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Kapitel 1 - Der letzte Kaffee

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Oktober 1965


RICHARD


An einem der vermutlich letzten warmen Herbsttage investierte Richard Blunt, Student der Archäologie und Kunstgeschichte, sein letztes Bargeld in eine Tasse Kaffee.

Sinnend sah er durch das Fenster des Imbisses auf die Straßen Londons hinaus und stopfte seine Pfeife, die ihn intellektuell erscheinen lassen sollte, mit dem letzten kümmerlichen Rest Tabak aus seinem Beutel.

Während er den faden Kaffee mit Zucker und Milch aufwertete und dabei immer wieder umrührte, überlegte er, wie es nun weitergehen sollte. Das Trimester war noch jung und er schon pleite. Ein Job, der ihm sein Studium finanzieren konnte, war gerade nicht in Sicht. Und doch lag es ihm fern, die Flinte ins Korn zu werfen und nach Hause zu gehen. Dort, wo sein Vater, der Metzger des Dorfes, ihn mit einem Grinsen erwarten würde.

»Habe ich es dir nicht gleich gesagt, Junge?« Richard sprach die Worte leise vor sich hin, die sein Vater für diesen Moment sicher schon bereithielt. »Unsereins gehört nicht an die Universität. Nimm das Messer und die Schürze, mein Sohn. Hinten wartet schon eine Schweinehälfte darauf, zerteilt zu werden.«

Nein, niemals, wirklich niemals würde er aufgeben, heimkehren und sich der Verwurstung von toten Tieren widmen. Eher würde er unter einer Brücke oder gleich im Hörsaal schlafen, als seinen Lebenstraum vom Universitätsstudium aufzugeben.

»Hey, Dick, wie läuft’s?«

Richard konnte es nicht leiden, wenn man ihn Dick nannte. Dick klang viel mehr nach Wurstwaren als Richard, Dick war nicht das, was er sich für sein Leben vorstellte. Und so wandte er unwillig den Kopf zu dem Mann um, der den Imbiss soeben betreten hatte. Martin Holt, der gerade einen fusseligen Bart auf Kinn und Wangen züchtete, setzte sich unaufgefordert zu ihm und bestellte sich einen Rotwein.

Rotwein am Nachmittag. Richard wurde angesichts dieser Dekadenz blass vor Neid. Für derartigen Luxus fehlte ihm selbst in guten Zeiten das Geld.

»Ist bei dir der Wohlstand ausgebrochen?«, fragte er den Neuankömmling und musterte seinen Kommilitonen eingehend.

Martin trug, wie jeder Student in diesem Jahr, eng sitzende helle Hosen, einen dunklen Rollkragenpulli und kaute, genau wie Richard, auf dem Mundstück seiner Pfeife herum, die erkaltet zu sein schien. Nichts an ihm ließ auf eine plötzliche Erbschaft oder einen Lottogewinn schließen. Nichts außer dem Glas italienischen Rotwein. Und jetzt bestellte der Kerl doch tatsächlich ein zweites und lud ihn ein.

Richard war zu dankbar, um misstrauisch zu werden. Zwar kannte er Holt kaum, auch wenn der Mann dieselben Vorlesungen wie er selbst besuchte, sie hatten einfach noch nicht viel miteinander zu tun gehabt. Aber einem geschenkten Gaul sollte man schließlich auch nicht ins Maul gucken, oder?

Er nippte an seinem Wein und wartete darauf, dass Martin Holt ein Gesprächsthema vorschlug. Er musste sich nicht lange gedulden.

»Arbeitest du noch immer am Aufbau dieser Ausstellung? Drüben im Museum für Glas und Porzellan?«, fragte Martin schließlich und lehnte sich in dem Stuhl mit dem praktischen roten Plastikbezug zurück.

»Nein.« Richard schüttelte den Kopf. »Wir sind fertig. Die Ausstellung wird am kommenden Wochenende für das Publikum geöffnet und ich habe soeben meinen Lohn erhalten.«

»Wie viel war es denn?«, fragte Martin Holt neugierig. Seine Augen schienen eine Spur schmaler zu werden.

»Wenn du es genau wissen willst, meine Vergütung besteht aus einem Schrank, der die letzten Jahre auf dem Speicher des Museums verstaubt ist. Ein alter und ehrwürdiger Schrank, der mir eines Tages, sobald ich das Geld für seine Restaurierung aufbringen kann, gute Dienste leisten wird. Bis dahin werde ich allerdings in ihm wohnen müssen, weil ich meine Miete nicht mehr zahlen kann.«

Martin Holt stellte seinen Wein ab, legte die Pfeife zur Seite und wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Richard lachte nicht mit. Ihm war bei Antritt dieses Jobs klar gewesen, dass das Museum für Glas und Porzellan kaum genug Geld haben würde, um ihn für seine Arbeit angemessen zu bezahlen. Aber ein wenig Bargeld hatte er doch erwartet.

