Читать книгу Die Melodie des Mörders - Miriam Rademacher - Страница 9

Here is Christmas

Оглавление

Das Klopfen an seiner Zimmertür riss Colin aus dem Schlaf. Ein Blick auf seinen Wecker neben dem Bett verriet ihm, dass er die Mittagszeit verschlafen hatte. Während das Klopfen an Lautstärke zunahm, stieg er aus dem Bett und stolperte fast über Huey, den der Krach nicht zu stören schien.

Als er die Tür öffnete, erwartete er, Lucy auf seiner Schwelle vorzufinden, doch es war Jasper. Feine Tropfen glänzten auf seinem Regenmantel und auf den runden Gläsern seiner Nickelbrille. Auf dem Kopf trug er einen Filzhut mit Krempe. Jasper sah nicht sehr erfreut aus.

»Wenn wir diesen Fall lösen wollen, dann ist das Bett ein schlechter Ort für deine Ermittlungen. Jetzt mach dich schnell ausgehfertig und komm mit mir auf Spurensuche. Mike Dieber und sein Chef sind auch längst auf den Beinen.«

Colin versuchte nicht einmal zu widersprechen. Während Jasper ihm einen Kaffee an der Küchenzeile aufbrühte, zog er sich einen warmen Pullover über, fand ein paar zusammenpassende Socken und eine noch recht saubere Hose und leinte Huey an.

»Du willst den Hund mitnehmen?«, fragte Jasper und hielt Colin den dampfenden Kaffeebecher unter die Nase.

»Nein, du wirst den Hund mitnehmen. Einmal die Straße rauf und runter, bitte. In der Zwischenzeit werde ich das Bad aufsuchen. Ich gehe nicht vor dem Zähneputzen auf Mörderfang.«

Begleitet von einem ungeduldigen Seufzer Jaspers tauschten sie Kaffeebecher gegen Leinenende. Kaum waren Pfarrer und Hund gegangen, verließ auch Colin sein Zimmer. Aber nicht, um das Bad aufzusuchen, sondern, um bei Lucy anzuklopfen. Doch im Zimmer seiner Freundin regte sich erneut nichts. Colin wiederholte sein Klopfen noch mehrere Male, dann gab er auf und widmete sich einer recht hastigen Körperpflege. Gerade als er das Badezimmer wieder verließ, kehrte Jasper mit Huey zurück.

»Fertig? Wunderbar. Dann lass uns aufbrechen. Wir treffen Norma vor Cliffords Haus und durchsuchen es gründlich. Vielleicht verrät uns das etwas über den Täter oder wenigstens über das Mordmotiv«, verkündete Jasper, schob Huey zurück in Colins Reich und schloss die Tür.

»Cliffords Haus? Sollten wir uns nicht zuvor noch einmal den Tatort vornehmen, um sicher zu sein, dass wir nichts von Bedeutung übersehen haben?«, fragte Colin.

»Nein, genau das ist leider völlig unmöglich. Hoffer und Dieber haben den Tatort nämlich abgeriegelt. An einem Sonntagvormittag! Ich musste meinen Gottesdienst ins Gemeindehaus verlegen. Glücklicherweise hast du gestern vergessen, die Heizkörper abzudrehen, sonst wäre mir meine Gemeinde noch vor dem ersten Amen erfroren!«

»Dann werde ich mich besser auch mit Hut und Schal gegen die Kälte wappnen«, meinte Colin. »Gib mir nur noch fünf Minuten, Jasper.«

Als er hinaus in Mrs Greys Vorgarten trat, wäre Colin fast schon auf den Eingangsstufen gestürzt.

»Vorsicht. Es ist glatt«, bemerkte Jasper, der hinter ihm ging. »Der Nebel der letzten Nacht hat sich niedergeschlagen und ist angefroren. An den meisten Stellen ist die Eisschicht zwar bereits wieder weggetaut, doch hier und dort eben noch nicht.«

»Vielen Dank für die leicht verspätete Warnung«, erwiderte Colin und sah sich nach der Dicken Bertha, dem Gemeindebus, um. »Du bist zu Fuß gekommen?«, fragte er Jasper.

