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Kapitel 1
ОглавлениеAlle guten Geschichten beginnen in einem Buchladen.
Meine nicht.
Sie begann genau genommen über einem Buchladen, einem staubigen Antiquariat gleich an der Gammelgade gelegen. Manchmal stieg ich die Treppe zu jenem Büchergrab hinunter und arbeitete dort. Immer dann, wenn Lasse Ostvin, der Inhaber, Besseres zu tun hatte, als selbst hinter dem Verkaufstresen zu stehen, und das kam mit zunehmender Häufigkeit vor.
Ich war kein Buchhändler. Aber das machte nichts, denn das Antiquariat war auch eher eine Sammelstelle für zerlesene Taschenbücher, doch wer würde denn so kleinlich sein?
Weder das Entstauben zerfledderter Strandlektüren noch das Verkaufen machte mir wirklich Freude, aber darauf kam es nicht an. Ich arbeitete dort nicht zum Spaß, ich arbeitete für Geld, und zwar aus dem einzig wahren Grund: Ich brauchte es zum Leben. Daher stand ich nicht nur gelegentlich für Lasse im Antiquariat, sondern schuftete auch für seinen Vetter Piet. Dieser betrieb ein Fitnesscenter in Fußnähe, und dort durfte ich mich an hausmeisterlichen Tätigkeiten versuchen. Ich ersetzte defekte Glühbirnen, reparierte tropfende Wasserhähne und ölte quietschende Foltergeräte. War die stets leidende und stark unterernährte Yogalehrerin mal krank, übernahm ich auch ihren Job. Ich konnte sehr vielseitig sein, wenn es von mir verlangt wurde.
Zu dem Zeitpunkt, als diese seltsame Geschichte ihren Anfang nahm, übte ich etwa fünf oder sechs verschiedene Tätigkeiten aus, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ganz sicher war ich mir über die genaue Anzahl meiner Arbeitsplätze nie, und manchmal hatte ich Angst, meine Arbeitszeiten, Einsatzorte oder Aufgaben zu verwechseln. Nachts träumte ich davon, wie ich potenziellen Käufern im Buchladen eine Meditation aufnötigte, während zur gleichen Zeit im Fitnesscenter alle Glühbirnen durchbrannten. In solchen Nächten wachte ich schweißgebadet auf.
Mein neuester Job war zugleich mein bequemster: Ich zählte die Nutzer der Gammelgade-Bushaltestelle. Um diese Aufgabe hatte ich mich wirklich gerissen, denn die Haltestelle lag genau gegenüber dem Antiquariat und meiner darüber gelegenen Wohnung. So konnte ich alles von meinen Fenstern im ersten Stock aus wunderbar überblicken. Ich betrieb gewissermaßen ein Homeoffice für Erhebungen in öffentlichen Verkehrsmitteln, das konnte mir so schnell keiner nachmachen. Zwischen zwei Bussen schrieb ich noch ein paar fiktive Briefe und tränentreibende Schicksalsberichte für die Daisy, ein Käseblatt, das täglich erschien. Der Bus, der die Gammelgade hinabfuhr, kam nur alle zwanzig Minuten vorbei, ich konnte beiden Aufgaben gleichzeitig gerecht werden. Und wenn ich den Bus und die von ihm aufgenommenen Fahrgäste wirklich einmal verpasste, weil ich mich zu sehr mit einer selbst erdachten Tragödie beschäftigt hatte, erfand ich ein paar realistisch klingende Zahlen für die Statistik. Diesbezüglich kannte ich keine Skrupel. Es war nicht wichtig, ob meine Zahlen korrekt waren, wichtig war, dass die Buslinie durch unseren Vorort erhalten blieb. Wir waren ohnehin schon weit ab vom Trubel Esbjergs, waren eine Randerscheinung am äußersten Zipfel der Stadt. In die Gammelgade verirrten sich nur selten Touristen, zahlreich fanden nur ihre alten Taschenbücher in vorwiegend deutscher Sprache ihren Weg in Lasses Buchladen.
