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Kapitel 4 - Große Gefühle

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Oktober 1965

RICHARD


»Oh, da haben Sie sich aber viel vorgenommen«, hörte Richard eine weibliche Stimme sagen, als er den Bücherstapel vor sich auf dem Tisch abstellte.

Überrascht bemerkte er, dass gegenüber eine ihm bereits bekannte junge Dame Platz genommen hatte. Charlotte Heyworth – heute in einem cremefarbenen Hosenanzug mit breitem Gürtel, der ihre schlanke Figur ausgezeichnet zur Geltung brachte – lächelte ihn freundlich an, während ihre blinden Augen einen Punkt irgendwo rechts von ihm zu fixieren schienen. Er gestand sich selbst ein, dass er sich über ihren Anblick freute.

»Was führt Sie denn in diese Bibliothek?«, fragte er und wusste, dass er so verwirrt klang, wie er sich fühlte. »Studieren Sie Bücher in Blindenschrift? Und woher wussten Sie, dass ich es bin und wie viele Bücher ich vor mir hertrage?«

Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. »Dass Sie es sind, weiß ich, weil zwei geschwätzige Studentinnen, die jetzt nur ein paar Regale von uns entfernt miteinander kichern, vor wenigen Augenblicken Ihren Namen erwähnt haben. Dass es nicht gerade wenig Bücher sind, die Sie einsehen wollen, habe ich Ihrem angestrengten Stöhnen entnommen, Mister Blunt.«

Das Räuspern einer Bibliothekarin ließ Richard die Stimme senken, als er antwortete: »Sie sind entsetzlich clever, Miss Heyworth. Darf ich Charlotte zu Ihnen sagen?«

Sie nickte und erwiderte leise: »Sehr gerne, Richard. Übrigens verbringe ich sehr viel Zeit in der Bibliothek. Die Auswahl an Büchern in Blindenschrift ist erschreckend klein, doch zuweilen finde ich jemanden, der mir vorliest. Bist du ein guter Vorleser?«

»Nein, ich gehöre zu denen, die jeden Zuhörer innerhalb von Minuten vertrieben oder eingeschläfert haben«, gestand Richard. »Soll ich dir trotzdem erzählen, welche Bücher ich mir mitgebracht habe?«

Als sie ein weiteres Mal nickte, begann Richard die Buchtitel herunterzurattern, die ihm plötzlich viel weniger interessant als noch vor einigen Augenblicken erschienen. Es waren fast ausnahmslos archäologische Werke. Bücher, die sich mit Hieroglyphen und Höhlenmalerei auseinandersetzten. Richard hatte nämlich beschlossen, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Er würde am entferntesten Ende der Weltgeschichte beginnen, um festzustellen, ob diese seltsamen Zerberusse des Professor Ingress irgendwann schon einmal gesehen worden waren. Martin Holt, so hatten sie es vereinbart, würde die Geschichte in entgegengesetzter Richtung durchpflügen. Wie zwei Männer, die einen Tunnel durch einen Berg gruben, hofften sie, irgendwann, in irgendeiner Epoche, einander die Hand schütteln zu können. Perfekt wäre es, wenn sie dann auch irgendeine Erkenntnis vorzuweisen hätten.

»Es sind gar keine literarisch bedeutenden Werke in deiner Auswahl enthalten«, bemängelte Charlotte und krauste die Nase. Richard bemerkte, dass sie drei Sommersprossen auf dem rechten Nasenflügel hatte. »Könnte das, was wir alle suchen, nicht auch in einem Gedichtband oder einem Brief auftauchen?«

»Das könnte es sicherlich«, räumte Richard ein. »Aber irgendwo muss ich ja anfangen. Und mir kam die Idee, das Geschöpf unter alten Abbildungen zu suchen. Vielleicht werde ich ja fündig.«

»Setz dich neben mich«, bat Charlotte und klopfte auf die Sitzfläche des freien Stuhls neben sich. »Erzähl mir, was du auf den Abbildungen in den Bänden siehst. Lies mir vor, was du liest. Ich bin schon ganz gespannt auf deine Welt.«

Glücklich, nahezu aufgekratzt, wechselte er den Platz, zog den Bücherstapel nah heran, nahm das Oberste an sich und schlug es auf. Charlotte umfasste seinen Arm und lehnte sich an ihn. Sie schien auf die Buchseiten hinabzublicken.