»Wie bereits erwähnt: Es ist stellenweise sehr glatt. Außerdem haben wir nicht weit zu gehen. So ein Mittagspaziergang hilft beim Verdauen.«

»Ich habe nichts zu verdauen, ich hatte nur Kaffee«, quengelte Colin und wagte zaghaft den nächsten Schritt. Für dieses Wetter hatte er eindeutig das falsche Schuhwerk gewählt.

Auf ihrem Spaziergang durch das Dorf kam er noch zwei weitere Male ins Rutschen, was Jasper eine ironische Bemerkung über Tanzlehrer und Balance im Allgemeinen entlockte, die Colin ignorierte. Nach einer knappen Viertelstunde entdeckte Colin am Wegesrand Norma, die im Vorgarten eines blassgelb gestrichenen Bungalows stand und fror. Normas kleine Gestalt war von Kopf bis Fuß in einen unförmigen dunkelroten Sack gehüllt, den sie zweifellos selbst gestrickt hatte. Auf dem Kopf trug sie einen grellorangen Samtklumpen spazieren, den ein gütiges Herz als Hut bezeichnet hätte.

»Da seid ihr ja endlich«, rief sie zur Begrüßung und wedelte dabei mit einem Schlüssel. »Nehmen wir meinen oder deinen?«, fragte sie an Jasper gewandt.

»Deinen, da du ihn schon parat hast«, antwortete der Pfarrer und schritt den Gartenweg entlang.

Ihm folgend, rief Colin: »Kurze Zwischenfrage: Ihr beide habt einen eigenen Schlüssel zu Cliffords Haus? Wieso das denn? Wart ihr so gut mit ihm befreundet, dass er euch Hausschlüssel anvertraute?«

Norma grinste ihn an und hakte sich bei ihm ein, während sie Jasper folgten, woraufhin Colin erneut ins Schlingern geriet. »Fast jeder im Dorf hat einen Schlüssel zu Cliffords Haus. Clifford hat sie verteilt. An jeden, der ihm vertrauenswürdig erschien, nach ihm oder seinem Haus zu sehen, falls es einmal nötig sein sollte. Und in Cliffords Augen waren alle im Ort vertrauenswürdig. Wir waren seine Nachbarn und seine Freunde. Selbst denjenigen von uns, die genervt von seiner Anhänglichkeit stets versuchten, ihm aus dem Wege zu gehen, traute er nur Gutes zu.«

»In der Tat ein sehr gutgläubiger Mann«, stellte Colin fest.

»Das war er. Tritt dir die Schuhe ab, bevor du reingehst. Clifford war zudem auch ein sehr ordentlicher Mensch.« Mit diesen Worten schloss Norma ihnen auf und betrat als erste einen weiß gefliesten Flur. Fein säuberlich hingen Jacken für jede Jahreszeit an den Wandhaken gegenüber eines großen Garderobenspiegels, der mit Tannengrün aus Plastik und Zuckerstangen dekoriert war.

»Ich nehme mir das Schlafzimmer vor, Norma übernimmt die Küche«, verkündete Jasper. »Du, Colin, kannst mit der Suche im Wohnzimmer beginnen.«

»Und wonach genau suche ich?«, hakte Colin nach.

»Woher soll ich das wissen? Such nach irgendetwas, das uns weiterbringen könnte. Ein Drohbrief wäre schön. Am liebsten mit Absender. Aber man darf wohl nicht zu viel erwarten. Und lasst uns keine Zeit mehr verlieren. Auch Hoffer und Dieber haben einen Schlüssel zu diesem Haus. Falls sie also noch nicht hier gewesen sind, werden sie bald eintrudeln, und ich wäre Hoffer gern eine Nasenlänge voraus. Mit dem Absperren meiner Kirche hat er mir die Freude an meiner Adventspredigt verdorben, und das nehme ich ihm ausgesprochen übel.«

Colin sah Jasper dabei zu, wie der zielsicher die Schlafzimmertür ansteuerte und dahinter verschwand. Im Gegensatz zu seinen Freunden, die zweifellos schon einmal hier gewesen waren, kannte Colin sich im Hause des Organisten nicht aus. Er wählte probehalber eine der geschlossenen Türen, öffnete sie und stellte fest, dass er instinktiv richtig entschieden hatte.