Trotzdem tat man in der Gammelgade alles dafür, um auch am Tourismus zu verdienen. Der mäßige Erfolg tat diesen Bemühungen keinen Abbruch. Für die Touristen taten wir ganz gern so, als sei unsere Haupteinnahmequelle der Fischfang, doch das war natürlich Unsinn. Jeder Eisverkäufer verdiente hier mehr als ein Fischer, zumindest während der Sommermonate. Aber für die Reisenden, die sich an dem Anblick der hübschen Häuser mit ihren Fahnenmasten in jedem Vorgarten erfreuten, pflegten wir unser Image als beschauliches Fleckchen am Rande der großen Stadt. Der Mensch glaubt, was er glauben will. Meistens. Ich bin seit Beginn meines Abenteuers diesbezüglich eine Ausnahme. Mich lässt man nicht mehr glauben, was ich glauben will, mir werden Ansichten und Theorien aufgenötigt, die so abwegig und so haarsträubend sind, dass sich gesunde Menschen dagegen auflehnen würden. Aber ich habe keine Wahl. Nicht mehr.
Doch um das zu erklären, muss ich wieder zurückgehen. Zurück zu jenem Tag, an dem ich zumindest sporadisch die Nutzer der Buslinie an der Gammelgade erfasste. Dem Tag, der mein Leben auf den Kopf stellen sollte.
Der zweite Nachmittagsbus war gerade abgefahren, der letzte jammervolle Brief, den ich unter dem Namen Marijan, Alter 42, bei der Redaktion der Daisy abliefern würde, war geschrieben. Und so übte ich an einer von mir selbst erfundenen Yogafigur, die ich »Schwankende Schwalbe« getauft hatte. Sie sollte bei meinem nächsten Auftritt als Vertretungs-Yogalehrer zum Einsatz kommen.
Aus dem Fenster starrend, war ich auf der Suche nach meinem Schwerpunkt und irgendetwas, auf das ich meinen Blick richten konnte. Dabei ein bewegliches Objekt als Fixpunkt zu wählen, war allerdings nicht clever gewesen. Doch der schwarze Vogel, seiner Größe nach zu urteilen ein Rabe oder eine ungewöhnlich fette Krähe, der am gegenüberliegenden Haus den Rand der Dachrinne für eine Rast genutzt hatte, war mir sofort ins Auge gefallen. Und ich entschied mich als Fixpunkt immer für das Objekt, das mir zuerst ins Auge fiel. So versuchte ich, nicht umzufallen, und dabei das Tier im Blick zu behalten. Der Vogel starrte zurück.
Ich bin nicht sehr gut in Balanceübungen. Von allen selbst kreierten Yogafiguren waren es die einbeinigen, die mir die meisten Schwierigkeiten bereiteten. Und prompt begann ich zu wackeln, als die Rabenkrähe, oder was immer es war, ihre Flügel ausbreitete und majestätisch davonschwebte. Ich fiel ziemlich unmajestätisch in mich zusammen.
»Er beobachtet dich.«
Das war die Stimme meines Vaters. Er störte mich nicht oft bei der Arbeit, und wenn er es doch tat, dann ging es meist um etwas Wichtiges. Dieses Mal klang es eher nicht bedeutungsvoll.
»Vater, ich bitte dich«, gab ich zur Antwort, löste die rechte Fußsohle von der Wade und wandte ihm den Kopf zu, um ihm einen vorwurfsvollen Blick zu schenken. Doch der Aufmerksamkeit meines Vaters entging nur wenig.
»Du hast bereits gewackelt, bevor ich dich angesprochen habe, Smiljan. Versuch also bitte nicht, mir einzureden, dass es meine Schuld war.«
Ich versuchte es nicht. Stattdessen warf ich einen erneuten Blick aus dem Fenster und sah hinunter auf die Straße. Herbstblätter säumten den Rinnstein vor der Bushaltestelle, Autos fuhren deutlich weniger als noch während des Sommers, und außer ein paar Kindern, die sich einen Spaß daraus machten, sich gegenseitig mit Laub zu bewerfen, war kaum jemand unterwegs. Der Tag war grau und ließ schon den nahen Herbst erahnen.
