Читать книгу Ada (Band 2): Die vergessenen Orte - Miriam Rademacher - Страница 8

Kapitel 2 - Hier fehlt etwas Wesentliches

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Oktober 1965

RICHARD


Martin Holt hatte sich geweigert, ihm zu sagen, wohin sie eigentlich fuhren. Sein Studienkollege hatte einfach ein Taxi angehalten – ein Taxi, man stelle sich das vor – und dem Fahrer eine Adresse genannt, die Richard völlig fremd war.

»Wir fahren also nicht zur Uni?«, hatte er gefragt und von Martin nur einen ungläubigen Blick geerntet.

Richard schloss daraus, dass das Projekt des Professor Ingress so geheim war, dass man die Forschungen lieber fernab der Studentenschar betrieb.

Und tatsächlich hielt das schwarze Londoner Taxi nach einer langen und schweigsamen Fahrt in einem Vorort am Straßenrand, in Sichtweite zu einem modernen Bungalow, der sich nur schlecht bis gar nicht in das Gesamtbild der Straße einfügte. Doch Bausünden wie diese gab es seit Kriegsende zuhauf und Richard vermutete, dass dieser Ort gerade durch seine architektonische Auffälligkeit schon wieder unauffällig war.

Während Martin den Fahrer bezahlte, stieg Richard aus und sah sich um. Dies hier musste ein Zipfel von Chiswick sein, aber ganz sicher war er sich nicht.

Der Bungalow war von einem hohen Zaun aus Metallpfosten umgeben, der nahe dem Eingang mit einem Schild versehen worden war. Die Aufschrift, die im Wesentlichen aus aneinandergereihten Großbuchstaben bestand, verriet Richard rein gar nichts über den Ort, an dem er sich befand.

»Willkommen am Zugang Zwei, wie wir dies hier nennen«, verkündete Martin und schob Richard auf die verschlossene Haustür zu.

Nachdem er den Klingelknopf gedrückt hatte, standen beide zunächst schweigend auf der Fußmatte und warteten auf Einlass.

»Zugang Zwei?«, fragte Richard. »Zugang zu was? Und wofür halten die Nachbarn dieses Haus? Doch wohl nicht für ein geheimes Forschungslabor.«

Martin kicherte. »Nein, sie denken, dass sich unter dieser Adresse ein Schulungszentrum für angehende Unternehmer befindet. So wundert sich niemand über das Kommen und Gehen junger Männer. Niemand hat bisher Genaueres wissen wollen, allein das Wort ›Schulungszentrum‹ klingt für sie absolut uninteressant, scheint mir.«

Richard nickte. Das konnte stimmen. Die Menschen fragten allgemein viel zu wenig nach, gaben sich mit lapidaren Antworten zufrieden und wunderten sich, wenn sich plötzlich der nette Mann von nebenan als Spion oder Bankräuber entpuppte. Je platter die Tarnung, desto besser.

In diesem Moment wurde die Haustür geöffnet und ein hagerer Mann mit hängenden Schultern erschien auf der Schwelle. Gekleidet war er in eine Art Uniform in langweiligem Grau.

»Sie wünschen?«

Sein Blick hatte etwas Lauerndes. Während er Martin kaum beachtete, schien er Richards Gesicht zu studieren, sich seine Züge einprägen zu wollen.

»Wir sind gekommen, um die Unterlagen für Mister Kellerman abzuholen«, erwiderte Martin und klang genervt. »Komm schon, lass uns rein, Billy. Du kennst mich doch.«

»Ich habe meine Anweisungen«, nuschelte der Mann namens Billy. »Die Papiere sind noch nicht unterzeichnet, Sie werden etwas Geduld mitbringen müssen.«

»Billy«, sagte Martin und klang vorwurfsvoll. »Hör auf mit dem Quatsch und lass uns rein. Niemand ist uns hierher gefolgt, niemand interessiert sich für uns.«

»Die korrekte Antwort hätte gelautet: Zeit haben wir massenhaft mitgebracht. Sie müssen sich schon an die ausgegebene Parole halten.«

Martin seufzte. Und während sich Richard ein Grinsen verkniff, leierte sein Begleiter den gewünschten Text herunter, woraufhin Billy zurücktrat und den Blick in einen sich rasch verbreiternden Flur freigab.

Auf seinem Weg durch ebendiesen Flur hielt Richard nach wenigen Schritten erschrocken inne. Vor ihm, im Fußboden, gähnte ein gewaltiges Loch – eine tiefe Grube – auf dessen Grund ein Baustellenstrahler stand und sein grelles Licht auf lehmige Wände warf.