Das Wohnzimmer des verstorbenen Clifford St. Clare wurde von einer wuchtigen Ledergarnitur in Dunkelbraun dominiert. Auf dem Fliesenboden hatte jemand orientalische Teppichböden im rechten Winkel zu­ein­an­der angeordnet und in hohen Regalen standen Lexika in Reih und Glied. Eine Verandatür, die auf eine Terrasse führte, tauchte die Wohnlandschaft in blasses Tageslicht.

Colin fand es bei Clifford recht gemütlich und nahezu penibel aufgeräumt. Kein Staubkorn lag auf den Krippenfiguren auf dem Kaminsims, die Colin jetzt eine nach der anderen in die Hand nahm und sorgfältig zurückstellte. Was er bei ihnen zu finden hoffte, wusste er selbst nicht. Er folgte seinem Gefühl und stieß auch rasch auf ein Bündel Postkarten, die neben dem Kamin in einem Regal lehnten. Aber es handelte sich nur um langweilige Weihnachtsgrüße. Danach öffnete er die Fächer einer Schrankwand und stieß als erstes auf eine gut ausgestattete Bar. Ihm wurde bewusst, dass Clifford seine Besitztümer praktisch und logisch angeordnet hatte. Das konnte hilfreich sein. Wo konnte sich hier etwas befinden, was ihnen bei der Suche nach seinem Mörder eine Hilfe sein konnte?

Colins Blick blieb an einer leeren Blumenvase hängen und er griff instinktiv hinein. Zufrieden zog er einen Schlüsselbund heraus, doch bei näherer Betrachtung hatten alle Schlüssel exakt den gleichen Bart. Zweifellos hatte er Cliffords Vorrat an Hausschlüsseln aufgespürt, mit denen dieser so großzügig gewesen war. Jetzt glitt sein Blick über die weiß getünchten Wände, die reich mit Bildern behängt waren. Landschaftsmotive, farblich gewöhnungsbedürftig, aber durchaus ansprechend auf Leinwand gebannt, fanden sich überall. Häufig zeigten die Bilder eine verfallene Farm auf einem Hügel. Die Signatur des Künstlers am rechten unteren Bildrand verriet Colin, dass Clifford selbst der Erschaffer dieser Werke war. Der Organist hatte in seiner Freizeit offensichtlich gern gemalt.

Da bemerkte er auf dem gefliesten Couchtisch zwischen den Ledersesseln ein hübsches Kästchen. Es stand gleich neben einem weihnachtlichen Kerzengesteck und erregte seine Aufmerksamkeit. Das würfelförmige Objekt schien aus verschiedenen Holzarten zusammengesetzt worden zu sein. Colin nahm es in die Hände und strich über die glatte Oberfläche. Kein Scharnier, kein Schlitz und kein Schloss wiesen darauf hin, dass der Würfel zum Öffnen gedacht war. Trotzdem hatte Colin das sichere Gefühl, dass es sich um eine Art Schatulle handeln musste. Vielleicht für Zigaretten oder Streichhölzer? Oder sogar für Notizen?

Zentimeter für Zentimeter erkundete er den seltsamen Gegenstand, versuchte es mit Drehen, Ziehen und Drücken. Doch der Würfel rührte sich nicht.

»Faszinierend nicht wahr?«, rief Jasper, der gerade her­ein­kam und sich in einen der Sessel setzte. »Es ist ein Taschentresor. Wenn man nicht weiß, wie er zu öffnen ist, kann man Stunden damit zubringen, den Mechanismus zu knacken.«

Colin setzte sich Jasper gegenüber, sank tief in die weichen Polster und versuchte, die einzelnen Holzelemente gegeneinander zu schieben. Nichts tat sich. Als er aufsah, bemerkte er, dass Jasper seine Bemühungen genau beobachtete.

