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Little Town of Bethlehem

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»Aber sollten die Schafe nicht auch Text bekommen, Jasper? Mal ehrlich: Das, was die Hirten von sich geben, ist nur debiles Gewäsch. Wäre es nicht lustig, wenn die Schafe den Hirten intellektuell überlegen wären?«

»Das wäre es ganz bestimmt, aber das hier ist ein Krippenspiel, Norma, und kein Gesellschaftsdrama. Und nimm bitte endlich diesen albernen Elchhelm ab, es gab keine Elche in Betlehem.«

Jasper Johnson, der Pfarrer einer aufmüpfigen Gemeinde in Mittelengland, war mit den Nerven am Ende. Da sich auch in diesem Jahr zu wenig freiwillige Kinder für ein Krippenspiel gefunden hatten, war er dem Rat seiner guten Freundin, der etwas kurz geratenen Krankenschwester Norma, gefolgt, an Heiligabend Erwachsene in seiner Kirche auftreten zu lassen. Doch er hatte nicht vorausgesehen, dass erwachsene Laiendarsteller noch schlechter zu handhaben waren als eine Horde Kinder. Jeder hatte eine eigene Meinung zum Drehbuch, jeder nahm eigenmächtig Verbesserungen des eigenen Textes vor und jeder quatschte ihm in seine Regiearbeit. Und jetzt hatte Norma, die auf ihrem Kopf einen Elchhelm mit blinkenden Schaufeln spazieren trug, es sich in den Kopf gesetzt, den Schafen das Wort zu erteilen.

Ein revolutionärer Gedanke, zweifellos. Zu revolutionär für einen genervten Pfarrer an einem Samstagabend.

Jasper konnte sich nicht erinnern, wann es in seiner Kirche das letzte Mal so laut zugegangen war. Vor dem Altar stand Maria, die im wirklichen Leben Una Porter hieß und den einzigen Friseurladen im Ort betrieb, und stritt mit Balthasar alias Jacob Gregory um ein blaues Seidentuch, das dieser als Turban, Una aber als Stola verwenden wollte. Gleich mehrere Hirten und Schafe planten ihren nächsten Herrenabend, während einer von ihnen geistesabwesend Mary had a little lamb auf der Gitarre zupfte.

»Baron, bitte«, ermahnte Jasper den Gitarristen und steckte sich demonstrativ die Zeigefinger in die Ohren. »Spiel nur, wenn die Hirten dran sind. Und hatten wir nicht besprochen, dass der dritte Hirte eine Flöte oder eine Leier spielen soll? Ich kann mir nicht vorstellen, dass vor mehr als zweitausend Jahren auf einem Feld bei Betlehem die Gitarre gezupft wurde.«

Baron Wiseman, der sich seine Brötchen mit einem eigenen Fotoladen verdiente, legte sein Instrument mit schuldbewusstem Blick zur Seite und antwortete: »Flöte ist öde und Leier habe ich keine. Sei nicht so streng mit mir, Jasper. Das ist künstlerische Freiheit.«

»Und dein Kostüm ist auch künstlerische Freiheit? Du bist der dritte Hirte und kein Cowboy.« Jasper zog sich die Finger aus den Ohren und deutete auf Barons Wildlederstiefel, die er zu Jeans und Lederjacke trug.

»Ich hab noch einen Poncho zu Hause. Sieht zwar mehr nach Clint Eastwood aus, geht aber sicher auch als cooler Hirte durch«, erwiderte Baron und grinste schief.

Cooler Hirte. Jasper beschloss, die Diskussion über ein passendes Instrument und passende Garderobe auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Zumal ihm jetzt jemand von hinten auf die Schulter tippte. Er fuhr herum und sah sich seinem Organisten Clifford gegenüber, der einige Noten unter den Arm geklemmt bei sich trug und ihn unsicher ansah.

