro- und Kontra-Positionen, dem Anspruch einer ausgewogenen Darstellung von Problemen gemäß, gegenübergestellt werden« (S. 241) 34.
Roses und Schmied-Knittels Aufsatz35 wird vorgestellt, weil er den wichtigen Terminus »hybride Verschleifungen« (S. 97) konturiert, der direkt auf Bergmanns Arbeit bezogen werden kann. Letzterer arbeitet die Gleichzeitigkeit scheinbar konträrer Momente assistierter Reproduktion heraus. Die Thesen von Lotte Rose und Ina Schmied-Knittel sind in mehrerlei Hinsicht für meine Überlegungen wichtig. Die Autorinnen arbeiten das ambivalente Zusammenspiel und Auseinanderspiel von zwei geburtlichen Konzepten heraus, und zwar einerseits die noch nicht abgeschlossene Medikalisierung, Hospitalisierung und Technisierung des Geburtsgeschehens sowie andererseits eine De-Medikalisierung und Re-Naturalisierung seit den 70er Jahren (S. 75). »Re-Traditionalisierungen und Ent-Traditionalisierungen greifen auf eine paradoxe Weise ineinander« (S. 86). Entscheidungssituationen expandieren (S. 89–90), wobei daraus ein Verlust an traditionellen Sicherheiten resultiert. Rose und Schmied-Knittel zufolge stellt das Natürlichkeits- und Traditionsdispositiv eine Entlastung von Entscheidungszwängen für das Individuum dar (S. 90).
Sven Bergmanns Arbeit Ausweichrouten der Reproduktion. Biomedizinische Mobilität und die Praxis der Eizellspende kann im Kontext von »hybriden Verschleifungen«36 als bahnbrechend bezeichnet werden. In dieser jüngst erschienenen Monografie nimmt der Autor hochgradig facettenreich verschiedene (vor allem profan-trivial alltägliche37) Praktiken und Akteur_innen im topografischen Umfeld assistierter Reproduktion unter die Lupe. Im Hinblick auf die vorliegende Arbeit sind vor allem die herausgearbeiteten Naturalisierungsstrategien von Unkonventionellem, von Ausweichrouten (etwa beim Transfer einer fremden Keimzelle38) interessant (beispielsweise S. 50). In seiner Arbeit spürt Bergmann über den performativen Begriff der »Choreografie«39 antiessentialistisch und praxisorientiert transnationalen, mobilen Aushandlungsprozessen, ›Aufführungen‹40 nach, in denen De- und Renaturalisierungen zu beobachten sind. Entsprechend formuliert er:
»Mein Augenmerk liegt dabei auf den verwobenen Choreografien von Naturen, Kulturen, Kultivierung (nurture), Körpern, Geschlecht, Raum und Zeitlichkeit, Symboliken von Blut und Genen und dem Sozialen, die alle in diesem Feld versammelt sind und – manchmal in unerwarteter Weise – miteinander in Kontakt treten« (S. 230–231).
Diese Beobachtung allgemeinen Verwobenseins exemplifiziert er an verschiedensten Situationen im Umfeld von Reproduktionsmedizin. Er zeigt beispielsweise, dass im Kontext assistierter Reproduktion Strategien wie die klinische Inszenierung des Embryonentransfers als Beginn des ›Wunders der Schwangerschaft‹ oder die Betonung des leiblichen Erlebens von Schwangerschaft41 in den Reproduktionsprozess integriert werden (besonders S. 231–240, S. 264). Unkonventionelles wird also naturalisiert. Mit Blick auf Bergmanns oben zitierte allgemeine Aussage interessiere ich mich vor allem für die unerwartete, paradoxe (S. 272) oder widersprüchliche (S. 266) Verwobenheit (beispielsweise Rationalität und Mystik (S. 235)). In seiner Arbeit, die auch auf die Aktor-Netzwerk-Theorie rekurriert, erweist sich gerade die Fokussierung auf Gleichzeitigkeit (S. 229, S. 240, S. 266, S. 272), ein Wechselspiel (S. 266, zum Wechseln und Pendeln siehe S. 238), einen Zwischenraum (S. 228) sowie auf Doppelseitigkeit (S. 278) als äußerst fruchtbar. Bergmann macht deutlich, dass im Kontext der Reproduktionsmedizin simultan zweierlei unterschiedliche (insofern ist dies mindestens paradox und unerwartet) Phänomene, und zwar substanzielle und prozessuale, gekoppelt werden (S. 240). Bergmann präpariert in seinem Panorama gegenwärtiger Reproduktionschoreografien demnach die gleichzeitige Kopplung verschiedener Phänomene heraus. Daneben charakterisiert er die »Schwellensituation des Labors« als »Zwischenraum«:
»An allen bisher resümierten Dynamiken zeigt sich die Schwellensituation des Labors, in vielen Fällen auch als ein Zwischenraum, in dem sich die zukünftige Laufbahn von Keimzellen entscheidet. Die Praxis der Fürsorge für die Zellen operiert an einer flexiblen Schwelle von Naturen/Kulturen, an der De- und Renaturalisierungen gut choreografiert werden sollen« (S. 228).
Ich werde in Kapitel 4 auf die von Bergmann skizzierte ›Gleichzeitigkeit‹ von Natur/Kultur zurückgreifen. Auf der Grundlage eines erkenntnisleitenden Medienbegriffs und eines medienkulturwissenschaftlichen Ansatzes kann jedoch in einer metapraktischen Erweiterung dazu gezeigt werden, dass sich die ›hybriden Verschleifungen‹ aus Natur und Kultur/Technik ostentativ in unserer Medienkultur manifestieren.
Ich konzentriere mich demnach nicht wie von Wülfingen in ihrer Analyse ausschließlich auf Expertendiskurse42 (1995–2003), nicht wie Graumanns43 (1995–2001) und Diekämpers44 (1995 und 2010) Medienanalysen ausschließlich auf Zeitungen und Zeitschriften, nicht wie Kailer auf populäre Spielfilme45, sondern fokussiere gerade auch auf (bisher noch nicht in einer Untersuchung zusammengedachte) verschiedene und unorthodoxe medienkulturelle Aushandlungen.