Читать книгу Der Tanz des Mörders - Miriam Rademacher - Страница 9

Bachata Alles kommt in Bewegung und die Luft wird schwül

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Ein penetrantes Klopfen weckte ihn noch vor seinem Bettgenossen. Colin warf einen Blick auf den schlafenden Hund, dann einen auf den Wecker, der direkt am Bett stand. Halb sechs. Das war keine Zeit für einen Tanzlehrer. Colin war es durch die langen Jahre im Freizeitgewerbe gewohnt, spät schlafen zu gehen, und die ersten Stunden des Tages gepflegt zu ignorieren. Wenn er nicht gerade Besorgungen zu erledigen hatte oder seine Spieleinsätze vom Dartspielen abarbeitete, konnte Colin auch ganz problemlos den gesamten Vormittag ignorieren. Wer immer da vor seiner Tür stand, hatte einen völlig anderen Lebensrhythmus.

Das Klopfen hielt weiter an. Colin spürte, wie er ärgerlich wurde. Er schwang die Beine aus dem Bett, was Huey dazu veranlasste, sich zu räkeln und hinter den Ohren zu kratzen, und marschierte zur Tür. Energisch riss er sie auf und sah in zwei unschuldig dreinblickende wasserblaue Augen.

»Hallo. Ich komme, um Huey für seinen Morgenspaziergang abzuholen. Haben wir schon eine Leine für ihn?«

»Wir?« Irritiert versuchte Colin sich einen Reim auf die Situation zu machen. Vor ihm stand, vollständig angezogen mit einem luftig-leichten taubenblauen Leinenkleid, das in modischer Sackform bis über ihre Knie hing, seine Nachbarin. Ihr Haar war hochgesteckt und sie duftete nach Rosen. Vermutlich noch eine schwache Note ihres Badezusatzes.

»Sie haben doch gestern gesagt, dass ich den Morgenspaziergang mit Huey übernehmen soll. Nun, hier bin ich. Und ich habe sicherheitshalber den Gürtel von meinem Morgenmantel dabei. Aber über kurz oder lang werden wir eine Leine für Huey brauchen. Wir könnten ja zusammenlegen, was meinen Sie? Ich denke, grün würde ihm gut stehen.«

Colin blinzelte mit seinen immer noch nicht ganz wachen Augen und besah sich sein Gegenüber genauer: Das hellblonde Haar war bewusst unordentlich auf dem Kopf zusammensteckt worden, so dass weiche Strähnen sich gelöst hatten und den schlanken Hals umspielten. Das herzförmige Gesicht war dezent aber sehr gut geschminkt, nur der Lippenstift erstrahlte in einem leicht grellen Rot. Das Sackkleid wurde vorn geknöpft und die obersten Knöpfe standen offen. Colin gewahrte einen weißen Spitzen-BH. Er konnte es nicht glauben. Diese Frau, kaum älter als Mitte zwanzig, versuchte ihn anzumachen! Ihn! Einen alten Knacker mit grauem Haar und angegriffener Gesundheit! War die Kleine blind oder blöd?

Hinter ihm trabte Huey heran, schob sich an seiner Wade vorbei und wedelte beim Anblick der jungen Frau fröhlich mit dem Schwanz.

»Ach, da bist du ja.«

Schon sank sie vor ihm in die Hocke, streckte die Arme nach Huey aus und gewährte Colin einen Einblick bis hin zu ihrem gepiercten Bauchnabel. Sackkleider hatten durchaus ihren Reiz.

Während Colin noch immer verwirrt auf die hübsche Aussicht blickte, wurde Huey an den Frotteegürtel geknotet. Sie richtete sich wieder zu voller Größe auf und strahlte ihn an.

»Wir sind dann in etwa einer halben Stunde zurück.«

»Wer ist wir?«

»Huey und ich?«

»Und wer ist ich?«

Sie lachte glockenhell. Hätte Colin noch irgendeinen Zweifel an ihren Absichten gehabt, dieses Lachen hätte sie augenblicklich ausgeräumt.