Nach einem kurzen Moment, in dem Richard nach Luft geschnappt hatte, rief er: »Es scheint so, als wären die Renovierungsarbeiten für diesen Ort noch nicht ganz abgeschlossen. Gibt es vielleicht einen Steg oder eine Liane zur Überquerung dieses Abgrunds?«

Statt einer Antwort versetzte ihm Martin, der einen Schritt hinter ihm geblieben war, einen leichten Stoß in den Rücken, sodass Richard von plötzlicher Panik erfüllt vorwärts taumelte. Ein leiser Schrei kam über seine Lippen, als er mit ausgestreckten Armen in die Tiefe stürzte, nur um nach einem Sekundenbruchteil mit Händen und Knien gleichzeitig auf etwas Hartem aufzuschlagen.

Fassungslos stellte Richard fest, dass er sich entgegen seinen Erwartungen weit über dem Grund der Grube, etwa auf Höhe des nicht vorhandenen Fußbodens, befand. Noch immer blickte er auf den Strahler hinab. Seine Hände und Knie hatten einfach in der Luft haltgemacht und ihm eine schmerzhafte Landung erspart.

»Herzlichen Glückwunsch, Dick. Du hast die erste Feuertaufe bestanden.«

Vorsichtig hob Richard eine Hand, nur um sie gleich wieder sinken zu lassen und zaghaft mit den Fingerknöcheln auf das zu klopfen, was ihn gerettet hatte. Ein dumpfes Geräusch erklang.

»Plexiglas«, erklärte ihm Martin, der immer noch amüsiert klang. »Extrem stabil, nahezu bruchsicher. Man kann einfach darüber gehen. Wenn du magst, darfst du die paar Meter bis zum Beginn der Bodenfliesen aber auch kriechen.«

Richard erhob sich langsam und drehte sich ebenso langsam zu Martin um, der immer noch feixend dastand und seinen Streich sichtlich genoss. Richard, dessen rechtes Knie leicht zu pochen begann, weil es den Sturz auf das Glas nicht ohne Schaden überstanden hatte, rechnete es dem vom Alter gebeugten Billy hoch an, dass dieser weder lachte noch lächelte.

»Ach, nun guck nicht so beleidigt. Das machen wir hier mit allen Neuankömmlingen. Mir ist es auch nicht besser ergangen als dir. Gib zu, dass es nicht halb so schlimm war, wie den Kopf in die Toilette gesteckt zu bekommen. So wie es an vielen Schulen mit den Neuen gemacht wird.«

»An so einer Schule war ich nicht«, zischte Richard und überprüfte rasch, ob seine Handgelenke besser dran waren als sein Knie. Sie waren es. »Und worin besteht also die zweite Feuerprobe? Wenn das hier die erste war, dann kann der Spaß ja noch nicht vorbei sein.«

Jetzt verging auch Martin schlagartig das Lachen. »Du wirst Professor Ingress davon überzeugen müssen, dass du der Richtige für dieses Projekt bist.«

»Ein Projekt, über das ich nicht das Geringste weiß«, spottete Richard.

»Das wird sich möglicherweise bald ändern.« Die klaren, lauten Worte waren von jemandem ausgesprochen worden, der jetzt hinter ihm sein musste. Richard wandte sich erneut um und sah sich einem Mann gegenüber, der, wie er selbst, auf dem Plexiglas über der Grube stand.

Der Mann überragte Richard um einen halben Kopf und hatte die Statur eines Boxers im Schwergewicht. Sein schwarzes Haar stand wild vom Kopf ab, sein ebenso schwarzer Bart wucherte ungehemmt in alle Richtungen. Und der weiße Laborkittel, der jedem anderen Mann eine gewisse Würde verliehen hätte, wirkte an ihm wie eine lächerliche Küchenschürze.

»Ingress ist mein Name. Ich bin der Leiter dieser Forschungsabteilung. Zuweilen fühle ich mich aber eher wie eine Art Herbergsvater in einem Haus voller unerzogener Jungen.«

»Verzeihung, Professor Ingress, ich habe nur getan …« Martin Holts unterwürfig klingende Worte schnitt die eindrucksvolle Gestalt vor ihnen mit einer einzigen Handbewegung ab.