»Niemand beobachtet mich«, stellte ich sachlich fest.
»Nicht dort unten, mein Junge. Dort drüben. Im Nachbarhaus. Der Gammelgade 104.« Mein Vater streckte den Zeigefinger seiner rechten Hand in eben jene Richtung, in die ich noch kurz zuvor geblickt hatte.
Unterhalb der jetzt vogelfreien Dachrinne fiel mein Blick auf eine Reihe von Fenstern. Hinter einigen hingen Gardinen, hinter anderen Jalousien, und in einem stand die Silhouette eines Mannes. Hinter ihm, in einer wie es schien leeren Wohnung, baumelte eine nackte Glühbirne von der Decke und sorgte dafür, dass ich ihn nur als Schatten wahrnehmen konnte. Die Gestalt hinter der Fensterscheibe im ersten Stock des gegenüberliegenden Hauses stand ebenso still wie ich selbst noch Augenblicke zuvor. Sein runder, allem Anschein nach kahler Kopf saß auf einem kurzen Hals über massigen Schultern. Es machte tatsächlich den Eindruck, als würde er zu mir herüberstarren, doch ganz sicher war ich mir nicht.
Bis vor Kurzem war diese gegenüberliegende Wohnung noch das Zuhause einer alte Dame gewesen. Auf ihren Fensterbänken hatten Petunien geblüht, und hinter eben jenem Fenster, durch das ich jetzt angestarrt wurde, hatte eine weiße Spitzengardine gehangen. Die Alte hatte mir manchmal ein Lächeln geschenkt, wenn sie am Fenster gestanden und ihre Blumen gegossen hatte. Doch eines Tages war die Dame buchstäblich weg vom Fenster, und ich war, während ich auf meine Busse wartete, dazu verdammt gewesen, den Petunien beim Welken zuzuschauen. Bald darauf waren die Spitzengardinen entfernt, die trockenen Petunien entsorgt, und die ganze Wohnung weiß gestrichen worden, was nur bedeuten konnte, dass die Alte dahin gegangen war, von wo niemand jemals zurückkam. So handelte es sich bei dem Beobachter hinter dem Fenster vermutlich um den neuen Mieter der Wohnung.
»Der Mann sieht sich nur seine Umgebung an«, sagte ich. Meinen Vater und den Fremden hinter dem Fenster bewusst ignorierend, bereitete ich mich auf den »Kuss des Buddha« vor, eine ebenfalls von mir selbst erfundene Übung.
Gerade hatte ich tief Luft geholt und die Arme gehoben, als mein Vater unser Gespräch fortsetzte. »Wie ein Insekt unter dem Mikroskop.«
Ich ließ die Arme wieder sinken. »Was willst du mir damit sagen?«
»Ich beobachte ihn schon eine ganze Weile dabei, wie er dich beobachtet, Junge. Er studiert dich. Der hat was vor, glaub mir.« Die Augen in dem früh gealterten Gesicht meines Vaters waren schmal geworden, und er nickte bedächtig, als habe er mir soeben eine große Weisheit verkündet.
Ich atmete vorwurfsvoll und deutlich hörbar aus, gab meinem Vater aber doch eine Antwort auf seine absurde Theorie. »Ja, sicher hat der Mann etwas vor. Er zieht gerade in diese Wohnung dort drüben ein.«
»Ach ja?« Die vielen Fältchen in seinem hageren Gesicht schoben sich zusammen. Er grinste sein wissendes Grinsen, das ich noch nie hatte leiden können. »Und wo hat er sein Leben gelassen?«
Ich gab auf. Der Buddha würde ungeküsst bleiben müssen, jedenfalls für heute. »Sein Leben? Was meinst du damit: Wo hat er sein Leben gelassen?«
Das Grinsen meines Vaters wurde noch eine Spur breiter. Überheblicher. Ich spürte einen Anflug von Ungeduld. »Niemand betritt eine neue Wohnung allein. Man bringt sein altes Leben mit.«
Jetzt ahnte ich, worauf er hinauswollte, und antwortete: »Vermutlich stapeln sich außerhalb unseres Sichtfeldes Möbel und Umzugskartons.« Dann bückte ich mich, um meine Yogamatte aufzurollen.