»Hallo Clifford. Was gibt es?«

Clifford St. Clare, ein rundlicher Mann mit ebenso rundem Gesicht, akkurat gescheiteltem Resthaar und einer Vorliebe für einfarbige Pullunder, stand starr da und wich Jaspers Blick aus, als er leise sagte: »Ich wage ja kaum zu fragen. Bei all dem Trubel hier hast du gewiss genug um die Ohren, aber könnte ich dich kurz sprechen? Vielleicht nach deiner Probe? Es geht um die Tombola, die wir beim Gemeindefest hatten. Es ist mir wichtig.«

Obwohl der Mann leise gesprochen hatte, hatte Jasper sein Anliegen verstanden. »Natürlich, Clifford. Tombola. Gemeindefest. Klingt für mich, als wäre das schon eine Ewigkeit her, dabei war das erst Anfang Oktober. Und eine Ewigkeit wirst du wohl auch auf unser Gespräch warten müssen, denn das hier kann sich noch hinziehen.«

Jasper machte eine allumfassende Geste, um Clifford zu verdeutlichen, wovon er sprach. Dem Organisten war anzusehen, dass er bereits begriffen hatte. Der Lautstärkepegel war im Gotteshaus inzwischen noch weiter angestiegen. Auf der Bühne zerrten Maria und Balthasar noch immer an dem blauen Seidentuch, während sich Hirten und Schafe Stammtischwitze erzählten und Norma ihren Elchhelm mit beleidigtem Gesicht in die Krippe legte. Ihr so zum Vorschein gekommenes Haar war flammend rot. Auch wenn sie hartnäckig behauptete, es solle christbaumkugelrot sein.

Clifford lächelte den Pfarrer mitleidig an und sagte: »Das macht gar nichts. Ich muss sowieso noch rauf zur Orgel und ein paar Dinge für den morgigen Adventsgottesdienst vorbereiten. Wir sprechen dann später miteinander.«

»Fein«, antwortete Jasper. »Wenn du hinaufgehst, dann wirf doch mal kurz die Orgel an und hau so richtig kräftig in die Tasten, ja? So bekomme ich vielleicht kurzfristig Ruhe in diesen Haufen.«

»Klar. Mach’ ich gern«, erwiderte sein Organist, durchschritt die Kirche, erklomm eine schmale Holztreppe und war kurz darauf aus Jaspers Blickfeld verschwunden.

Eine quälend lange Minute später donnerten die ersten Takte von Beethovens Fünfter durch das Kirchenschiff. Wie erwartet, trat sofort verblüfftes Schweigen ein und alle Blicke wandten sich den Orgelpfeifen auf der Empore zu. Balthasar alias Jacob Gregory nutzte die Gunst des Augenblicks und brachte das Seidentuch in seine Gewalt.

Jasper ergriff das Wort: »Leute, so geht das nicht. Wenn wir nicht ein bisschen Ordnung in die Proben bringen, werden wir niemals bis zum Gemeindefest fertig!«

»Gemeindefest?«, fragte Baron und zupfte an seiner Gitarre. »Wieso Gemeindefest? Ich dachte hier geht es um das Weihnachtsfest.«

»Weihnachtsfest, das meinte ich natürlich. Clifford hat mich ganz durcheinandergebracht mit seinem Gerede von der Tombola. Aber das tut jetzt nichts zur Sache, das kläre ich später. Jetzt ist erst einmal das Weihnachtsfest dran. Und dafür ist es zwingend notwendig, dass alles auf mein Kommando hört. Zuerst werden Josef und Maria …«

Eine rasche Folge von Orgeltönen unterbrach Jaspers Monolog. Irritiert wandte auch er sich den großen Orgelpfeifen hoch auf der Empore über dem Eingang zu. Die Orgel spielte weiter und weiter. Dann brach das Spiel ab.

»Clifford!«, schrie Jasper. Denn auch, wenn es vom Kirchraum aus nicht möglich war, den Organisten hinter der Orgel zu sehen, hören konnte man einander, wenn man nur laut genug sprach. »Muss das wirklich jetzt sein?«

»Entschuldigung! Ist schon vorbei! Ich wollte nur etwas ausprobieren!«

Jasper grummelte etwas, das niemand außer ihm selbst verstehen sollte, und wandte sich wieder seinem Ensemble zu. Alle sahen ihn erwartungsvoll an. Jasper sprach rasch weiter, solange er noch ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte: »Bildet Gruppen und geht eure Texte durch. Aber leise, bitte. Die Heilige Familie übt am Altar, die Hirten am Taufbecken und der Engel der Verkündigung schnappt sich zusammen mit den Heiligen Drei Königen die Kostümkiste und stattet alle Herrscher fachmännisch aus. Und schaut nach, ob ihr noch etwas Passendes für den dritten Hirten findet.«

Der Engel der Verkündigung, der normalerweise im Drogeriemarkt jobbte und Grace hieß, neigte lächelnd seinen goldgelockten Schopf, hakte sich bei Balthasar unter und führte den Alten zu einem Umzugskarton, der auf der vordersten Bank stand. Leichtes Gemurmel erhob sich, als alle Jaspers Anweisungen Folge leisteten. Jasper atmete tief durch und gesellte sich zu den Hirten, um ihrer Textprobe zu lauschen. Viel hatten sie nicht zu sagen, doch der Text unterschied sich deutlich von den Witzen, die sie bisher während dieser Probe zum Besten gegeben hatten.