»Kannst du wirklich gar nichts sehen?«, fragte Richard neugierig.

»Doch«, räumte sie ein. »Schatten und manchmal ein paar Lichtblitze. Aber das ist wenig hilfreich, wenn man ein Buch lesen möchte.«

»Und …« Richard zögerte etwas mit seiner nächsten Frage, weil er fürchtete missverstanden zu werden. »… was genau machst du, ich meine, was ist deine Aufgabe bei …«

»Unserem Projekt?«, half Charlotte ihm ganz unbefangen aus seiner Verlegenheit.

Er nickte.

»Hast du gerade genickt?«

Er nickte wieder.

Sie lachte. »Also, das musst du dir abgewöhnen, wenn du mit mir sprichst, ja? Nicht dass ich dein Nicken nicht bemerkt hätte, aber es ist schon einfacher, wenn du mit mir redest.«

Richard lachte ebenfalls und genoss den wunderbaren Moment. Ein Mädchen, ein wunderschönes und kluges Mädchen war ihm so nah, dass es sein Nicken fühlen konnte. Er hatte das sichere Gefühl, dass sein Leben gerade unter einem guten Stern stand, der ihn zu Ingress und zu Charlotte geführt hatte. Mochte Martin in seiner Selbstherrlichkeit auch manchmal etwas anstrengend sein, er hatte ihm auf den richtigen Weg verholfen.

»Ich gehöre zum Team der Verhaltensforscher«, beantwortete Charlotte ihm seine Frage, die er schon fast vergessen hatte. »Du denkst jetzt sicher, dass man dafür doch sehen können müsste, aber das Verhalten von Menschen und Tieren und auch diesen Kreaturen lässt sich nicht nur mit dem Auge erforschen. Viele meiner Kollegen verlassen sich sogar zu sehr auf das, was sie sehen.« Sie grinste spitzbübisch. »Ich nutze alle meine Sinne, ich rieche, taste, höre, schmecke. Ich bemerke vieles, was anderen entgeht. Deswegen bin ich nahezu unentbehrlich, das darfst du mir glauben.«

Richard glaubte ihr. Doch als ihm die volle Bedeutung ihrer Worte bewusst wurde, traf es ihn wie ein Keulenschlag. »Aber das heißt ja, dass du für deine Forschungen hinter das Glas gehen musst. Zu den Kreaturen auf die andere Seite.«

»Hast du Angst um mich, Richard?« Sie klang amüsiert. »Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass ich bisher nur betäubte Exemplare dieser Spezies genauer untersucht habe?«

»Betäubt?« Richard stellte sich vor, wie jemand mit einem Holzhammer hinter das Glas zu den Wesen schlich, eines von ihnen niederschlug und es aus dem Gang bis zu einem Untersuchungstisch schleppte.

»Sie stehlen unser Essen«, klärte Charlotte ihn auf. »Man muss es nur eine Weile unbeaufsichtigt herumstehen lassen und dann ist es irgendwann weg. Wir haben noch nicht herausbekommen, wie sie es anstellen, aber wir sind ja auch noch am Anfang. Wir selbst haben einige Zugänge, Türen, um genau zu sein, zu ihren Tunneln einbauen lassen. Eigentlich sollten diese immer verschlossen sein, damit die Wesen nicht zu uns auf die andere Seite kommen, aber das klappt wohl nicht besonders gut.« Sie seufzte. »Vielleicht haben die Schrate aber auch eine Möglichkeit gefunden, die verschlossenen Türen zu öffnen, irgendwie kommen sie jedenfalls an unser Essen. Erwischen wir einen außerhalb ihrer Gänge, versuchen wir, ihn mit einem Schuss aus einem Betäubungsgewehr schlafen zu schicken. Die Kreaturen reagieren sehr schnell auf einen Treffer und schlafen fast sofort ein.« Charlottes Stimme klang plötzlich sehr sachlich und gar nicht mehr amüsiert. »Wir haben Überwachungskameras angefordert, um herauszufinden, wie sie von ihren Gängen in unsere Räume gelangen. Wenn wir diese erst genehmigt bekommen und installiert haben, wird alles leichter. Dass man für Arbeitsmaterial immer eine Genehmigung braucht, ist lästig, aber nicht zu ändern. Schließlich gibt die Regierung eine Menge Geld für das Projekt aus.«

Zum ersten Mal fragte sich Richard, welches Interesse genau hinter den Bemühungen der Geldgeber steckte, dieses Projekt voranzutreiben. Und dann auch noch in aller Stille und klammheimlich. Was versprach man sich andernorts von seiner Arbeit? Um reine Neugier konnte es dabei nicht gehen, oder doch?