»Da ist nichts. Absolut nichts. Der Mann hat nichts mitgebracht, außer einen Kasten Bier. Und jetzt steht er da am Fenster und schaut dich an. Hast du was angestellt, Junge?«
»Ich?« Ich gab mir Mühe, nicht ironisch zu klingen, versagte aber kläglich. »Ob ich etwas angestellt habe? Du versuchst, witzig zu sein, oder? Oder unterstellst du mir, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt?«
Die Yogamatte unter dem Arm, schob ich mich an meinem Vater vorbei, dem meine Worte das Grinsen aus dem Gesicht gewischt hatten.
Meine Wohnung über dem Buchladen war eher von bescheidener Größe. An einem quadratischen Flur, gleich hinter dem Eingang, stießen die Türen von Bad, Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer zusammen. Das heißt, sie würden, wenn ich nicht die Wohnzimmertür entfernt hätte, weil ihr Glaseinsatz bei meinem Einzug sowieso schon gefehlt hatte. Ich brauchte eigentlich gar kein Wohnzimmer, ich brauchte einen Arbeitsplatz, und genau das war es, was dieser Raum nun war: Hier stand mein Schreibtisch nahe an einem der Fenster und meine Yogamatte lag unter einem anderen. Ein Werkzeugkasten mit allerlei Nützlichem und jede Menge Kleinkram für zukünftige Projekte stapelten sich in den Ecken. Der Raum sah so planlos aus wie es mein Leben war, doch beides vermochte ich derzeit nicht zu ändern.
»Er kommt rüber.« Mein Vater preschte an mir vorbei und rannte wie von Furien gehetzt in Richtung meines Schlafzimmers. Meines ehemaligen Schlafzimmers, denn ich hatte es auf unbestimmte Zeit an meinen Vater abgetreten. Seitdem schlief ich mehr schlecht als recht auf meiner Yogamatte.
»Vielleicht ist er gar nicht hinter dir, sondern hinter mir her. Hätte ich auch gleich drauf kommen können.« Mein Vater riss die Tür zum Schlafzimmer auf und drehte sich noch einmal zu mir um. »Wenn er fragt, du hast mich seit Monaten nicht gesehen, verstanden?«
»Ich habe dich seit Monaten nicht gesehen«, wiederholte ich geduldig und sah zu, wie mein alter Herr von der Bildfläche verschwand.
Dann trat ich ans Fenster und sah hinüber zu dem Fremden. Doch das Fenster im Nachbarhaus war jetzt leer. Die Glühbirne an der Decke spendete noch immer ihr gelbes Licht. Die Wohnung wirkte verlassen.
Da schrillte meine Türglocke.
Einen Moment lang zögerte ich. Ein seltsames Gefühl, eine Vorahnung überkam mich. So, als stünde eine entscheidende Wende in meinem Leben bevor. Statt zur Gegensprechanlage zu gehen, trat ich wieder ans Fenster, öffnete es und sah hinunter. Vor der Haustür, gleich neben dem Eingang zum Antiquariat, stand der kahlköpfige Fremde, der mich eben noch vom Nachbarhaus aus beobachtet hatte. Gerade drückte er ein weiteres Mal auf meinen Klingelknopf, woraufhin es hinter mir erneut zu schrillen begann. Ich stand noch immer still da und sah dem Fremden dabei zu, wie sich dieser hartnäckig in mein Leben klingelte. Und das seltsame Gefühl in meiner Brust verstärkte sich.
Jetzt hob der Mann den Kopf, suchte und fand mich, wie ich reglos dastand und auf die Straße hinunterblickte.
