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Kapitel 3 - Hinter Glas

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Oktober 1965

RICHARD


»Das ist das seltsamste Studierzimmer, in dem ich je gesessen habe«, gab Richard zu.

»Das glaube ich Ihnen gern. Ich versichere Ihnen, dass dies alles hier einem bestimmten Zweck dient, den Sie noch begreifen werden, Mister Blunt«, hörte er Ingress sagen.

Das konnte Richard nur hoffen. Er saß jetzt seit zwei Minuten in einem sehr bequemen Sessel und hatte vor sich einen runden Tisch stehen. Das war alles, was er über diesen Raum wusste, denn in ihm herrschte eine undurchdringliche Dunkelheit.

Wenn er seinen Ohren trauen durfte, so saß Professor Ingress ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches, gar nicht weit entfernt. Doch sehen konnte er den seltsamen Mann nicht.

»Herr Professor, darf ich einige Fragen stellen?«, bemerkte Richard in die Dunkelheit hinein.

»Ich hoffe, dass Sie das tun werden«, war die Antwort. »Ich wäre enttäuscht, wenn Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht eine ganze Menge unter den Nägeln brennen würde. Nach den Fragen suche ich meine Mitarbeiter aus.«

»Was genau erforschen Sie hier im Zugang Zwei?«

»Das zu erklären, wäre mühsam und wenig glaubwürdig«, erwiderte der Professor. »Aber mit etwas Glück kann ich Ihnen unser Forschungsobjekt vorführen. Das ist sehr viel eindrucksvoller und überzeugender, als es Worte zumeist sind. Die Dunkelheit ist dabei von Vorteil. Dann können wir es besser kommen sehen.«

In diesem Moment fiel ein Streifen Licht auf das Gesicht des Professors und spiegelte sich auf der leeren Tischplatte zwischen ihnen. Die Tür hatte sich geöffnet und eine schlanke Gestalt, eine junge Frau mit Bubikopf, die ein Tablett mit Teetassen trug, schlüpfte herein. Einen Augenblick später fiel die Tür wieder ins Schloss und es wurde erneut dunkel um Richard.

»Ah, da ist ja Miss Heyworth mit dem Tee. Ich hoffe, Sie haben Zeit, sich einen Moment zu uns zu setzen, meine Liebe. Mister Blunt hier hat eine Menge Fragen.«

»Aber sicher, Herr Professor«, antwortete eine jugendliche Stimme heiter und Richard vernahm, wie das Tablett auf der Tischplatte abgestellt wurde.

Kurz darauf klapperte etwas direkt vor ihm.

»Ihre Tasse steht vor Ihnen, Mister Blunt«, fuhr die Mädchenstimme fröhlich fort. »Die Milch befindet sich auf elf Uhr, falls Sie Zitrone bevorzugen, suchen Sie auf zwei Uhr. Würfelzucker liegt neben dem Löffel.«

Im ersten Moment glaubte Richard an einen albernen Scherz, doch als er den Professor schlürfen hörte und fühlte, dass die junge Frau dicht neben ihm Platz genommen hatte, begriff er, dass man wirklich von ihm erwartete, seinen Tee in völliger Dunkelheit zu trinken.

Und als ob der Mann in der Dunkelheit seine Gedanken erraten hätte, sagte er: »Charlotte ist blind. Ihr ist egal, wie dunkel oder hell ihre Umgebung ist.«

Richard ging davon aus, dass Charlotte der Vorname dieser Miss Heyworth war, und fragte sich, was die Tatsache, dass es ihr egal sein konnte, ob es hell oder dunkel war, damit zu tun hatte, dass er sich vermutlich gleich bekleckern würde.

Da bemerkte er einen gelblichen Lichtschimmer, der sich nach und nach verstärkte. Er schien aus einem sehr großen Spiegel an der Wand zu ihnen heraus in den Raum zu leuchten. Und es dauerte eine Weile, bis Richard begriff, dass es sich keineswegs um einen Spiegel handelte, sondern ein weiteres Mal um eine Plexiglasscheibe, die eine der Wände in diesem Studierzimmer komplett einnahm. Dahinter hatte man gegraben oder gehackt und war interessanterweise nicht in einem der Nachbarzimmer oder im Freien gelandet, sondern in braunem Erdreich, durch das ein sehr großer Tunnel führte. Das gelbliche Licht schien in diesem Tunnel und wurde immer heller.