Für einige Minuten wurde es friedlich in seiner kleinen Kirche, einem bescheidenen Bau aus der Nachkriegszeit. Dann erhob sich erneutes Stimmengewirr. Josef, verkörpert durch Unas Ehemann, Ralph Porter, hatte seine Textpassagen über Gebühr verlängert und sich damit den heiligen Zorn seiner Gattin zugezogen. Jasper ging zu ihnen an den Altar, in der Absicht, zwischen den Eltern des Heilands zu vermitteln.

»Es ist nicht richtig, wenn Josef mehr zu sagen hat als Maria«, rief Una, als sie Jasper kommen sah. Sie war puterrot angelaufen.

»Josef ist schließlich der Mann im Haus und dieses Weib hat ihm Hörner aufgesetzt. Ich wette, Maria durfte bei Josef überhaupt gar nichts mehr sagen«, verteidigte sich Ralph, doch er schien seine Worte nicht klug gewählt zu haben.

»Wer hat hier wem Hörner aufgesetzte, hä?«, schrie Una und warf ihrem Mann die Babypuppe, die sie gerade noch durch die Luft geschwenkt hatte, vor die Brust. Der Dialog schien soeben die Ebene des Krippenspiels verlassen zu haben.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Jasper und meinte sich damit selbst genauso wie die beiden Zankhähne. »Und hör auf, mit der Puppe zu werfen, Una. Die ist eine Leihgabe und ihre kleine Besitzerin möchte sie in unbeschadetem Zustand zurückhaben. Ralph? Du hast den Text, der im Drehbuch steht und nicht eine Zeile mehr. Wenn du meinst, dass du im Stück zu kurz kommst, darfst du gerne am Heiligabend auch noch die Kollekte einsammeln.«

Ralph murrte zwar, reichte aber die nackte Babypuppe zurück an seine Frau und verhielt sich in den kommenden Minuten friedlich.

Währenddessen war der Geräuschpegel in der Kirche wieder angeschwollen. Die Hirten lachten schon wieder über irgendeinen niveaulosen Schenkelklopfer, die Könige verhandelten über ihre Umhänge, und über allem klimperte Clifford gerade erneut ein paar Töne auf der Orgel. Jasper wünschte sie alle zum Teufel und sich selbst vor seinen Kamin im Pfarrhaus und eine Tasse heißen Grogs als Dreingabe. Doch irgendwie schaffte er es, erst sich selbst und dann alle anderen erneut zur Ordnung zu rufen. Um Clifford brauchte er sich nicht zu bemühen. Sein Spiel brach kurz darauf dankenswerterweise mit einem leicht schrägen Akkord ab.

Für kurze Zeit arbeiteten alle harmonisch an der Darstellung der Heiligen Nacht. Doch dann brach ausgerechnet Norma einen Streit über das Bühnenbild vom Zaun, eine Diskussion an der sich jeder der Anwesenden beteiligte, woraufhin Jasper die Probe für beendet erklärte und alle aufforderte, den Kirchraum in einen ordentlichen Zustand zu versetzen, bevor sie sich bitte auf den Heimweg machten. Noch auf dem Weg zur Kirchentür stritten Una und Ralph darüber, wie viel Text dem Stiefvater des Jesuskindes gerechterweise zustand.

Jake, einer der Hirten, im Schlepptau seine chinesische Freundin Bo, die den König Kaspar aus dem Morgenland gab, was Jasper als herrlich absurd empfand, klopfte Jasper zum Abschied auf die Schulter. »Nimm es nicht so schwer. Es sind ja noch ein paar Tage bis Weihnachten. Dein Gott hatte auch nur eine Woche Zeit, um die ganze Welt auf Vordermann zu bringen. Da wirst du doch nicht vor einem Krippenspiel kapitulieren.«

Jasper musste grinsen und fühlte sich etwas getröstet. »Es ist nur wegen der Lautstärke. Ich bin kein Freund hoher Geräuschpegel.«

Bo nickte mitfühlend. »Wir sagen Baron, er soll die Gitarre nächstes Mal zu Hause lassen und sie erst zur Generalprobe wieder mitbringen. Oder vielleicht versucht er es doch noch mit einer Flöte?« Winkend verließen beide die Kirche und endlich kehrten wieder Ruhe und Frieden in Jaspers Kirche ein.