»Wollen Sie mich nicht hereinlassen?« Die Stimme des Mannes war laut, sein Dänisch verzerrt durch einen starken Akzent.
Ich erwog kurz, meinem Bauchgefühl zu folgen und den anderen genau dort zu lassen, wo er war. Doch stattdessen verließ ich meinen Beobachtungsposten und ging in den Flur. Während ich den Türöffner betätigte, lauschte ich meiner inneren Stimme, die mich zu erhöhter Wachsamkeit mahnte. Dann öffnete ich dem Fremden.
»Guten Abend.«
Ich betrachtete den Herrn, der die Treppe hinaufkam. Ein großer, breitschultriger Mann mit weit über hundert Kilo Lebendgewicht, ein rotgesichtiger Glatzkopf von etwa fünfzig Jahren, gekleidet in einen beigefarbenen Leinenanzug. Letzterer erschien mir zu edel für einen Umzugstag.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Irgendwie hoffte ich, dass ich das nicht konnte. Ich hatte weder Lust, dem Mann beim Einzug zu helfen, noch, mich länger mit ihm zu unterhalten. Da war ein Ausdruck von Überlegenheit im Gesicht des Fremden, der mich zutiefst abstieß. Und wenn es hier doch um meinen Vater ging? Das war das denkbar schlechteste Anliegen, mit dem der Fremde zu mir kommen konnte.
»Ja«, antwortete der andere jetzt. »Sie können mir helfen. Ich denke, Sie sind genau der Mann, den ich suche.«
Ich dachte an meinen Vater hinter der Schlafzimmertür und fühlte mich unbehaglich. Der Fremde überragte mich um Haupteslänge und seine Gesichtszüge wirkten so freundlich wie die einer englischen Bulldogge. Nur um überhaupt etwas zu tun, zog ich ein Haargummi aus der Tasche meiner Jogginghose und band mein schulterlanges Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Sie suchen einen Yogalehrer? Oder einen Hausmeister? Einen Texter vielleicht? Ich bin ganz gut in Schicksalsgeschichten, Sie kennen diese Blättchen?«, fragte ich und war mir ganz sicher, dass die Antwort Nein lauten würde.
»Nein.«
Ich hatte es ja gewusst.
»Darf ich eintreten?«
Jetzt hätte ich gerne meinerseits verneint. Doch der gesunde Menschenverstand und meine gute Erziehung warfen sich dazwischen und veranlassten mich, den Mann eintreten zu lassen. Rational betrachtet sprach nichts dagegen. Nichts, außer eben diesem warnenden Gefühl in der Bauchgegend und meinem Vater im Schlafzimmer.
»Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie zu mir führt?«, fragte ich meinen Besucher, wies ihm den Weg und deutete auf einen schon recht abgenutzten Ledersessel. Doch der Mann blieb stehen und sah sich in meinem Arbeitszimmer um. Mir wurde immer unwohler.
»Sie heißen Smiljan Sandhus?«
Ich nickte und setzte mich auf den Drehstuhl vor meinem Schreibtisch. Mit einer, wie ich hoffte, unauffälligen Bewegung schob ich die geschönte Haltestellenstatistik unter ein Journal. War ich etwa aufgeflogen?
»Sie leben und arbeiten hier in diesem Raum.«
Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Wusste der Kerl etwa, dass ich seit Wochen auf meiner Yogamatte schlief, weil mein Schlafzimmer von meinem Vater okkupiert worden war? Nein, das konnte er nicht wissen.
»Meistens«, gab ich zur Antwort. »Manchmal gebe ich Kurse in einem Fitnessstudio. Oder ich kümmere mich um die dort anfallenden Arbeiten«, ergänzte ich.
»Verstehe.« Der Fremde wanderte gemessenen Schrittes im Raum herum.
»Ich leider nicht«, gestand ich. Mittlerweile kam mir die Situation reichlich grotesk vor. Diese Unterhaltung glich einem Bühnenstück ohne Publikum.