»Wie dumm von mir. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Dabei wohnen wir hier fast Tür an Tür und benutzen das gleiche Bad! Nicht zu fassen, oder?« Sie streckte ihm ihre kleine weiße Hand entgegen. »Ich bin Lucy.«

»Colin.«

»Ich weiß.« Sie lächelte kokett und wandte sich in Richtung Treppe, den ratlos auf Colin starrenden Huey hinter sich herziehend.

Colin studierte ihre zielstrebigen kleinen Schritte und die rollenden Hüftbewegungen und wusste, dass er gegen sie nur verlieren konnte. Wenn diese Frau sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn zu erobern, würde sie es auch tun.

Er atmete tief durch. Was für ein herrlicher Morgen.

Im Bad brauchte Colin an diesem Tag länger als gewöhnlich. Er scheitelte das volle ergraute Haar mit Hingabe, föhnte es mit einer leichten Welle zurück, zog probehalber vor dem an der Innenseite der Tür befestigtem Spiegel den Bauch ein, war leidlich zufrieden und beschloss den Kauf eines neuen Rasierwassers.


Die halbe Stunde war fast vorbei, als er hastig in eine legere Jeans und ein dunkelblaues Hemd sprang. Noch während der Suche nach seinen Schuhen klopfte es wieder energisch an der Zimmertür.

Colin fuhr in die Slipper, stürmte zur Tür und riss sie auf. Lucy strahlte ihn an und reichte ihm den Griff einer nagelneuen roten Hundeleine, an deren anderem Ende ein völlig erschöpft aussehender Huey hing.

»Ich habe ein Schnäppchen gemacht. Mit passendem Halsband. Steht es ihm nicht gut?«

»Oh ja, und es ist so grün.«

Lucy lachte und zeigte ihm eine Reihe perlweißer Zähne. »Ich muss jetzt zur Arbeit. Morgen früh komme ich wieder.«

»Wir freuen uns drauf«, erwiderte Colin und schleifte den auf der Schwelle zusammengesunkenen Huey ins Zimmer.

Lucy schritt davon und hinterließ nur eine süßliche Parfümwolke wilder Rosen.

»Na Huey, alter Kumpel? Ob wir zwei uns mit dem Mädel wohl etwas zu viel zumuten?«

Als Antwort gab Huey ein Schnaufen von sich.

Nachdem Huey und Colin gefrühstückt hatten, begann Colin die fällige Runde kleinerer Besorgungen beim Bäcker.

Er spürte die Veränderung, als er den Laden betrat. Im gleichen Augenblick, in dem über ihm das Glöckchen bimmelte, wandten die Damen hinter und vor dem Tresen ihm den Kopf zu und starrten ihn schweigend an. Colin versuchte es mit einem vorsichtigen Guten Morgen und erhielt statt einer Antwort nur ein knappes Nicken mit unbewegten Mienen.

Verunsichert bat er um ein halbes Graubrot und zwei Devonshire Dreams und verließ den Laden zügig wieder.

Auf dem Bürgersteig band er Huey vom Fahrradständer los, drehte sich um und blickte zurück. Die Damen starrten ihn durch die Glasscheibe weiterhin an. Eine Gänsehaut überlief ihn und die Haare auf seinen Armen stellten sich auf. Mit schnellen Schritten passierte er die Dorfstraße und betrat die Drogerie.

Der Alptraum schien sich wiederholen zu wollen. Das Glöckchen über der Ladentür bimmelte, als er eintrat, und alle Gespräche im Laden verstummten, alle Köpfe wandten sich nach ihm um. Colin begann sich zu fragen, was er heute Morgen falsch gemacht hatte. Klebte ihm Zahnpasta auf der Stirn oder hatte er etwas an der Nase?