»Erforschen Sie etwa gewaltige Wühlmäuse?«, fragte Richard und bemerkte, dass er jetzt sowohl das bärtige Gesicht des Professors als auch das der sehr hübschen und amüsiert lächelnden Charlotte Heyworth erkennen konnte.

»Wenn Sie sie als Wühlmäuse bezeichnen möchten, nur zu. Allerdings sind wir uns noch nicht ganz sicher, wie wir sie nennen wollen oder ob sie schon einmal benannt worden sind.«

»Wer ›sie‹?«, bohrte Richard nach, doch da wurde seine Aufmerksamkeit erneut auf die Plexiglaswand gelenkt oder vielmehr auf die beiden Wesen, die jetzt den dahinterliegenden Tunnel betreten hatten.

»Ach du Scheiße!« Kein anderes Wort hätte es nach Richards Meinung besser getroffen.

»Willkommen beim Forschungsprojekt Zerberus, Mister Blunt. Ist dies hier für Sie interessant genug, um sich uns anzuschließen?« Professor Ingress klang spöttisch.

Das blinde Mädchen neben ihm kicherte, doch Richard war unfähig, eine geistreiche Bemerkung zu machen, war nicht in der Lage, überhaupt etwas zu erwidern. Mit großen Augen und offenem Mund starrte er auf die echsenartigen Wesen, mannshoch und lackschwarz von Kopf bis Fuß. In ihren breiten Schädeln, die wegen ihrer spitzen Ohren dem Kopf eines Hundes nicht unähnlich waren, leuchteten gelbe Augen. In der Hand hielt das erste fremde Wesen zu Richards Erstaunen einen Korkenzieher.

»Sind Ihnen die Fragen ausgegangen, Mister Blunt? Oder dürfen wir Sie Richard nennen? Jetzt, wo Sie schon fast einer von uns sind?«

»Sind sie …« Richard fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »… sind sie von dieser Welt?«

»Wir wissen nicht, woher sie stammen oder seit wann sie hier sind.« Die Antwort kam von der blinden Charlotte. »Biologen, Chemiker, Mediziner und Verhaltensforscher arbeiten seit drei Monaten daran, so viel wie möglich über diese neue Spezies in Erfahrung zu bringen.«

»Seit drei Monaten?« Richard konnte seinen Blick noch immer nicht von den beiden Kreaturen abwenden. »Wo haben Sie diese Wesen denn gefunden? Im Himalaya oder auf einer Vulkaninsel?«

Der Professor klang amüsiert. »Hier in London. Vor drei Monaten sollte im Londoner Stadtteil Hackney ein Haus abgerissen werden. In dessen Überresten stießen die Arbeiter auf Anzeichen eines Gangsystems zwischen den Wänden und Böden. Einige der Zwischenräume erweckten den Eindruck, völlig irreale Ausmaße zu haben. Weil ihnen das alles seltsam vorkam, verständigten sie ihren Vorgesetzten. Der rief die Bauaufsichtsbehörde, die wiederum das Veterinäramt und dann wurde schließlich ich hinzugezogen. Gerade noch rechtzeitig, um diesen Fund so schnell wie möglich unter den Teppich zu kehren.«

»Warum waren Sie der Meinung, dass das nötig sein könnte?« Richard beobachtete fasziniert, wie das erste Wesen mit dem Korkenzieher jetzt zu ihnen ins Zimmer zu starren schien. Konnten sie etwa auch von ihm gesehen werden?

»Keine Angst.« Miss Heyworth tastete nach seiner Hand. »Man sieht uns nicht. Diese Scheibe ist nur von einer Seite durchsichtig.«

Richard war beeindruckt von ihren empathischen Fähigkeiten. Wie sonst hätte sie wissen sollen, was er gerade gedacht hatte? Er warf ihr einen längeren Blick zu und erkannte im Licht der gelben Augen das Lächeln, das ihre Lippen umspielte.

»Nein, ich kann Ihre Gedanken nicht lesen. Ich habe lediglich ein Gespür für die Stimmungen meiner Mitmenschen entwickelt.« Sie lächelte noch immer. »Ich sehe nicht, aber ich rieche, höre und fühle. Das reicht manchmal aus, um zu wissen, was in einem Menschen vor sich geht.«

»Um auf Ihre Frage zurückzukommen«, mischte sich Professor Ingress ein, lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem Bauch. »Mir war gleich klar, dass dieses System aus Tunneln von einer Spezies angelegt worden sein musste, die entweder noch nie oder sehr lange nicht mehr gesehen worden war. Und da ich zu diesem Zeitpunkt das Potenzial dieser Entdeckung nicht einschätzen konnte, holte ich mir so schnell wie möglich einflussreiche und zahlungskräftige Unterstützung. Kein Reporter wagt es, über das Projekt Zerberus zu berichten. Und mir stehen nahezu unbegrenzte Mittel zur Verfügung, um herauszufinden, von welchem Nutzen diese dunklen Gestalten für uns sein können.«

»Die Regierung steht hinter Ihrer Arbeit?« Eigentlich war es nicht wirklich eine Frage, Richard hatte lediglich geschlussfolgert, und so kam das Nicken des Professors nicht überraschend.