Der andere verlor jäh das Interesse an meiner kargen Einrichtung und konzentrierte seinen Blick jetzt ganz auf mich. »Sie haben also eine Ausbildung zum Fitnesslehrer vorzuweisen? Eine Bescheinigung, ein Diplom oder dergleichen? Oder haben zumindest weitreichende Kenntnisse auf einem artverwandten Gebiet?«
»Ich kann gut anleiten.« Ich wusste, dass diese Worte eher nach einer Verteidigung als nach einer richtigen Antwort klangen.
»Und außerdem verfassen Sie herzzerreißende Texte für Klatschblätter. Übernehmen Sie auch noch andere Arbeiten?«
»Ich habe noch Kapazitäten frei.«
Der Fremde nickte. »Ja, natürlich haben Sie das. Ich erkenne einen Verlierer, wenn ich ihn sehe.«
Das war genau der Moment, in dem ich den Kerl einfach nur noch loswerden wollte. »Wenn Sie gekommen sind, um mich zu beleidigen, dann finde ich es großartig, dass Sie gar nicht erst Platz genommen haben. Finden Sie allein raus, oder soll ich Ihnen helfen?«
Die Worte klangen mutiger, als ich mich fühlte. Ich bin nicht gerade groß und eher das, was man schmächtig nennt. Auf Handgreiflichkeiten hatte ich mich schon zu Schulzeiten nie eingelassen, ich war mehr fürs Weglaufen bestimmt. Doch wie sollte ich guten Gewissens aus meiner eigenen Wohnung davonlaufen?
Noch immer erschien mir diese Szene unwirklich und der Mann vor mir war sehr groß und kräftig. Mit einer gewissen Erleichterung bemerkte ich jetzt ein schwaches Zucken im Mundwinkel des Fremden. Und auch wenn mir selbst nicht zum Lachen zumute war, entspannte es doch die Situation.
»Sie sind jung, nicht auf den Mund gefallen und vermutlich auch nicht auf den Kopf. Und Sie brauchen Geld«, fuhr er fort und stützte sich auf die Lehne des leeren Stuhls.
»Ich brauche kein Geld, ich verdiene genug mit meiner Arbeit«, erwiderte ich.
»Blödsinn.« Der Fremde verdrehte die Augen. »Sie haben keine vernünftige Ausbildung, keinen richtigen Job und dazu noch einen Vater zu versorgen, der im ganzen Land gesucht wird.«
Er wusste Bescheid. War er gekommen, um ihn zu holen? Aber was wollte er dann noch von mir?
»Sie werden nicht immer jung und gesund sein, Smiljan, das ist niemandem vergönnt, ganz egal wie oft man ins Fitnessstudio läuft. Wollen Sie mir erzählen, Sie könnten sich Rücklagen schaffen? Für die schlechten Tage? Und die werden kommen, Smiljan Sandhus, darauf können Sie wetten. Sie brauchen mehr Geld, als Sie jetzt verdienen, Junge. Viel mehr. Oder Sie werden höher verlieren, als Sie es sich jetzt vorstellen können.« Der Fremde ließ die Stuhllehne los und bewegte sich gemächlich auf die Wohnungstür zu. »Wenn Sie mir zustimmen, und Sie sind vielleicht klug genug, um genau das zu tun, dann habe ich einen Job für Sie. Einen guten und interessanten Job, und legal ist er auch noch. Ich gehe jetzt wieder rüber in diese Schuhschachtel, die eine Wohnung sein soll, und werde dort genau zwei Stunden auf Sie warten, Smiljan Sandhus. Das gibt Ihnen genug Zeit zum Nachdenken. Danach fahre ich ab. Zurück in mein eigenes Leben. Und Sie sehen mich nie wieder.«
Ich fand, dass das wie ein Versprechen klang, und beobachtete voller Erleichterung, wie der Fremde die Wohnungstür von außen schloss. Dann stand ich in meinem Arbeitszimmer und starrte vor mich hin. Während ich starrte, durchlief ich alle emotionalen Stadien, die einer solchen Begegnung angemessen waren. Es begann mit Empörung, die sich fast bis zur Wut steigerte, verlegte sich dann auf Verachtung gegenüber einem Fremden, der offensichtlich nichts vom Leben im Allgemeinen verstanden hatte, und schließlich begann ich zu rechnen.