»Jedenfalls haben wir dank des Betäubungsgewehrs schon das ein oder andere Geschöpf genauer untersucht. Und bevor es aufwacht, bringen wir es durch eine Stahltür zurück in einen der Tunnel. Zum Dank lege ich dem Wesen immer etwas Essen dazu. Sie sind Allesfresser, wie mir scheint. Egal ob Fleisch oder Schokolade, sie nehmen alles dankbar an.« Jetzt klang sie wieder fröhlich.

Richard aber blieb nachdenklich. Die Schrate verschafften sich also Zutritt in die Labore, sei es durch Türen, die jemand vergessen hatte, abzuschließen, oder auf einem anderen geheimnisvollen Weg. Das war ein beunruhigender Gedanke. Er hatte irgendwie geglaubt, dass das Plexiglas eine wirksame Barriere zwischen ihm und den Wesen darstellte. Dabei erleichterte es tatsächlich nur die Beobachtung, ohne sie zu schützen.

»Was ist los mit dir, Richard?« Charlotte neben ihm richtete sich kerzengerade auf. »Ich kann spüren, dass du gerade wachsam geworden bist. Ist etwas nicht in Ordnung?«

Richard sagte es ihr. »Mir gefällt der Gedanke nicht, dass es diesen Wesen möglich ist, einfach so neben uns aufzutauchen. Dass sie kommen und gehen können, wie es ihnen gefällt.«

Charlotte lachte erleichtert auf. »Aber das wollen sie doch gar nicht. Wenn sie das wollten, dann hätten sie es längst getan. Nein, sie bleiben am liebsten in ihren Wänden und kommen nur daraus hervor, um sich Essen oder nützliche Gegenstände anzueignen.«

Nahrung und nützliche Dinge wie etwa einen Korkenzieher? War das wirklich alles, was diese Zerberusse wollten? Und was wollte die Regierung im Gegenzug von ihnen?

Richard strich nachdenklich über die aufgeschlagene Seite des Buches auf seinem Schoß. Wusste er genug über seine neue Arbeit, um sich ihr ganz hinzugeben? War das Misstrauen, das er Ingress und dem ganzen Projekt noch immer entgegenbrachte, unbegründet?

»Lies vor, Richard. Fang einfach irgendwo an.« Charlotte kuschelte sich an ihn, ließ die Slipper von den Füßen gleiten und zog die Beine an. Niemals hatte ein Stuhl in einer Bibliothek gemütlicher ausgesehen. Richard vergaß, worüber er gerade noch nachgedacht hatte, und genoss den Moment.

Er erzählte Charlotte von den Funden ägyptischer Ausgrabungsstätten, beschrieb ihr Bildnisse, Symbole und Hieroglyphen und bemerkte sehr schnell, dass er sich bei dieser Methode viel genauer und intensiver mit den Abbildungen auseinandersetzte, als er es sonst getan hätte.

Charlotte war eine gute Zuhörerin. Ganz still saß sie an seinen Arm gelehnt da und unterbrach ihn nie. Richard konnte ihre Wärme, ihren Atem auf der Haut seines Unterarms spüren. Und er wusste, dass er im Begriff war, sich in diese zarte Frau, die so viel sah, ohne sehen zu können, gerade verliebte.

»Entschuldigung«, hörte er da plötzlich eine Frauenstimme flüstern.

Richard hob den Kopf und erkannte, dass eine der Angestellten der Bibliothek an sie beide herangetreten war und einen Zettel in der Hand hielt.

»Gerade eben habe ich einen Anruf für Miss Heyworth erhalten. Von Mister Millar. Er klang etwas ungehalten und meinte, Sie sollten sofort zu ihm kommen.«

Charlotte richtete sich mit einem Seufzer auf und tastete mit ihren nackten Zehen nach ihren Slippern, um hineinzuschlüpfen. »Das ist Walter, mein Teamkollege. Der Kerl stöbert mich einfach überall auf.«

»Nur dein Kollege?«, fragte Richard und bemerkte zu spät, dass er eifersüchtig klang. Er biss sich auf die Lippen.