»Das Abrisshaus, Zugang Eins, wie wir es auch gern nennen, wurde abgesperrt und ich begann meine Arbeit mit einigen meiner treuesten und fähigsten Studenten. Bald schon stießen wir in den noch begehbaren Gängen des Hauses auf einen dieser schwarzen Kerle, dann auf zehn, zwanzig, es wurden immer mehr. Und mit ihnen wuchs der Stab meiner Mitarbeiter.«

Die Wesen vor ihnen in der Wand setzten jetzt ihren Weg fort und verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Das Licht ihrer Augen nahmen sie mit. Doch bevor das Studierzimmer des Professors wieder in völliger Dunkelheit versinken konnte, hatte sich dieser erhoben und das Deckenlicht eingeschaltet. Richard blinzelte einige Male und stellte jetzt überrascht fest, dass die zarte Erscheinung mit dem aschblonden Bubikopf neben ihm eine richtige Schönheit war. Zumindest entsprach sie voll und ganz seinem Typ.

»Und Ihr Team besteht ausschließlich aus Studenten, die sich nach und nach selbst rekrutieren? Warum?«, fragte Richard den Professor und riss sich vom Anblick der schlanken Frau im Minikleid los.

»Intelligente Menschen«, erwiderte der Professor. »Jung, voller Energie und von unstillbarem Wissensdurst. Das ist die Art Mitarbeiter, die ich gern um mich habe. Keine besserwisserischen Tattergreise.«

Aha, dachte Richard. Der Mann ist gern der Kapitän auf seinem Schiff und duldet keine anderen Götter und Meinungen neben sich und seiner eigenen. Nun, das schien nicht besonders ungewöhnlich. Professor Ingress wirkte sowieso sehr von sich eingenommen.

»Wir arbeiten fast alle in kleinen Teams.« Charlotte Heyworth klang so heiter, als wäre nicht gerade eben erst etwas Ungeheuerliches passiert. »An insgesamt vier verschiedenen Standorten. Zugang Eins, Drei und Vier liegen in anderen Stadtteilen.«

Ingress ergänzte: »Ich wollte kein Risiko eingehen und habe die Sippe, die wir in der Ruine des Zugangs Eins aufgestöbert hatten, aufgeteilt. Wir betäubten die Kreaturen mithilfe von Ködern und setzten sie in leer stehenden Wohnhäusern wie diesem hier wieder aus. Nachdem sie zur Besinnung gekommen waren, dauerte es nur Stunden und wir fanden in den Räumen keine Spur mehr von ihnen. Sie sind in die Wände eingezogen, wo sie jetzt fleißig an ihren Tunneln bauen. Ameisen könnten nicht effektiver arbeiten als diese Wesen.«

»Wo werde ich arbeiten? Woraus besteht meine Aufgabe?«, wollte Richard wissen.

Das Grinsen von Miss Heyworth wurde wieder breit und auch der Professor schien äußerst zufrieden zu sein. Richard begriff, dass er soeben mündlich seinen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte und vermutlich die Klausel, die ihn zur Geheimhaltung verpflichtete, gleich mit.

»Wir arbeiten alle sehr eng zusammen, auch wenn wir es an verschiedenen Plätzen Londons tun«, erwiderte sie. »Martin ist als Historiker der Geschichte dieser Wesen auf der Spur. Er geht Hinweisen nach, versucht zu erfahren, ob diese Spezies nicht doch schon einmal in irgendeiner Form entdeckt und untersucht wurde. Martin bewegt sich zwischen allen vier Standorten und den Bibliotheken hin und her. Ihr Kollege wird froh sein, wenn er diesen Teil der Aufgabe nicht mehr allein stemmen muss.«

Charlotte Heyworth erhob sich und hielt dem Professor, der noch immer neben dem Lichtschalter stand, die Hand hin. »Ich gehe wieder an die Arbeit.«

Der Professor ergriff die Hand der Blinden. »Dann nehmen Sie unseren neuen Freund hier, Richard war der Vorname, gleich mit und zeigen Sie ihm alles, was er sehen will.«

Richard spürte noch immer die Aufregung in sich, die er beim Anblick der Kreaturen empfunden hatte, doch jetzt war noch ein weiteres Gefühl dazugekommen. Freude. Freude darüber, Teil einer großen Sache zu sein. Freude darüber, eine echte Aufgabe zu haben. Er würde Essen und Miete zahlen können und er würde diese zarte Frau immer wieder treffen dürfen.