Rasch und ohne jeden Enthusiasmus wählte er ein Aftershave, das jugendliche Frische versprach und brachte es zur Kasse. Hier wurde der Fluch für einen kurzen Moment gebrochen, als die Kassiererin ihren starren Blick um eine kurze und wenig freundlich klingende Frage bereicherte.

»Wer sind Sie überhaupt?«

Colin versuchte es mit Ehrlichkeit. »Colin Duffot? Der Mieter von Mrs Grey?«

»Das meine ich nicht. Wo kommen Sie denn überhaupt her?«

Colin wusste, dass nicht nur ihre Augen unbeweglich auf ihn gerichtet waren. Jeder Kunde im Laden schien nur ihn anzustarren. Anstelle einer Antwort legte er einen Geldschein auf den Tresen, murmelte etwas wie »stimmt so« und verließ fluchtartig das Geschäft. Draußen wagte er dieses Mal keinen Blick zurück. Er schleifte Huey am Lost Anchor vorbei und fragte sich, ob es für ein Bier wohl noch zu früh war. Doch es fehlte ihm tatsächlich an Mut, auch nur zu testen, ob die Tür schon aufgeschlossen war.

Stattdessen floh er zurück in die Behaglichkeit seines Zimmers, wo er sich zunächst im Spiegel einer genauen Musterung unterzog. Das Ergebnis war befriedigend und enttäuschend zugleich. Er sah aus wie immer. Er setzte sich in seinen Sessel, zog Huey auf seinen Schoß und versuchte, das Hochgefühl vom frühen Morgen zu rekonstruieren. Es gelang ihm nicht. Dann ließ er das seltsame Verhalten seiner Mitmenschen Revue passieren und fand trotz intensiven Grübelns keine Erklärung. Hatte er einen Fehler gemacht? Oder lag es vielleicht an Huey?

Er musterte den schlafenden Cocker auf seinem Schoß. Nein, Huey war genauso in Ordnung wie er selbst. Etwas anderes musste sich verändert haben. Es mussten die anderen sein. Die alteingesessenen Dorfbewohner. Sie hatten sich verändert. Aber warum?

Immer wieder blickte Colin auf seine Uhr. Die Zeiger wanderten träge über das Zifferblatt und ließen sich von seiner Unruhe nicht anstecken.

»Um die Mittagszeit im Lost Anchor«, hatte Jasper gesagt. War halb zwölf zu früh für die Mittagszeit? Es war fast elf. Wenn er ganz langsam ging, fast kroch, würde er den Anchor gegen halb zwölf erreicht haben. Er erhob sich, ließ Huey, der ihn nur kurz ungläubig anstarrte und dann weiterschlief, auf den Sessel gleiten und machte sich auf den Weg.


Beim Betreten des Lost Anchor fiel Colin ein Stein vom Herzen. Zum einen, weil sich nicht augenblicklich eine Grabesstille über den Raum senkte, als er ihn betrat, zum anderen, weil Norma und Jasper bereits wieder an dem runden Kaffeetisch mit der zerkratzten Marmorplatte hockten und ihm fröhlich zuwinkten. Erleichtert ließ er sich auf einen Stuhl fallen.

»Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, in einem schlechten Gruselfilm gelandet zu sein.«

»Was meinst du?«, fragte Norma und bedeutete dem Wirt, er möge Colin ein Bier bringen.

»Ich meine so etwas wie Die Körperfresser kommen oder Das Dorf der Verdammten oder was sonst noch unter diese Rubrik fällt, such es dir aus.«

Noch während er sprach, bemerkte Colin auf Jaspers Gesicht einen selbstgefälligen Ausdruck, der ihm nicht angemessen erschien.