»Wir sind uns also einig, dass dieser Tresor vermutlich das vielversprechendste Objekt im ganzen Wohnzimmer ist?«, fragte Colin. »Ich an Cliffords Stelle hätte ihn für wichtige Gegenstände genutzt. Das Ding könnte einen USB-Stick mit privaten Informationen enthalten, die uns auf die richtige Spur bringen.«

Aber Jasper schüttelte den Kopf. »Das ist mehr als unwahrscheinlich.«

»Warum?«

»Weil Clifford auch nicht wusste, wie man den Würfel öffnet. Er hat ihn auf der Tombola beim Gemeindefest gewonnen. Wir haben ein wenig Trödel im Dorf gesammelt und hinterher mit Hilfe der Tombola wieder unter die Leute gebracht. Alle hatten Spaß und von den Einnahmen konnte ich die Heizung in der Kirche reparieren lassen. Ich erinnere mich an dieses seltsame Ding. Ich selbst habe Clifford seinen Gewinn überreicht. Der Würfel schien mir Kleingeld zu enthalten.«

Colin stutzte und sah Jasper überrascht an. »Kleingeld? Wie kommst du denn darauf?«

»Weil es darin klapperte wie im Sparschwein von Mrs Hobbs.«

»Aber der Würfel klappert jetzt gar nicht«, stellte Colin fest und fragte nicht nach, was Jasper am Sparschwein seiner Haushälterin verloren hatte. Stattdessen schüttelte er den Tresor zur Bekräftigung seiner Worte leicht hin und her. »Hörst du?«

»Ich höre nichts«, stellte Jasper fest.

»Eben«, erwiderte Colin.

»Nun, dann hat Clifford den Mechanismus wohl irgendwann doch entdeckt und das Kleingeld herausgenommen. Ich weiß allerdings nicht, wie uns das …« Jasper verstummte mitten im Satz und legte die Stirn in Denkerfalten. Dann wiederholte er ein einzelnes Wort: »Tombola.«

Colin sah seinen Freund fragend an. Doch statt einer Antwort sprang Jasper auf die Füße und warf theatralisch die Arme in die Luft.

»Tombola, wie konnte ich das vergessen!«

Norma kam aus der Küche gerannt und sah zwischen Jasper und Colin hin und her. »Haben wir eine Spur?«, fragte sie aufgeregt.

»Das weiß ich nicht, unser Pfarrer spricht neuerdings in Rätseln«, erwiderte Colin und lehnte sich im Sessel zurück. »Nun mach schon, Jasper. Verrate uns, was du mehr weißt als wir.«

»Es hat etwas mit der Tombola zu tun. Ich weiß nicht was, aber die Tombola ist von Bedeutung. Clifford hat es mir selbst gesagt«, rief Jasper und schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Endlich ist es mir wieder eingefallen. Clifford kam während der Krippenspielprobe zu mir. Er wollte später noch mit mir unter vier Augen sprechen. Über die Tombola, wie er sagte.«

»Doch dazu kam es nicht mehr, weil er ermordet wurde«, stellte Norma fest und klatschte begeistert in ihre kleinen Hände.

Colin fand nicht, dass ein Mord Anlass zu freudigem Händeklatschen war, aber er fühlte, dass Jasper möglicherweise wirklich ein entscheidendes Puzzleteil wiederentdeckt hatte. Colin rieb sich die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Trotz des verschlafenen Vormittags war er noch immer müde. »Wer hat gehört, wie Clifford dich um dieses Gespräch gebeten hat? Hielt sich jemand in Hörweite auf?«

»Alle haben es gehört«, sagte Norma und ließ die Hände sinken. Sie sah plötzlich enttäuscht aus. »Und zwar deshalb, weil Jasper es ausgeplappert hat. Er verwechselte im Anschluss an sein Gespräch mit Clifford bei einer Ansprache an die Darsteller Weihnachtsfest und Gemeindefest und entschuldigte sich im nächsten Satz damit, dass Clifford ihn völlig rausgebracht hätte.«

»Was für ein Idiot man doch sein kann«, rief Jasper und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ich habe den Mörder erst darauf gebracht, dass Clifford mir etwas anvertrauen wollte.«

»Aber das konntest du doch nicht ahnen«, versuchte Norma ihn zu trösten.