September 2019


VALERIE

Sie war noch immer außer sich. Wie konnte ihr Haus mit allem, was darin gewesen war, mitsamt der Schrat-Kolonie und Sebastian, einfach verschwinden? Wer hatte das getan und warum? Und was konnte sie tun, um Sebastian, an dessen Tod sie sich weigerte zu glauben, wiederzufinden?

Teddy und Ada, die nach Dereks recht abruptem Abgang gespürt hatten, in welch schlechter Verfassung sie sich befand, hatten mit ihr noch lange den Garten und die Betonplatte inspiziert, waren aber in Ermangelung neuer Erkenntnisse schließlich auf die Idee verfallen, ein Café aufzusuchen.

Und nun waren sie hier in diesem verhältnismäßig gemütlichen Ort eingekehrt, für dessen schmucke Aufmachung sie jetzt so gar keinen Blick hatte. Ada und Jig saßen Valerie gegenüber, beide ein großes Stück Sahnetorte vor sich, während sie selbst sich an ihre Tasse Cappuccino klammerte und keinen Appetit verspürte.

»Alles weg«, murmelte sie und rührte im Schaum herum.

»Weg oder nur woanders?« Ada sah von ihrem Tortenstück auf. »Das gilt es herauszufinden.«

»Woanders? Ja, wie soll denn irgendjemand mein Haus fortgeschafft haben? Hat er es auf einen Hänger geladen? Eine Rakete untergeschnallt? Oder einfach tiefergelegt, also im Erdreich versenkt? Und wie sollen wir denn überhaupt vorgehen? Hilft uns Sahnetorte wirklich weiter?« Valerie wusste, dass sie ungehalten klang, was ihren Freunden gegenüber unfair war, doch die Worte purzelten fortwährend aus ihrem Mund und sie konnte sie nicht stoppen. »Wo sollen wir suchen? Wie viel Zeit bleibt uns überhaupt, um Sebastian zu retten?«

»Um die Frage nach dem ›Wo‹ kümmert sich gerade schon der gute Teddy, und auf die letzte gibt es eine erschreckend einfache Antwort.« Ada legte die Kuchengabel beiseite. »Entweder Sebastian befindet sich in Sicherheit, dann haben wir alle Zeit der Welt. Oder er ist bereits tot. Dann haben wir auch alle Zeit der Welt. Dazwischen gibt es nichts. Möchtest du nicht doch ein Stück Kuchen? Zucker beruhigt die Nerven, meine zumindest.«

Valerie gab ein Stöhnen von sich und sah durch die große Fensterscheibe des Cafés hinaus auf die Straße. »Und wo steckt Teddy jetzt? Lässt uns hier sitzen und verschwindet wortlos und ohne Erklärung.«

Nun war es Ada, die zunehmend ungehalten wurde. Valerie beobachtete, wie das alte Kindermädchen das graue, kinnlange Haar zurückstrich und an seinem etwas zu engen Strickkleid zupfte. Unter dem Stoff zeichnete sich die Strafe für zu viel Naschwerk in Form kleiner Speckrollen ab.

»Er brauchte uns nichts zu erklären, weil ich weiß, was er gerade tut. Und Jig weiß es auch, nicht wahr, Jig? Was habe ich dir beigebracht? Was macht man als Allererstes, wenn man nicht weiß, was vor sich geht, und dringend Informationen benötigt?«

»Man kauft alle Tageszeitungen, die man ergattern kann, auch die der vergangenen Tage«, leierte Jig ihre Lektion herunter. »Das Internet ist stattdessen nur begrenzt sinnvoll, denn wenn man nicht weiß, wonach man überhaupt sucht, hilft einem keine Suchmaschine. Zeitungen schlagen einem die Informationen ungefragt um die Ohren, das Internet beantwortet Fragen. Wer nicht weiß, wie die Fragen lauten, braucht kein WLAN, sondern einen Kiosk.«

Ada sah befriedigt auf Jig, die ihr Tortenstück seziert und in lauter kleine Häufchen portioniert hatte.