Martin trat jetzt neben Richard und dieser konnte die Ehrfurcht und den Respekt, den sein neuer Freund gegenüber dem Professor empfand, fast greifen. »Dies hier ist Dick … ich meine Richard Blunt. Ein sehr begabter und sehr fähiger Kollege, der sich für Kunstgeschichte und Archäologie begeistert. Ich denke, er ist genau die Unterstützung, die ich für meine Arbeit brauche.«

Die schmalen Lippen inmitten des schwarzen Bartes umspielte ein Lächeln. »Es ist schön, dass du denkst, mein junger Freund. Denken ist eine Fähigkeit, die ich sehr schätze.«

Der offensichtliche Spott des Älteren veranlasste Martin Holt, den Kopf wie ein Schuljunge zu senken, der bei einer Albernheit ertappt wurde.

Richard war sprachlos angesichts dieses Wandels, der mit dem selbstbewussten, ja manchmal schon arroganten Martin Holt vor sich ging, und er konnte ihn nicht ganz nachvollziehen. Sicher, dieser Professor Ingress war eine eindrucksvolle Erscheinung. Aber dennoch konnte man ihm doch wohl gegenübertreten wie ein Mann.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Richard trat einen halben Schritt vor und reichte dem Bärtigen die Hand, die dieser mit seiner Pranke ergriff und schüttelte.

»Behaupten Sie jetzt nicht, schon viel von mir gehört zu haben, sonst müsste ich Sie fragen, was genau Sie gehört haben, und darauf hätten Sie keine Antwort, Mister Blunt.«

Okay, jetzt begann Richard zu ahnen, warum Martin gerade in Ehrfurcht erstarrt war. Dieser Professor Ingress sprach unumwunden aus, was er gerade dachte, und das war in der heutigen Zeit eine Seltenheit. Noch immer griff der durchschnittliche Engländer im Allgemeinen auf nichtssagende Gesprächsfloskeln zurück und das änderte sich üblicherweise auch nicht vor dem dritten gemeinsamen Bier.

»Sind Sie politisch interessiert, Mister Blunt? Haben Sie eine Meinung zum Weltgeschehen?«

Schon wieder so eine direkte Äußerung. Richard entschied, genauso unumwunden zu antworten. »Mich interessiert Politik erst, wenn sie zur Geschichte mutiert. Gut abgehangen vertrage ich Nachrichten einfach am besten.«

Ingress runzelte die Stirn. »Wir haben die Sechziger, ein junger Mann, wie Sie einer sind, sollte sich für die Weltpolitik interessieren, sollte eine Meinung haben und sie vertreten.«

»Leider interessiert niemanden meine Meinung, aber das kann sich ja noch ändern«, erwiderte Richard und wünschte, der Professor würde ihn endlich wieder freigeben.

»Tee.« Ingress hielt seine Hand noch immer fest. »Wir werden Tee zusammen trinken. In meinem Studierzimmer. Und dann werden wir beide entscheiden, ob dies der richtige Ort für Sie ist, Mister Blunt. Keine politische Meinung ist mir immer noch lieber als die falsche.«

»Ich werde mich persönlich um den Tee kümmern und nachkommen, Professor«, ließ sich nun wieder Martin Holt vernehmen, der den Kopf noch immer gesenkt hielt.

»Gehen Sie an Ihre Arbeit, Holt.« Die Stimme des Professors klang plötzlich streng. »Schicken Sie uns lieber Heyworth aus der Verhaltensforschung mit dem Tee ins Studierzimmer.«

»Sehr gern«, würgte Martin hervor und trat ab.

Richard spürte das Pochen in seinem Knie kaum noch, als Ingress seine Hand endlich freigab. Dies tat der Professor jedoch nur, um ihn jetzt an der Schulter zu packen und abzuführen.

Allein das nun freundlich wirkende Lächeln des Mannes gab Richard das Gefühl, nicht in Gefahr zu schweben. Alles andere an dieser Situation hätte er sonst ausgesprochen beunruhigend gefunden.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er gerade noch, wie Martin davoneilte, während der krumme Billy auf einer Bank im Flur Platz nahm und nach einem Kreuzworträtsel griff. Anscheinend blieb dieser Flur niemals unbewacht. Und obwohl Richard diesen Ort erst vor wenigen Minuten betreten hatte, wünschte er sich bereits wieder hinaus ins warme Licht der Oktobersonne.

September 2019


ADA

Die glatte Betonfläche inmitten des gepflegten Gartens erschien Ada wenig vertrauenerweckend, also breitete sie ihre Picknickdecke am Rand dieses Platzes aus, ließ sich auf einem bestickten Kissen nieder und öffnete ihre Blechdose voller Kekse. Lange würde sie nicht auf Gesellschaft warten müssen.