»Und danach schlich sich der Mörder auf den Orgelboden, griff sich den erstbesten harten Gegenstand und sorgte dafür, dass ein vertrauliches Gespräch mit dir niemals stattfinden würde«, schlussfolgerte Colin.

»Richtig, aber wer war es?«, fragte Jasper und sank wieder in den Sessel. »Theoretisch könnte es jeder gewesen sein. Ich habe meine Augen ja nicht überall gehabt.«

»Mich darfst du aber gern ausschließen«, erklärte Norma. »Und damit auch den Engel der Verkündigung. Wir haben gemeinsam an der Kostümkiste gestanden.«

»Die ganze Zeit? Ich meine, du bist dir völlig sicher, dass Grace immer neben dir war?«, hakte Jasper nach.

»Ja! Nein. Das heißt … na, also die meiste Zeit über war sie in meiner Nähe. Möglich, dass ich mal kurz abgelenkt war, weil Maria und Josef sich wieder so herrlich stritten. Also, die beiden können wir wirklich ausschließen, die haben die ganze Zeit miteinander gezankt. Außerdem waren Una und Ralph ja schon bei unserem ersten Mördertanz unschuldig.«

»Das bedeutet gar nichts«, erwiderte Colin. »Aber wenn ihr zwei euch sicher seid, dass die beiden konstant miteinander gestritten und den Kirchraum nie verlassen haben, dann hätten sie ein Alibi. Seid ihr euch da sicher?« Colins Blick wechselte zwischen Norma und Jasper hin und her. Keiner der beiden sagte ein Wort. »Also nicht. Tja, dann können wir wohl vorerst keinen der Schauspieler ausschließen.«

»Bis auf Norma natürlich«, sagte Jasper. »Wenn ein blinkendes Elchgeweih versucht wegzuschleichen, dann fällt das jedem auf.«

Norma warf Jasper einen vernichtenden Blick zu, sagte aber nichts.

»Wie also finden wir unseren Mörder zwischen all den Schauspielern heraus?«, fragte Colin.

»Das erfahren wir nur, wenn du von deinen Talenten Gebrauch machst. Du musst beim Krippenspiel mitmachen. Du musst die Akteure tanzen lassen und sehen, was sie dir unfreiwillig dabei verraten«, schlug Norma vor.

»Das ist ein Krippenspiel und keine Revue«, entgegnete Colin.

»Aber du bist doch ein Profi deines Fachs«, warf Jasper ein und schlug sich damit sofort auf Normas Seite. »Du wirst einen Weg finden, wie du während der Proben ermitteln kannst, ohne dass es auffällt.«

»Ich habe noch nie von einem getanzten Krippenspiel gehört«, widersprach Colin. »Sollen Maria und Josef vielleicht auch noch singen? Möchtest du in deiner Kirche Jesus Christ Superstar Episode One inszenieren?«

»Kaum«, entgegnete Jasper. »Aber wenn dir nichts Passendes einfällt, dann werde ich mir eben selbst etwas überlegen müssen. Auf jeden Fall solltest du bei der nächsten Probe am Montagabend anwesend sein. Das ist übrigens morgen. Und bring deine Tanzschuhe und ein paar Weihnachtslieder mit. Mir kommt da gerade ein Gedanke. Es wird großartig werden.«