Valerie konnte sich nicht helfen, dieser Teenager war irgendwie seltsam. Vielleicht war sie selbst mit Mitte vierzig auch einfach zu alt, um das Mädchen zu verstehen. Vielleicht würde sie ihren Sohn Paul in ein paar Jahren auch nicht mehr verstehen. Vielleicht war sie auch nur zu blöd für die Welt, das hielt sie durchaus für möglich.

Im Gegensatz zu Ada und Teddy wusste Valerie nur wenig über die Dinge, die sich zwischen Wänden, unter Böden und in verschlossenen Kleiderschränken taten. Ihre Welt war bis vor Kurzem noch völlig normal gewesen. Doch dann war Ada in ihr Leben zurückgekehrt und mit ihr Schwarze Schrate, andere seltsame Kreaturen und der von Schraten abhängige Sebastian. Wenn sie also nicht zu blöd für diese Welt sein sollte, dann war sie doch zumindest gnadenlos überfordert.

»Wer will die Daily Mail?« Teddy war hereingekommen, den Arm voller Zeitungen, die er jetzt mit Schwung auf den Tisch warf, wobei der Observer mit der Schlagzeile voran in Jigs Sahnehäufchen stürzte.

»Mir gibst du bitte die Sun«, rief Ada und schaufelte schon wieder Kalorien in sich hinein. »Die bringen so gern halb gares Zeug, da wird man oft fündig.«

»Ich nehme den Observer, der will ohnehin zu mir, wie mir scheint.« Jig sah missbilligend auf die Sahneflecken, die jetzt das Gesicht der Queen garnierten.

Valerie starrte auf den Stoß Zeitungen und konnte sich nicht entscheiden. »Ich habe doch gar keine Ahnung, wonach ich suchen soll.«

Ada verdrehte die Augen. »Hast du Jig etwa nicht zugehört? Niemand von uns weiß das. Mach deine Augen auf, Mädchen. Wenn du es vor dir siehst, dann erkennst du, dass du es gefunden hast.«

Widerstrebend nahm Valerie den Daily Mirror an sich und begann lustlos darin herumzublättern. Ihr war mehr danach, die Suche zu Fuß zu beginnen. Doch die Stadt war groß und ihr Haus bestimmt nicht einfach weggelaufen. Es ergab keinen Sinn, durch die Straßen zu eilen. Da konnte sie auch genauso gut völlig sinnlose Artikel überfliegen. Kaum anzunehmen, dass der Mirror etwas Besseres zu bieten hatte.

Ein Blick auf die ersten Seiten bestätigte ihre Vermutung: nichts außer Politik, Klatsch, Klatsch und nochmals Kl… Valerie hielt inne.

Aufmerksam las sie zunächst noch einmal die Überschrift, die ihr Interesse geweckt hatte, dann den ganzen Artikel. Nachdem sie ihn sicherheitshalber ein zweites Mal gelesen hatte, suchte sie nach dem Datum. Der Mirror war vom heutigen Tag.

»Hast du etwas gefunden?« Ada hatte ihre Zeitung sinken lassen und beobachtete sie stattdessen über den Tisch hinweg. Auch Teddy und Jig hoben die Köpfe und sahen sie aufmerksam an.

Zögernd begann Valerie, den Artikel am unteren Rand der vierten Seite laut vorzulesen. »Aufrecht laufender Hund stört Golfturnier.«

Jig gab ein unterdrücktes Prusten von sich, was ihr einen sachten Ellenbogenstoß von Ada einbrachte.

»Lies weiter, meine Liebe. Das klingt sehr interessant.« Ada nickte ihr aufmunternd zu.

Valerie holte tief Luft und fuhr fort: »Wie soeben bekannt wurde, hat ein aufrecht laufender schwarzer Hund das jährliche Hausturnier der Pink Lady Putters …«

Jig lachte los. Nach einem kurzen Augenblick ging ihr Heiterkeitsausbruch in verhaltenes Schnaufen über. »’tschuldigung, aber diese Leute der Golfer-Vereinigung sehe ich gerade sehr lebhaft vor mir, wie sie in ihren rosa karierten Knickerbockern, mit Spitzenschleifchen an den Schlägern, über das Grün flanieren …«