In Sichtweite ihres gemütlichen Plätzchens wanderte Jig über die Gartenwege, hielt manchmal nachdenklich inne, um dann wieder weiterzuspazieren.

Sie war Adas aktuelles Sorgenkind. Mit ihren siebzehn Jahren war Jig, die von ihren Eltern auf den Namen Jennifer getauft worden war, eigentlich schon zu alt für ein Kindermädchen. Ganz besonders für ein Kindermädchen wie Ada, die mit ihren zweiundsechzig Jahren zielsicher das Rentenalter ansteuerte. Doch abenteuerliche Umstände hatten sie beide zusammengebracht und Ada hatte nicht lang gebraucht, um zu erkennen, dass Jig nicht, wie von den Ärzten und Erziehungsberechtigten angenommen, in eine psychiatrische Klinik gehörte, sondern vielmehr in die Obhut eines Menschen, der sich mit Fabelwesen, Geistern und ja, man musste es sagen, auch mit Monstern auskannte. Mit anderen Worten: Jig brauchte jemanden wie Ada, die in ihrem langen Leben schon viele Kobolde unter Kinderbetten hervorgelockt und auch höchstpersönlich entsorgt hatte.

Ada wusste, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die zu sehen, riechen oder akustisch wahrzunehmen nicht jedem vergönnt war. Doch gerade Kinder waren mit solchen Erfahrungen schnell überfordert, ganz besonders, wenn sie keinen Erwachsenen in ihrem Umfeld hatten, der ihnen den richtigen Umgang mit Haus- oder Naturgeistern beibringen konnte. Aber Jig, die Stimmen hörte und viel mehr Sprachen verstand, als sie selbst ahnte, hatte jetzt Ada, und das war gut so.

»Hier war es«, rief Jig und winkte Ada zu, die fragend eine Augenbraue hob. »Hier habe ich einen der Schrate mit einem Netz voller Orangen verdroschen.«

»Das war deine erste große Tat«, rief Ada zurück und meinte es ehrlich. Denn es war Jigs erste Begegnung mit einem Fabelwesen gewesen, bei dem diese nicht verängstigt reagiert, sondern sich zur Wehr gesetzt hatte.

Jetzt, nur wenige Wochen später, stand eine seelisch schon viel stabilere Jig am selben Ort, und Ada konnte so etwas wie Selbstbewusstsein und Stolz in ihrer Körpersprache erkennen. Das Mädchen war auf einem guten Weg.

»Was zur Hölle machen Sie denn wieder hier?«, vernahm Ada die Stimme eines Mannes.

Sie drehte den Kopf und sah Derek Dreyer auf sich zukommen, den zukünftigen Ex-Mann ihres einstigen Schützlings Valerie.

»Theodor Blunt, Sie erinnern sich doch an Teddy, hat mich wissen lassen, dass Sie heute hier mit Ihrer Noch-Frau verabredet sind«, rief Ada ihm entgegen. »Und ich erlaube es mir, bei dieser spannenden Begegnung anwesend zu sein.«

»Sie verschwinden sofort von meinem Grund und Boden und nehmen diese dürre Vogelscheuche auch gleich wieder mit«, rief er und deutete auf Jig, die in sicherer Entfernung zwischen zwei Rhododendren stand und die Szene beobachtete.

Bei dieser wenig freundlichen Beschreibung ihrer Person blies sie jetzt allerdings die Backen auf und ballte die zarten Hände zu Fäusten. Seit Ada Jig unter ihre Fittiche genommen hatte, war das stoppelkurze Haar schon etwas nachgewachsen und ihr Appetit hatte sich gebessert. Jig war noch immer sehr zart, aber keineswegs mehr so dürr wie noch vor Wochen.

»Charmant wie eh und je, Mister Dreyer«, erwiderte Ada. »Doch zu Ihrem Leidwesen können Sie uns gar nicht aus diesem Garten vertreiben, denn dies ist auch Valeries Grund und Boden. Und jetzt ist es ja auch nicht mehr als Grund und Boden, so wie ich die Dinge sehe.« Sie deutete auf die frisch betonierte Fläche hinter sich.

»Haben Sie etwas damit zu tun?« Derek Dreyer, dessen Gesicht so rot geworden war wie eine Weihnachtskugel, hatte sie jetzt fast erreicht. Unter seinen schweren Schritten erbebte der Boden, auf dem Ada noch immer ungerührt saß und an ihrem Keks knabberte.