Es wurde so ruhig, dass Jasper Clifford oben auf dem Orgelboden fast vergessen hätte. Die Finger schon auf dem Lichtschalter rief er hinauf: »Clifford? Komm mit rüber zu mir, wir besprechen das, was du auf dem Herzen hast, am Kaminfeuer! Mrs Hobbs macht uns sicher einen heißen Grog!«

Die Antwort war Schweigen. Unwillig stapfte Jasper zu der schmalen Holztreppe und stieg die ersten Stufen hinauf.

»Clifford? Es ist schon spät! Mach Schluss da oben und lass uns zusammen einen Grog trinken!«

Wieder keine Antwort. Jasper stieg höher und befand sich bald in dem Raum hinter den Orgelpfeifen. Hier war der Platz des Organisten, hier häuften sich Notenhefte und manch anderer Krempel. Der Raum war fensterlos und dunkel, doch die Lampe über den Tasten des Instruments strahlte hell und ließ das Elfenbein schimmern. Jasper sah, dass der Platz vor der Orgel verlassen war. Doch vor dem leeren Stuhl lag etwas auf dem Boden. Etwas, das Jasper entfernt an ein biblisches Motiv erinnerte. Jemand schien unter einer schweren Last zusammengebrochen zu sein.

Eine böse Vorahnung befiel Jasper und sie sollte sich als richtig erweisen. Ein Blick auf den verwüsteten Scheitel des niedergestreckten Organisten und in seine erstarrten Gesichtszüge machte deutlich, dass hier ein Mensch den Tod gefunden hatte. Und auf dem Toten lag noch immer sein Mörder. Es war das tiefe D. Jasper sprang auf Clifford zu, wobei er es vermied, die Orgelpfeife zu berühren, griff nach dem Handgelenk und tastete nach dem Puls. Er fand keinen, tastete erneut und schloss für einen Moment die Augen, um nicht in die weit offenen des anderen blicken zu müssen. Seine Bemühungen waren sinnlos, und er wusste es.

Einen Moment lang hockte Jasper noch wie innerlich zu Eis erstarrt vor der Leiche seines Organisten, dann richtete er sich auf und seine Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung. Wie er die Treppe heruntergekommen war, wusste er später nicht mehr zu sagen, auch der Weg bis zur Kirchentür blieb ihm nicht im Gedächtnis. Erst als er draußen stand und die nasse Kälte des Dezemberabends ihn frösteln ließ, war er wieder ganz Herr seines Handelns. Und er fand, dass sein Unterbewusstsein und seine Füße ihre Sache gut gemacht hatten, denn vor ihm erstrahlten in der Dunkelheit die hell erleuchteten Fenster des Gemeindehauses. Dort würde er die Hilfe finden, die er jetzt so dringend brauchte.

So schnell er konnte, rannte Jasper über den Kirchplatz. Das Pfarrhaus, der Ort, an dem es ein Telefon gegeben hätte, interessierte ihn nicht. Das, was er suchte, war dort hinter den erleuchteten Fenstern des Gemeindehauses zu finden. Dort wurde an diesem Samstagabend Salsa getanzt, und das war auch der Hauptgrund gewesen, die Probe in den Kirchraum zu verlegen.

Schon vor der Tür hörte Jasper die hektischen Rhythmen und Gelächter. Man amüsierte sich prächtig, und Jasper war nicht gekommen, um jemandem den Spaß zu verderben. Aber er würde den Tänzern ihren Lehrer entführen müssen. Seinen besten Freund und den einzigen Detektiv im ganzen Dorf, Colin Duffot.

Colin, der als Tanzlehrer im Ruhestand hierher nach Mittelengland gekommen war, hatte der Tanz hier wieder eingeholt. Zum Detektiv hatte ihn das Schicksal gemacht, das ihm in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Mordopfern beschert hatte. Und jetzt war es wieder einmal so weit. Sein Freund musste ermitteln.

Die Melodie des Mörders

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