Jetzt war es Valerie, die die Augen rollte und dann einfach fortfuhr. »… empfindlich gestört. Das Turnier, das bis in die frühen Abendstunden andauerte, musste schließlich vorzeitig abgebrochen werden. Aus unbekannten Gründen schien das skurrile Tier auf dem Gelände des Golfclubs Jagd auf Bälle zu machen.«

»Ein schwarzer, aufrecht gehender Hund?« Teddy hob beide Daumen. »Das nenne ich mal vielversprechend.«

Valerie nickte. »Wann immer Golfbälle das Grün verließen und im angrenzenden Wald oder Gestrüpp landeten, waren sie sofort unauffindbar. Schließlich bemerkte die Vereinsvorsitzende, Lady Knotworth, einen auf den Hinterläufen rennenden Hund, der sich mit ihrem Ball in der Klaue davonmachen wollte, nachdem sie ihn ins Unterholz geschlagen hatte. Lady Knotworth beschwört, dass die Augen des Hundes geglüht hätten. Gibt es Höllenhunde in Chiswick?« Sie ließ die Zeitung sinken und sah Ada an.

Diese runzelte die Stirn. »Es steht wohl außer Frage, dass diese Lady Knotworth tatsächlich einem Schrat begegnet ist. Aber in Chiswick? Das liegt von hier aus nicht gerade um die Ecke. Möglicherweise handelt es sich sehr wohl um Schwarze Schrate, aber eben nicht um deine Schrate, Valerie.«

Die verzog das Gesicht. »Ich möchte nicht, dass du sie als meine Schrate bezeichnest.« Doch dann riss sie die Augen auf. »Heißt das etwa, dass es noch mehr Schrate in London geben könnte? Schrate, die in den Wänden ahnungsloser Bürger hausen?«

Teddy und Ada nickten beide, während Jig die Arme um sich schlang, als ob sie fröstelte.

Dann hob Teddy mahnend einen Zeigefinger. »Seltsam ist aber, dass dieser Schrat sich im Freien aufgehalten hat und sich sogar beim Klauen erwischen ließ.« Er benutzte den Finger, um sich nachdenklich die Nasenspitze zu kratzen, und fuhr fort: »Zwar räumen Schrate zwanghaft alles auf, was sie als herrenlos erachten, aber sie bleiben für gewöhnlich in ihren Tunneln und Gängen. Was hat den hier hinausgetrieben?«

»Vielleicht die Tatsache, dass sein Tunnel mitsamt dem Haus drumherum verschwunden ist?«, schlug Jig vor. »Dann wäre es eben doch einer von Valeries Schraten und er ist vermutlich heimatlos.«

Ada sah immer noch unzufrieden auf Valeries aufgeschlagene Zeitung. »Aber wie soll der Schrat denn nach Chiswick gekommen sein? Die U-Bahn wird er ja nicht genommen haben. Oder doch?«

In diesem Moment stieß Teddy einen kleinen Schrei aus. Sein Zeigefinger bohrte sich nun in die letzte Ausgabe des Evening Standard. »Missglückte Kindesentführung in Dukes Meadows. Wurde Hund abgerichtet, um Kleinkinder zu verschleppen?«

Valerie schlug die Hände vors Gesicht. »Oh mein Gott«, klang es dumpf zwischen ihren gespreizten Fingern hervor. »Die Schrate haben erneut versucht, ein Kind an sich zu bringen. Genau wie Paul und wie auch schon Sebastian.«

»Damit hören sie niemals auf, sie finden Kinder eben niedlich, genau wie du Welpen oder Katzenbabys toll findest«, rief Ada dazwischen. »Ganz besonders aufschlussreich finde ich allerdings den Ort des Geschehens: Dukes Meadows.«

Valerie ließ die Hände sinken, die jetzt leicht zitterten und verrieten, wie heftig das Adrenalin in ihr strömte. »Ein Erholungsgebiet mit Spielplätzen, Planschbecken und Grünflächen. Ein Ort, an dem sich immer wieder Kinder aufhalten, manche von ihnen vielleicht auch mal kurz unbeaufsichtigt, sodass die Schrate sie aufräumen können.«

»Zum Erholungsgebiet Dukes Meadows gehört vor allem auch ein hübscher Golfplatz und das alles finden wir in Chiswick.« Ada klatschte in die Hände. »Ich denke, es wird Zeit, unsere Golfschläger wieder auszumotten, Teddy. Nicht nur um Schratschädel zu verbeulen, sondern auch um mal wieder zu spielen. Meine Güte. Ich glaube, zum Golfen habe ich die Schläger schon ewig nicht mehr benutzt.«

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte

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