»Sehe ich etwa aus wie eine Abrissbirne?« Ada blickte fragend zu ihm auf. »Passen Sie auf, was Sie sagen. Jig haben Sie schon beleidigt, verscherzen Sie es sich nicht auch noch mit mir.«

»Ich dachte, das hätte er längst«, ließ sich plötzlich die vertraute Stimme Teddys vernehmen, der mit Valerie am Arm den Weg vom Gartentor herkam.

Beim Anblick der kalten Betonfläche inmitten des Gartens verlor Valeries Gesicht jede Farbe. »Mein Haus! Mein Haus ist weg! Jemand hat es gestohlen!«

Ada erhob sich von ihrem Kissen, um Valerie in den Arm zu nehmen und ihr zu versichern, dass ein Haus nicht einfach gestohlen werden konnte.

Doch es war Derek Dreyer, der jetzt mit theatralischer Geste das Wort ergriff. »Das ist es ja, was ich dir sagen wollte. Schonend beibringen, nach Möglichkeit. Doch wenn du keinen meiner Anrufe beantwortest, nie zu sprechen bist, dich bei diesem Blunt in seinem Schloss verschanzt …«

»Nur ein kleiner Landsitz«, warf Teddy ein und lächelte bescheiden.

»Ach, halten Sie die Klappe, Blunt. Sie haben dieses komische Kindermädchen auf den Plan gerufen.« Derek deutete auf Ada. »Wie soll ich denn ein vernünftiges Wort mit meiner Frau wechseln, wenn diese Verrückte dabei ist?«

»Ada ist nicht verrückt, Sie fetter, blöder …« Jig, die herbeigeeilt war, gingen die Schimpfwörter aus.

Ada musste grinsen. Die Kleine war einfach zu gut für diese Welt.

»Ich will sofort wissen, was mit meinem Haus passiert ist«, rief Valerie und schien kurz davor, hysterisch zu werden.

»Das will ich dir ja gerade erzählen: Es ist weg!«, brüllte Derek Dreyer.

Die darauffolgende Stille wurde nur vom leisen Glucksen Adas unterbrochen.

»Das ist nicht witzig!«, fauchte Derek. »Ich befand mich auf einer Geschäftsreise. Gerade mal für fünf Tage. Und als ich wiederkam, war das Haus weg. Mitsamt seinem Inhalt. Meine Anzüge, meine Unterlagen, mein Lieblingssessel, alles einfach weg. Und niemand kann mir sagen, was eigentlich passiert ist.«

»Was ist denn mit den Nachbarn?«, fragte Teddy neugierig.

»Die haben den Abriss natürlich genau mitbekommen, dachten aber aus unerfindlichen Gründen, dass schon alles seine Richtigkeit haben wird. Und niemand hat sich den Namen des Abrissunternehmens gemerkt, der ja bestimmt an einem der LKWs gestanden haben muss.«

»Das bezweifle ich«, sagte Ada leise und mehr zu sich selbst als zu einem der Umstehenden.

Valerie trat vor und machte ein paar vorsichtige Schritte auf dem Beton, der genau dort ausgebracht worden war, wo einst ihr Zuhause gestanden hatte. »Das kann doch alles nur ein furchtbares Missverständnis sein.«

»Das glaube ich nicht, mein Schatz.« Ada war neben sie getreten und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Gerade diese recht stabile Betonplatte unter unseren Füßen lässt mich vermuten, dass da jemand ganz genau gewusst hat, was er tat.«

Valerie suchte ihren Blick. In ihren Augen schwammen Tränen. »Aber wer würde denn so etwas tun?«

Ada zuckte ratlos mit den Schultern. »Das kann ich dir auch nicht sagen. Sicher ist nur, dass kein Abrissunternehmen in ganz London zugeben wird, diesen Auftrag ausgeführt zu haben. Hier wurde ganze Arbeit geleistet bei dem Versuch, das Experiment ›Schrathaus‹ ein für alle Mal dem Erdboden gleichzumachen. Und um ganz sicher zu gehen, dass auch nichts mehr unter dem Fundament lauert, hat man den Erdboden mit Beton versiegelt. Ich finde das sehr effektiv.«

»Glücklicherweise ist niemand zu Schaden gekommen«, hörte Ada Derek sagen. »Diese Idioten hätten mir wahrscheinlich den ersten Stock auf den Kopf fallen lassen, wenn ich zu Hause gewesen wäre.«

»Sebastian«, flüsterte Valerie und eine Träne purzelte über ihre Wange. »Was ist aus Sebastian geworden?«

Ada verzog das Gesicht und drückte Valerie noch etwas fester an sich, die einen kleinen Laut der Verzweiflung ausstieß. Den Rücken Valeries mechanisch streichelnd, dachte Ada, dass es wohl weder für die Schwarzen Schrate in den Wänden des Hauses noch für ihr erwachsen gewordenes Haustier, Sebastian, irgendeine Rettung gegeben hatte. Dieser Vernichtung konnte niemand entkommen sein.