Doch Charlotte schien erfreut und amüsiert. Sie beugte sich vor, berührte mit ihren Lippen fast sein Gesicht und hauchte: »Ja. Nur ein Kollege.« Dann erhob sie sich. »Das kann nur bedeuten, dass sie ein neues schlafendes Forschungsobjekt für uns haben. Also mache ich mich auf den Weg zu Zugang Drei. Möchtest du mitkommen, Richard? Hast du ein Auto? Dann ginge es schneller.«

»Sehr gern.« Richard ließ die Bücher einfach auf dem Tisch vor sich liegen und erhob sich ebenfalls. »Ein Auto habe ich allerdings nicht. Wir müssen die U-Bahn nehmen. Ich kann dich hinführen, wenn du mir sagst, in welche Richtung wir eigentlich aufbrechen.«

»Bitte nicht führen.« Charlotte klang weinerlich. »Immer wenn jemand versucht, mich irgendwo hinzuführen, komme ich langsamer voran als ohne diese gut gemeinte Unterstützung.« Sie feixte. »Wir müssen nach Greenwich. Dort, im Zugang Drei, werde ich dich mit Walter Millar, einem aufstrebenden Radiologen, bekannt machen. Und du wirst schnell verstehen, warum er nur ein Kollege ist und auch bleiben wird. Er ist ein wenig zickig.«

September 2019


ADA

Ada nahm Maß, holte aus und sah zu, wie ihr Golfball hoch ins Blau des Septemberhimmels stieg, um punktgenau neben dem nächsten Loch zu landen. Sie lächelte.

»Es macht keinen Spaß, mit dir zu spielen, Ada.« Teddy klang frustriert und zog einen anderen Schläger aus seiner Golftasche, begutachtete ihn, steckte ihn zurück, um einen weiteren hervorzuholen. »Andere Kindermädchen lassen ihre Schützlinge beim Spielen gewinnen, wusstest du das?«

»Davon habe ich nie viel gehalten«, erwiderte Ada und hob eine Augenbraue. »Für Kinder unter fünf Jahren mag das ja noch angehen, aber du, mein lieber Teddy, hast jetzt fast die Vierzig erreicht, Valerie ist noch ein paar Jahre älter und sogar die liebe Jig könnte bald ihren Führerschein machen. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich einen von euch noch in Watte packen werde, oder?«

»Watte?« Jetzt war es Teddy, der eine Augenbraue hob. »Ich spreche von Gnade, Ada. Es wäre nett, wenn du mir wenigstens den Hauch einer Chance lassen würdest.«

»Hattest du doch«, behauptete Ada. »Vorhin beim siebten Loch sah es ganz gut für dich aus.«

Teddy grummelte etwas, wählte einen Schläger ohne genaue Begutachtung und schlug einen Ball grob in die richtige Richtung.

Ada kommentierte den Schlag nicht. Stattdessen ließ sie den Blick über das Grün wandern. In Dukes Meadows war der 9-Loch Kurzpark rund um einen See angelegt worden. Überall bildeten Bäume und Büsche kleine Inseln, die dem Gelände das Bild eines gepflegten Parks gaben. Obwohl die Sonne langsam tiefer sank, war dieser Ort belebt.

Ada konnte das Geschrei glücklicher Kinder vom nahen Spielplatz hören. Dort versuchte Jig Kontakte mit jungen Müttern zu knüpfen, um in Erfahrung zu bringen, ob es noch weitere bemerkenswerte Vorkommnisse in Dukes Meadows gegeben hatte. Valerie hielt sich derweil im Clubhaus auf und tat dasselbe.

Sie hatten sich aufgeteilt, um möglichst schnell viel über die Örtlichkeit in Erfahrung zu bringen. Teddy und sie hatten während des Spiels das Gelände erkundet, aber keinerlei Auffälligkeiten bemerkt. Ada hatte auch nicht wirklich erwartet, plötzlich im Grün eines Buchsbaums zwei spitze Schratohren zu erblicken, so einfach machten es die Kerle einem meist nicht. Aber irgendein Hinweis, dass sie auf der richtigen Spur waren, wäre nett gewesen.

Ada seufzte. »Teddy, lass uns zu Valerie gehen. Ich könnte jetzt ein großes Glas eisgekühlte Limonade vertragen, und du brauchst vermutlich einen Drink zum Trost.«

»Klingt verlockend«, stimmte Teddy zu. »Ich liege sowieso uneinholbar weit hinten.«

»Niemand will den, der hinten liegt, einholen, Teddy. Rede keinen Blödsinn.«

Teddy brummte etwas Unverständliches und lief voran.