»Sehr witzig.« Richard schaute seinen Gesprächspartner so ausdruckslos an, dass dieser seinen Lachanfall schleunigst unter Kontrolle brachte.

»Tut mir leid, alter Knabe. Aber vielleicht kann ich dir aus deiner misslichen Lage heraushelfen.« Martin klopfte seine Pfeife über dem Aschenbecher aus und begann, sie neu zu stopfen.

Richards Neugier war geweckt. »Du weißt einen Job für mich? Was für einen und wo?«

Holt zog an seiner Pfeife, bis der Tabak glühte, und ließ ein Rauchwölkchen aus seinem Mundwinkel aufsteigen. Er wirkte so überlegen und gönnerhaft, dass Richard viel dafür gegeben hätte, weniger armselig zu erscheinen, als er sich gerade fühlte.

»Kennst du Professor Ingress?«, fragte Martin unvermittelt und paffte eine Reihe weiterer kleiner Wölkchen.

»Dem Namen nach«, gestand Richard. »Er soll ein Experte auf seinem Gebiet sein.«

»Er arbeitet auf vielen Gebieten.« Holt lächelte herablassend. »Ingress ist ein vielseitig interessierter Mensch. Und wie es der Zufall will, stellt er gerade ein neues Team zusammen.« Unvermittelt beugte sich Martin auf seinem Stuhl vor und verfiel in einen Flüsterton. »Ein Team der hoffnungsvollsten Studenten aus nahezu allen Bereichen der Wissenschaft. Sie werden Teil eines faszinierenden und sehr geheimen Projektes, staatlich gefördert, versteht sich. Geld ist für Ingress kein Problem, er findet immer Förderer, dafür hat er ein Händchen.«

»Warum sollte er mich für sein Projekt gewinnen wollen?« Skeptisch sah Richard sein Gegenüber an. »Ich studiere Kunstgeschichte, genau wie du übrigens. Wenn er wirklich glaubt, dass er für das, was er da tut, einen Kunsthistoriker braucht, warum übernimmst dann nicht du diesen Job?«

»Ich habe ihn schon übernommen, Dummerchen.« Holts Lächeln bekam etwas Mitleidiges. »Aber ich kann das unmöglich allein angehen, ich brauche jemanden, der mit mir zusammen diese Stelle im Team ausfüllt.«

»Und da bist du ausgerechnet auf mich gekommen? Warum?« Das Misstrauen meldete sich erneut bei Richard. Er selbst hätte sich für eine Zusammenarbeit einen Freund ausgesucht. Einen Menschen, den er mochte und mit dem er gern zusammen war. Doch diese Kriterien konnte Martin Holt kaum angelegt haben, sie kannten einander ja kaum.

»Weil ich gerade diese Straße entlanggekommen bin und dich hier sitzen sah. Da dachte ich mir: Martin, versuch es doch mal beim guten alten Dick. Der ist zuverlässig, verschwiegen …«

»Aha. Verschwiegen«, wiederholte Richard. »Warum muss man für diesen Job verschwiegen sein?«

»Das wirst du verstehen, sobald du ihn angenommen hast«, antwortete Martin und klang plötzlich nicht mehr heiter. »Und annehmen musst du ihn jetzt. Sofort.«

Richard gab ein kurzes Lachen von sich. »Ohne dass ich weiß, worum es überhaupt geht? Du bist ja verrückt. Vielleicht liegt mir diese Arbeit gar nicht.«

»Das weiß man im Vorfeld nicht so genau, das kann keiner wissen.« Martin stürzte seinen Wein hinunter und bedeutete Richard, ebenfalls auszutrinken. »Was ist also? Willst du dabei sein? Willst du deine Miete zahlen können und außerdem noch Teil eines der wichtigsten Forschungsprojekte dieses Jahrzehnts sein? Dann lass uns hier nicht länger Zeit verschwenden und begleite mich. Ingress hat mir bei der Wahl meines Kollegen völlig freie Hand gelassen, aber nur unter der Voraussetzung, dass du sofort einsatzbereit bist und nicht zu viele Fragen stellst.«

Nicht zu viele Fragen. Wenn Richard ehrlich zu sich selbst war, dann klang dieses Jobangebot von Minute zu Minute schlechter. Aber hatte er eine Wahl, wenn zu Hause bei seinem Vater nur eine Lehre zum Metzger auf ihn wartete? Nein, die hatte er nicht. Er brauchte sofort einen Job, und ein staatlich gefördertes Projekt versprach endlich Bargeld statt angestaubter Antiquitäten als Bezahlung.