»Was gibt’s denn da zu grinsen? Ich hatte einen absolut fürchterlichen Morgen. Alle haben mich angestarrt wie einen Außerirdischen. Ich weiß gar nicht, wann ich mich das letzte Mal so unwohl gefühlt habe.«

»Dann hatte ich also Recht. Es geht schon los. Ich wusste ja, dass sie nicht lange brauchen würden, um sich ein paar Opfer zu erwählen.«

»Opfer?« Colin bemerkte kaum das Bier, das gerade vor ihm abgestellt wurde. »Ich bin ein Opfer?«

»Natürlich bist du das. Und du bist eine verdammt gute Wahl. Du bist ein Fremder, noch nicht lange im Dorf, hast keine Familie, und niemand weiß, warum du überhaupt hier bist.«

»Weil es hier schön ist, verdammt nochmal!«

»War, Colin. Schön war. Bis zu diesen beiden Morden. Früher hat es hier nämlich keine Morde gegeben. Aber jetzt. Jetzt, wo du hier lebst. Verstehst du es jetzt endlich, Colin? Meine schöne Gemeinde mutiert gerade zum Hexenkessel.«

Colins Hand fand das Bierglas, hob es mechanisch an, traf den Mund und ersparte es sich so, antworten zu müssen. Er konnte es einfach nicht glauben. Und doch: Aus Jaspers Mund klang es logisch. In den Augen des ganzen Dorfes war er soeben zum potentiellen Gewaltverbrecher befördert worden. Norma tätschelte ihm den Rücken.

»Sei nicht traurig. Du bist nicht der Einzige, dem diese zweifelhafte Ehre zuteil geworden ist. Es gibt noch ein paar weitere Verdächtige in den Augen der Leute. Aber du stehst natürlich sehr hoch im Kurs. Zumal du Mrs Summers gefunden hast.«

»Lucy«, entfuhr es Colin, und er hätte es gern zurückgenommen, als er Jaspers unergründlichen Blick auf sich spürte. Stattdessen ergänzte er: »Sie ist auch fremd hier. Wird sie auch verdächtigt?«

»Lucy ist nicht fremd hier. Jeder kennt sie. Sie ist im Nachbardorf aufgewachsen«, sagte Norma und wandte sich zum Tresen um. »Wir hätten gerne drei Portionen Bratkartoffeln!«, rief sie quer durch den Schankraum. Irgendwo am anderen Ende wurde dies mit einem Grunzen beantwortet.

Colin sprach die Frage aus, die ihm auf der Seele brannte. »Wenn sie aus dem Nachbardorf stammt, warum wohnt sie dann bei Mrs Grey? Hat sie keine Familie?«

»Oh, doch. Und viel davon. Viel mehr, als sie verkraften kann. Aber das ist eine andere Geschichte«, meinte Jasper. Colin hätte die Geschichte gern gehört, vertagte dieses Gespräch aber auf unbestimmte Zeit, als Jasper sich jetzt vorbeugte und nach seiner Hand griff. »Wir müssen es beenden, Colin. Wir müssen den Mörder finden und Unschuldige wie dich vor dem Mob bewahren.«

»So weit wird es ja wohl nicht kommen. Dies hier ist Mittelengland und nicht der Wilde Westen. Niemand wird mich am nächsten Baum aufknüpfen.«

Er wollte lachen, doch Norma und Jasper blickten ihn so ernst an, dass es ihm verging. Er schluckte. Er dachte nach. Er dachte an die vergangenen Wochen, in denen er hier eine wirklich angenehme Zeit verbracht hatte. Er dachte an die Freundlichkeit der Dorfbewohner, die über Nacht verschwunden war. Und irgendetwas sagte ihm, dass er es auch nicht schlimmer machen konnte, als es schon war.

»Gut. Was werden wir also tun?«

Norma unterdrückte einen Jubelschrei und Jasper schlug vor Begeisterung mit der Faust auf den Tisch. Dann flüsterte er Colin über denselben hinweg zu: »Wir werden machen, was du am besten kannst. Wir werden tanzen.«

Der Tanz des Mörders

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