»Hör auf zu heulen.« Derek klang nun schon etwas zahmer. »Das Haus ist weg, jetzt weißt du es. Aber natürlich werde ich die Verantwortlichen dafür finden und auf jeden Penny verklagen, den sie besitzen. Du wirst sehen: In ein paar Jahren stehen wir beide finanziell besser da als je zuvor und lachen über diese ganze Sache.«

»Ist das das Äußerste an Trost, das Sie zustande bringen?«, wollte Teddy wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Halten Sie sich raus, ich habe mit meiner Frau gesprochen«, erwiderte Derek und lief schon wieder rot an. »Was haben Sie eigentlich mit meinem Sohn angestellt? Sitzt Paul jetzt allein in Ihrer Burg?«

»Landsitz«, korrigierte Teddy. »Natürlich nicht. Er befindet sich in der Obhut zweier ganz reizender Pu…tzfrauen.«

Jetzt war es Teddy, der unter dem warnenden Blick Adas rot anlief. Ihrer Meinung nach hatte es keinen Sinn, den Verstand Derek Dreyers mit so etwas wie der Existenz von Puken zu belasten.

»Das Haus ist mir egal«, rief Valerie jetzt leidenschaftlich aus. »Und auch das Geld, das es wert war. Ich will genau wissen, was hier passiert ist. Ob irgendjemand, irgendetwas …«

»… überlebt hat?«, flüsterte Ada. »Selbst wenn, er könnte ohne die Atemluft der Schrate, ohne die Bedingungen, die in ihren Gängen herrschten, hier draußen nicht überleben. Wäre Sebastian entkommen, wäre auch das sein sicherer Tod gewesen.«

»Ich will das nicht«, erwiderte Valerie unter Tränen. »Ich will eine andere Lösung, einen kleinen Hoffnungsschimmer.«

»Vielleicht tröstet es dich, dass ich noch immer etwas riechen kann.« Auch Teddy flüsterte jetzt, was Derek Dreyer nicht entging.

»Was riechen?«, wiederholte er. »Was geht hier vor? Handelt es sich etwa schon wieder um irgendwelche schwarzen Monster? Valerie, habe ich dir schon gesagt, dass mein Hausarzt glaubt, dass ich in jener Nacht eine stressbedingte Wahrnehmungsstörung hatte?«

»Was auch sonst?« Jig verdrehte die Augen. »Ich möchte nur sagen, dass ich nichts höre. Überhaupt nichts, was darauf hindeutet, dass unter diesem Betondeckel etwas lebt.«

»Aber ich rieche etwas«, beharrte Teddy.

»Hören, riechen, ihr habt doch alle einen an der Waffel.« Derek Dreyer versetzte Jig einen kleinen Stoß und streckte die Arme nach seiner Frau aus, die sofort einen Schritt rückwärts machte. »Liebling, lass uns noch einmal neu anfangen. Wir vergessen das alles hier und ziehen mit Paul in ein hübsches neues Haus mit viel Glas, wie es jetzt modern ist. Lass die Verrückten doch unter sich sein. Du gehörst nicht zu ihnen, du gehörst zu mir.«

Valerie rang um Fassung. Dann straffte sie die Schultern und antwortete: »Sieh doch ein, dass unsere gemeinsame Zeit vorbei ist, Derek. Ich habe mich in den letzten Wochen entwickelt, du aber nicht. Ich kann nicht mehr zurück, nie mehr. Und ich liebe dich nicht mehr.«

Dereks Arme fielen herab, als gehörten sie nicht länger zu ihm. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und verließ den Garten. Einen Augenblick später startete irgendwo auf der Straße ein Motor.

»Ich bin stolz auf dich.« Ada drückte Valerie den Arm. »Es ist nicht leicht, sein Leben hinter sich zu lassen.«

»Ich lasse Derek hinter mir, aber ganz sicher nicht Sebastian. Ich will, dass er überlebt hat«, erwiderte Valerie trotzig.

Ada (Band 2): Die vergessenen Orte

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