Richard traf eine Entscheidung. »Ich komme mit dir«, antwortete er und kippte seinen Rotwein hinunter.

Erleichtert, wie es schien, stand Martin Holt auf, und auch Richard erhob sich, um ihm zu folgen. Er ahnte nicht, dass diese Entscheidung wegweisend für seinen gesamten Lebensweg sein würde.

September 2019


VALERIE

Auf der frisch gemähten Wiese, hinter dem Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert mit seinen zahlreichen Erkern, Schornsteinen und einer imposanten Freitreppe, saßen Valerie und ihr bald zweijähriger Sohn Paul auf einer Picknickdecke und malten. Jeder so gut, wie er konnte. Das Laub des Parks färbte sich bereits golden und die Luft war deutlich kühler als noch vor einigen Wochen, als Valerie den Landsitz der Blunts zum ersten Mal gesehen hatte.

Sie und Paul waren gekommen, um zu bleiben. Zumindest für eine Weile, so lange, bis sie wusste, wie die Zukunft für sie und ihren Sohn aussehen sollte.

Doch heute dachte sie nicht über ihre Probleme, die bevorstehende Scheidung oder ihre Wohnungslosigkeit nach. Valerie genoss den Tag an der frischen Luft, und auch Paul kaute zufrieden auf einem Wachsmalstift.

Vom Haus her näherte sich Teddy Blunt, ein Enddreißiger mit feinem blonden Haar auf seinem runden Kopf und einer sehr gesunden Gesichtsfarbe. Er trug tatsächlich moosgrüne Knickerbocker wie ein Vertreter des Landadels vor langer Zeit und schwenkte ein Blatt Papier wie eine Fahne durch die Luft. Valerie lächelte ihm entgegen.

»Ada hat geschrieben!« Teddy kam im Laufschritt näher und ließ sich freudestrahlend neben Valerie auf die Decke fallen.

Paul begrüßte ihn mit einem seligen Lächeln und zeigte seine Milchzähnchen. Teddy strich ihm liebevoll über den Kopf, während er Valerie das eng beschriebene Blatt reichte.

Sie war froh, wieder etwas von ihrer ältesten Freundin, ihrem ehemaligen Kindermädchen, zu hören. Als sie sich vor einigen Wochen voneinander verabschiedet hatten, lagen gerade erst tödliche Gefahren hinter ihnen beiden, und Valeries Leben hatte sich in einen Scherbenhaufen verwandelt.

Eifrig begann sie zu lesen. »Sie hat also ein Zimmer in Jigs Elternhaus bezogen und sie verbringen täglich viele Stunden mit Pflanzenkunde und Geografieunterricht.«

Jig, ein weiblicher Teenager, war ebenfalls Bestandteil des vergangenen Abenteuers gewesen, das hinter ihnen lag. Das verunsicherte Mädchen hatte eine Freundin wie Ada seitdem noch viel nötiger als Valerie selbst.

»Und natürlich schmökern sie täglich in den ›Vergessenen Kreaturen‹, dem Nachschlagewerk unserer Väter«, las Valerie weiter, ließ den Brief sinken und lächelte Teddy an. »Ich bin mir fast sicher: Wenn wir Jig das nächste Mal begegnen, wird sie ein ganz neuer Mensch sein.«

»Das denke ich auch«, stimmte ihr Teddy zu, legte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Während er versonnen in den blauen Himmel hinaufblickte, fuhr er fort: »Ich würde noch immer zu gern wissen, was aus meinem Vater geworden ist. Wenn er noch existiert, warum erhalte ich dann kein Lebenszeichen von ihm?«

»Mein Vater ist nach meinem letzten Kenntnisstand in Australien und von ihm bekomme ich auch kein Lebenszeichen«, erwiderte Valerie schulterzuckend und vertiefte sich wieder in Adas Zeilen. »Doktor Warning und seinem gebrochenen Kiefer geht es besser, aber er hat sich in den letzten Wochen ausschließlich von Flüssignahrung ernähren müssen. Der arme Kerl. Er wird es sich in Zukunft überlegen, Leute für verrückt zu halten, nur weil sie Dinge hören oder sehen, die ihm bisher entgangen sind.«

»Dein Mann hat ebenfalls geschrieben.« Teddy hielt Valerie einen noch geschlossenen Brief unter die Nase. »Ich hoffe, es steht nichts Unerfreuliches drin.«