Als die Dämmerung hereinbrach, saß Colin wieder in seinem eigenen Sessel und drehte den Taschentresor erneut in seinen Händen. Er hatte ihn aus Cliffords Haus mitgehen lassen und nicht die Spur eines schlechten Gewissens. Das lag daran, dass Mrs Grey ihn bei seiner Heimkehr darüber informiert hatte, dass Hoffer erneut angerufen und daran erinnert hatte, dass Colin sich aus seinem Fall raushalten solle. Doch Hoffers Weihnachtswunsch würde sich nicht erfüllen. Dies war nicht allein Hoffers Fall. Colin hatte einen Auftraggeber. Jasper. Der Pfarrer wollte, dass sein Freund den Mörder seines Freundes fand. In die Polizei hatte er nicht genug Vertrauen und Colin konnte ihm das nachfühlen. Mike Dieber war nicht die hellste Kerze auf der Torte, und Hoffer war ein Ignorant, der noch das kleinste Feuer in seinem Sergeant ersticken konnte.

Zum wiederholten Male versuchte Colin jetzt, den Taschentresor zu öffnen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Da klopfte es zaghaft an seiner Tür.

»Es ist offen«, rief Colin und sah zu, wie Lucy eintrat. Sie wirkte gut gelaunt und brachte den Duft von heißem Einwickelpapier und Fett mit.

»Chips zum Abendessen!«, rief sie und hielt demonstrativ ein Päckchen fleckiges Zeitungspapier in die Höhe. »Ich bin heute noch nicht zum Essen gekommen. Und du?«

»Auch nicht. Brauchte deine Freundin Anne schon wieder seelischen Beistand?«, fragte er. »Die Arme muss ja wirklich große Sorgen haben.«

»Die hat sie auch. Und beschwere dich nicht, dass ich dir keine Nachricht hinterlassen habe, ich konnte keinen Kugelschreiber finden. Und da du ja niemals dein Handy mitnimmst, konnte ich dir auch keine SMS schicken«, erwiderte Lucy, legte das Fresspaket auf die Küchenzeile und Hut und Mantel über eine Stuhllehne. Sie trug dasselbe rosafarbene Kleid wie am vorangegangenen Abend.

»Du hättest mir über Mrs Grey etwas bestellen können«, bemerkte Colin und betrachtete den Würfel in seinen Händen. Lucy trat näher und nahm ihm den Taschentresor ab.

»Das hätte ich auch getan, wenn sie bei meinem Weggang zu Hause gewesen wäre. Aber sie hat vermutlich den Gottesdienst besucht. Was ist das für ein Ding?« Lucy betrachtete den Würfel mit gespieltem Interesse.

»Ein Taschentresor. Wer den Mechanismus kennt, kann ihn öffnen. Für jeden anderen ist es nahezu unmöglich, an seinen Inhalt zu gelangen.«

»Ach wirklich? Ist ja ulkig«, erwiderte Lucy und drückte drei Ecken des Würfels gleichzeitig mehrmals kurz hintereinander. Sprachlos beobachtete Colin, wie eine der sechs Würfelseiten mit einem Klicken herunterklappte. »Leer. Wie schade. Ach nein. Doch nicht. Hier ist ein gefalteter Briefumschlag drin. Womöglich die Gebrauchsanweisung.« Lucy reichte ihm das Papier.

Unwillkürlich hielt Colin den Atem an, als er den Umschlag öffnete. Er war leer.

»Steht wenigstens was drauf?«, fragte Lucy und setzte sich auf seine Sessellehne.

Colin nickte und starrte auf die beiden Worte, die jemand mit Kugelschreiber auf dem Umschlag notiert hatte: Mea Culpa. Wie seltsam. Er wusste nicht, was er zu finden gehofft hatte. Den Namen des Mörders sicher nicht. Aber irgendein brauchbarer Hinweis wäre nett gewesen. Oder handelte es sich hierbei etwa um einen brauchbaren Hinweis?

»Mea Culpa? Das sagt mir nichts. Ist das der Herstellername? Kommt das Ding aus dem Ausland?«

»Es ist lateinisch und bedeutet so viel wie: meine Schuld«, antwortete Colin.

»Komisch. Wer legt denn einen leeren Briefumschlag in einen Taschentresor?«, hakte Lucy nach.

»Das gilt es wohl herauszufinden.«

Die Melodie des Mörders

Подняться наверх