Ada folgte ihm in gemäßigtem Tempo. Die Tage, an denen sie spürte, dass sie älter wurde, häuften sich. Aber was machte es schon, nicht die Erste an der Bar zu sein, solange man während des Spiels immer noch vorn lag?

Vor dem Clubhaus, unter einem farbenfrohen Sonnenschirm, saß auf einer Holzbank Jig und war ins Gespräch mit einem Mann vertieft. Ada runzelte die Stirn. Wurde sie senil oder war das nicht anders verabredet gewesen? Warum behielt Jig nicht den Spielplatz, die Kinder und ihre Mütter im Auge?

Beim Näherkommen bemerkte Ada, dass Jigs Gesprächspartner das Rentenalter schon eine ganze Weile genoss. Sie schätzte ihn auf Mitte siebzig, vielleicht auch älter.

»Wo ist Valerie?«, hörte Ada Teddy rufen, während er gleichzeitig dem alten Mann die Hand schüttelte.

»Wir haben die Plätze getauscht«, gestand Jig und sah ein wenig zerknirscht aus. »Ich habe mich auf dem Spielplatz nicht so recht wohlgefühlt. Hier ist es angenehmer.«

Ada gab ein leises Schnauben von sich. Dieses Mädchen kannte nur einen Ratgeber und das war ihre allgegenwärtige Angst. Vermutlich hatte sie sich irgendetwas eingebildet oder war vor ihrem eigenen Schatten aus der Sonne bis hierher unter den Schirm geflohen.

Na egal. Valerie konnte sich ebenso gut mit Müttern und ihren Kindern unterhalten wie mit Golfern beim Drink. Und wenn Jig sich hier wohler fühlte, dann war es vielleicht ganz gut so. Hoffentlich hatte sie was Interessantes erfahren.

»Walter besucht schon seit über vierzig Jahren diesen Park«, verkündete Jig in diesem Moment stolz. »Er kennt Dukes Meadows wie seine Westentasche.«

Das alte Männchen erhob sich mühsam von seinem Sitzplatz, als Ada sich ihm näherte, und hielt ihr seine fleckige Rechte entgegen. Mit der Linken zog er sich die Golfkappe vom Kopf, und darunter kam eine nicht weniger von Altersflecken gesprenkelte Halbglatze zum Vorschein.

»Millar ist mein Name. Walter Millar. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Noch während Ada die Hand des Alten schüttelte, kehrte Teddy von einem Ausflug an die Bar zurück, ein Tablett mit Erfrischungen vor sich her tragend. Für Ada stellte er eine Limonade auf den Tisch, für alle anderen bis zum Rand gefüllte Biergläser. Jig verzog kurz das Gesicht und ließ ihr Glas unberührt stehen.

»Sie sind hier also so gut wie zu Hause, Mister Millar«, bemerkte Ada und ließ sich mit einem Ächzen auf einem der Holzstühle nieder. Er war zu schmal. Die Lehnen drückten ihr in die Seiten.

»Fast mein ganzes Leben habe ich in Chiswick gelebt. Ich wohne hier ganz in der Nähe in einem hübschen Bungalow. Etwas altmodisch vielleicht, aber gemütlich. Ich habe das Haus gewissermaßen geerbt.«

»Wie kann man etwas gewissermaßen erben?«, wollte Ada wissen.

»Nun ja …« Walter Millar schien nach Worten zu suchen. »Ein Freund hat es mir überlassen, wenn man so will. Er wollte, dass sich jemand um das Gebäude kümmert, es instand hält und vor dem Verfall bewahrt.«

»Aha.« Ada nippte an ihrer Limonade und genoss die Kühle auf ihren Lippen und den erfrischenden Geschmack der Zitrone. »Und Sie leben dort allein?«

»Gewissermaßen, ja.« Der Alte lächelte und wechselte dann abrupt das Thema.

Ada fragte sich, wie man gewissermaßen allein leben konnte, schwieg aber.