»Alles, was von Derek kommt, ist unerfreulich.« Valerie riss Teddy den Brief aus der Hand und öffnete das Kuvert. Beim Lesen der Worte war ihr plötzlich, als griffe eine kalte Hand nach ihrem Herzen. »Er schreibt, dass wir uns dringend unterhalten müssen. Es geht um unser Haus und seinen Verbleib. Was meint der denn damit?«

»Du hättest eben doch mal auf einen seiner Anrufe reagieren sollen, dann wüsstest du, was er meint.« Teddy klang leicht vorwurfsvoll. »Vermutlich ist ihm der Kasten zu groß und er will ihn verkaufen.«

»Das darf er nicht.« Valerie knüllte den Brief zusammen und ließ ihn auf die Decke fallen, wo er sofort Pauls Aufmerksamkeit erregte. »Was, wenn wieder eine Familie in dieses Haus zieht? Eine Familie mit Kindern? Teddy, dann wird sich alles ein weiteres Mal wiederholen!« Mit Schaudern dachte Valerie an die finsteren Kreaturen zurück, die in den Wänden des alten Hauses lebten, das ihr Vater ihr vor seiner Abreise auf einen anderen Kontinent vermacht hatte.

Teddy setzte sich neben sie auf die Decke und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Wir werden einfach ein wachsames Auge auf das Haus haben, Valerie.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es reicht, ein Auge auf dieses Haus zu haben.«

Valerie dachte an Sebastian, ein Mann von Mitte vierzig, fast so alt wie sie selbst, der sein ganzes Leben in der Obhut der Kreaturen, der Schwarzen Schrate, zugebracht hatte. Er war der einzige Grund, warum sie nicht schon längst einen Benzinkanister in dem alten Kasten ausgegossen und ein Streichholz hinterhergeworfen hatte. Auch ein Bulldozer schien ihr eine adäquate Lösung zu sein, um den Schraten den Garaus zu machen. Doch solange Sebastian vom Atem der Schrate körperlich abhängig war, kam dies nicht infrage.

Irgendwie hatte Valerie gehofft, dass ihr Mann Derek allein in dem Haus weiterleben würde. Doch wenn er plante, es auf den Markt zu werfen, dann war das dunkle Gemäuer in dem schönen Garten eine gefährliche Falle für jede ahnungslose Familie, die auf der Suche nach einem Heim war.

»Ich habe kein gutes Gefühl, Teddy«, flüsterte Valerie und faltete den Brief zusammen.

Teddy schloss die Augen und lächelte. »Keine Bange, Val. Und wenn es wirklich wieder gefährlich wird, dann packen wir noch einmal unsere Golftasche und stürzen uns gemeinsam mit Ada wieder ins Abenteuer.«

»Amtöa«, echote Paul und zerbiss grinsend den Wachsmalstift.

Valerie pulte ihm nachsichtig die bunten Krümel aus dem Mund und ließ sie in einem Taschentuch verschwinden.

Doch eine innere Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie konnte nicht länger hier draußen sitzen und die Herbstsonne genießen, sie musste wissen, was vor sich ging.

»Teddy?«, rief sie so plötzlich aus, dass dieser zusammenzuckte und die Augen wieder aufriss. Valerie war eine Idee gekommen. »Darf ich den Computer in deinem Arbeitszimmer benutzen? Der Akku meines Handys ist leer und ich möchte mich mit jemandem beraten.«

Teddy entspannte sich sichtlich und seufzte. »Herrje, das ist doch kein Grund, so zu schreien. Selbstverständlich kannst du den Computer benutzen. Wann immer du willst, das habe ich dir doch schon gesagt.«

»Vielen Dank. Hab doch bitte ein Auge auf Paul, solange ich fort bin, ja? Und achte darauf, dass er nicht alle Stifte isst.«

»Kein Problem«, antwortete Teddy und streifte sich die Schuhe von den Füßen.

Valerie marschierte los, gerade auf das prächtige Haus ihres Freundes und Gastgebers zu.

Sie eilte die große Freitreppe hinauf, durch das Portal und quer durch die dunkle Eingangshalle. Dann die Treppe hinauf, und schon die sechste Tür auf der linken Seite führte in Teddys Büro.