Mit seinem knorrigen Zeigefinger auf Jig deutend, fuhr der Mann fort: »Ihre junge Freundin hier hat mir verraten, dass Sie Dukes Meadows heute aus Neugier einen Besuch abstatten. Wegen der seltsamen Zeitungsartikel, die in den letzten Tagen über diesen Ort zu lesen waren.«

Adas Finger krümmten sich, ihre Lippen pressten sich fest aufeinander. Sie warf ihrem Schützling einen strafenden Blick zu, woraufhin Jig schuldbewusst den Kopf einzog.

Walter Millar aber gab ein heiseres Lachen von sich. »Ich vermute mal, dass es viele Neugierige in den kommenden Tagen hierhertreiben wird. Schwarze Hunde, die aufrecht gehen. Ja, das klingt schon recht abenteuerlich.«

»Sie glauben nicht, dass da etwas Wahres dran sein könnte?«, wollte Ada wissen und versuchte, möglichst unbedarft zu erscheinen. Wenn Jig schon einen so plumpen Weg für ihre Nachforschungen gewählt hatte wie die Wahrheit, dann musste sie die Rolle der Schaulustigen nun auch weiterspielen.

»Da ist ganz gewiss was dran, meine Liebe.« Der Alte lachte. »Hier in der Gegend gab es mal einen verrückten Gastwirt. Der hielt sich Kängurus und verkaufte das Fleisch in seinem Restaurant als Spezialität. Dann ging der Laden pleite, der Typ verließ das Land und ließ seine Kängurus zurück. Was die Lady für einen Hund auf zwei Beinen gehalten hat, war vermutlich ein damals ausgebrochenes Känguru. Wussten Sie eigentlich, dass in England schon seit 1900 Populationen wild lebender Kängurus bekannt sind? Ist schon unglaublich, was die Leute alles so ins Land schleppen. Tee war eine gute Idee, indisches Essen war eine gute Idee, aber lebende Kängurus? Das hätte es nicht gebraucht.«

»Ein schwarzes Känguru?«, hakte Ada nach und trank einen großen Schluck Limonade. »Meines Wissens handelt es sich bei den wild lebenden Kängurus in unserem Land zumeist um Rotnackenwallabys. Die sind, wie ihr Name verrät, eher rötlich gefärbt.«

»Tja, es wurde schon etwas dunkel, da kann man sich leicht mal irren. Auch in der Farbe.« Walter Millar erhob sich und trank sein Pint in einem Zug aus. »Ich muss jetzt aber wirklich los. Vielen Dank für das Bier. Vielleicht sieht man sich mal wieder. Dukes Meadows ist auch ohne aufrecht laufende Hunde ein hübscher Ort.« Er lachte und wackelte auf seinen dürren Beinen davon.

Ada sah ihm hinterher. Dann sagte sie: »Geh ihm nach, Teddy. Ich will alles über diesen Mister Millar wissen, der gerade versucht hat, mir einen Schrat als Känguru zu verkaufen. Vielleicht ist das eine heiße Spur.«

Teddy erhob sich folgsam und schlenderte gemütlich davon. Gerade als Ada sich Jig vornehmen wollte, um ihr den Kopf zu waschen, weil ihr nichts Besseres eingefallen war, um den Alten zum Reden zu bringen, erschien Valerie an ihrem Tisch. Sie wirkte verschwitzt und zerzaust. Ada nahm an, dass heute nicht nur Kinder auf der großen Rutsche abwärts gesaust waren.

»Dukes Meadows ist ein großartiger Ort. Wenn alles vorbei ist, werde ich mit Paul einmal hierherkommen.«

»Wenn alles vorbei ist?« Ada blinzelte. Valerie stand direkt vor der sinkenden Sonne.

»Wenn es hier keine seltsamen Hunde und keinen seltsamen Herrn mit Schlapphut mehr gibt«, antwortete Valerie und setzte sich. »Die Mütter auf dem Spielplatz haben mir erzählt, dass sie Hunde, die der Fantasie einiger überreizter Zeitgenossen entsprungen sind, viel weniger fürchten als den eigenartigen Mann mit Schlapphut und schwarzem Mantel, der seit einiger Zeit hier herumstreicht. Immer allein, immer unterwegs. Er spielt kein Golf, spricht mit niemandem und taucht manchmal ganz überraschend aus einer der Baumgruppen auf.«

Ada biss sich auf die Lippen und stellte das Limonadenglas ab. Offensichtlich waren sie und ihr kleines Team nicht die Einzigen, die hier in Dukes Meadows nach etwas suchten.

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte

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