Nie zuvor hatte Valerie so eine Verschwendung an Wohnfläche erlebt wie in diesem Haus, denn außer Teddy, Paul, ihr selbst und einer Haushälterin lebten im Haus nur noch zwei dienstbare Geister und das war wörtlich zu verstehen. Sie wäre vor Schreck fast wieder hinausgerannt, als sie bei ihrer Ankunft die beiden spitzgesichtigen Puke entdeckt hatte. Doch Teddy versicherte ihr, dass sie alt, gutmütig und sehr nützlich seien und überdies Glück ins Haus brächten, wenn man sie nur regelmäßig mit Nahrung und Aufmerksamkeit bedachte. Valerie blieb zwar den beiden kleinen Hausgeistern gegenüber zurückhaltend, die kaum größer waren als Paul, dafür aber wieselflink, doch ihr Sohn war begeistert von seinen neuen Spielgefährten.

Valerie betrat das bis zur Decke vertäfelte Büro, das sie ein wenig an den ehemaligen Arbeitsplatz ihres Vaters erinnerte, und nahm hinter dem großen Schreibtisch Platz. Ein eingeschalteter Bildschirm auf der Arbeitsplatte erwartete sie.

Sie meldete sich bei Facebook an und fand in ihrer übersichtlichen Freundesliste rasch Sebastians Namen, der jetzt oft genug ihren alten Laptop benutzte, um mit der Außenwelt in Kontakt zu treten.

In den letzten Wochen hatten sie und Sebastian sich zahlreiche persönliche Nachrichten zukommen lassen. Doch gerade in den vergangenen Tagen war Valerie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Der Chatverlauf verriet ihr, dass ihre letzte Korrespondenz mit ihrem Freund hinter den Wänden eine halbe Woche zurücklag.

Huhu, Sebastian.

Doch er reagierte nicht auf diese Zeilen. Das war merkwürdig. Auf Facebook tummelte er sich üblicherweise am liebsten.

Was ist bei dir los? Gibt es was Neues?

Wieder keine Reaktion. Sie versuchte es mit Winken, Anstupsen und schließlich mit einem Sprachanruf. Sebastian war nicht da. Zumindest auf diesem Wege im Moment unerreichbar.

Seufzend lehnte sich Valerie in Teddys knarrendem Ledersessel zurück. Ihr Blick fiel auf ein gerahmtes Foto, das einen noch sehr jungen Teddy an der Hand eines Mannes mit Pfeife zeigte.

Der verschwundene Richard Blunt hatte eine sympathische Ausstrahlung gehabt, fand sie. Ein bisschen verwegen mit einem sehr markanten Gesicht, das er seinem Sohn nicht vererbt hatte.

Wo er jetzt wohl sein mochte?

Valerie starrte noch eine Weile auf den Bildschirm vor ihrer Nase, dann fasste sie einen Entschluss.

Und sie teilte ihn dem winzigen Puk, der jetzt mit einer Tasse dampfenden Tees zu ihr hereinkam, augenblicklich mit. »Ich werde abreisen.«

Der Puk machte ein unglückliches Gesicht und schob die Tasse samt Untertasse auf die über seiner Kopfhöhe befindliche Schreibtischplatte. Geduldig wartete er darauf, dass Valerie weitersprach, auch wenn es ihm zu missfallen schien, dass sie das Haus verlassen wollte.

»Ich werde zurück nach London fahren, um mit Derek zu sprechen. Falls Teddy mit seiner Vermutung recht hat und er wirklich plant, das Schrathaus zu verkaufen, muss ich das verhindern.«

Der Puk, der unmöglich wissen konnte, wovon Valerie da sprach, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schwieg beharrlich weiter. Seine Art war nicht besonders gesprächig, das hatte Valerie schon bemerkt. Umso aufmerksamer hörte der kleine Kerl ihr zu. Valerie konnte einfach nicht anders, strich dem koboldartigen Wesen ungeschickt über den Kopf, obwohl Teddy ihr gesagt hatte, dass die meisten Hausgeister nicht gern berührt wurden. Lediglich die Zudringlichkeiten des kleinen Paul nahmen sie stoisch hin, da er als Kleinkind wohl einen besonderen Stellenwert hatte.

Prompt zog sich der Puk von ihr zurück und lief aus dem Büro hinaus. Valerie blieb am Schreibtisch sitzen und sah noch immer auf den hellen Bildschirm.

»Ich kehre zurück, und ich werde einen Weg finden, Sebastian wiederzusehen.«

Der Gedanke an Sebastian wärmte für die Dauer eines Wimpernschlages ihr Herz. Valerie fragte sich nicht zum ersten Mal, was sie eigentlich für ihn empfand. War es eine Verbundenheit, wie es sie zwischen Geschwistern gab? Oder war es mehr? Knisterte dort in ihrem Herzen etwa schon das Feuer der Liebe? Sie war sich nicht sicher. Doch es war mehr als Freundschaft, was sie mit dem Mann hinter den Wänden verband.

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte

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