»Geh da nicht hin, Junge. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache.« Mein Vater hatte natürlich gelauscht. Und entgegen meiner Vermutung, dass er sich für den Rest des Abends im Schlafzimmer verbarrikadieren würde, stand er jetzt hier vor mir.
»Wir brauchen wirklich mehr Geld, Vater.«
»Ich hab’ doch nur eine kleine Durststrecke, Junge. Alles wird wieder gut, vertrau mir. Noch ein paar Monate und dann werde ich …«
»Du wirst gar nichts«, erwiderte ich ruhig. »Sei froh, dass alle dich am anderen Ende der Welt vermuten und nicht hier bei mir. Lass es gut sein, ich werde eine Lösung für uns finden.«
Dann ging ich duschen. Ich hatte schließlich zwei Stunden Zeit. Unter dem Strahl des warmen Wassers rechnete ich weiter, überlegte kurz, die letzten Kontoauszüge zurate zu ziehen, tat es aber als sinnlos ab. Ich kannte meinen Kontostand. Abschließend kämpfte ich noch eine Weile mit meinem Stolz. Letzterer schrumpfte auf ein Minimum zusammen, nachdem ich einen Blick in den Kühlschrank geworfen und das letzte halbe Bier getrunken hatte. Die letzte Käsescheibe aß ich ohne Brot und mit einer gehörigen Portion Selbstverachtung. Und gerade als ich den Schlüssel einstecken und die Wohnung verlassen wollte, öffnete sich die Tür des Schlafzimmers erneut.
»Wer war der Kerl überhaupt, Smiljan? Weißt du das?« Die Augen meines Vaters blickten sorgenvoll aus dem unrasierten Gesicht, der grüne Morgenmantel, den er meistens trug, wies Reste von Eigelb am Revers auf.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Smiljan. Ich finde, es reicht schon, wenn ich mein Leben versaut habe. Handle du dir nicht auch noch Ärger ein.« Seine Stimme klang aufgeregt, und ich beeilte mich, ihn zu beruhigen.
»Ich höre mir an, was er zu sagen hat, und dann sehen wir weiter.«
Mein Vater runzelte die Stirn und fuhr sich durch das feine, farblose Haar. »Da geht es doch bestimmt um irgendwas Illegales.«
»Dann mach ich den Job nicht.« Er sah nicht überzeugt aus, und ich spürte, wie ich die Geduld verlor. »Ich gehe jetzt. Wenn du dich so um mich sorgst, dann stell dich hinter die Gardine. Vom Fenster aus wirst du genau beobachten können, was sich in der Wohnung gegenüber tut.«
Ich flüchtete vor weiteren Nachfragen ins Treppenhaus. Ein paar Stufen später stand ich auf dem Bürgersteig und atmete die wohlvertraute Mischung aus Nachtluft und Autoabgasen. Es war kühl, der Sommer vorbei, und irgendwo lag schon der lange, stürmische Winter auf der Lauer. Im ersten Stock des Nachbarhauses brannte noch immer die einzelne Glühbirne. Ich überquerte die Gammelgade und klingelte kurzentschlossen bei Maiberg, denn dieser Name war der einzige, der erst kürzlich mit einem Streifen Kreppband über das ursprüngliche Klingelschild geklebt worden war. Kein dänisch klingender Name, wie ich fand. Gleich darauf hörte ich den Summer und lehnte mich gegen die Tür, die sogleich aufsprang. Schon beim Eintreten in den dunklen Hausflur hörte ich die Stimme des fremden Mannes.
»Ich wusste, dass Sie kommen würden. Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Kommen Sie rauf.«
In der fremden Wohnung des Mannes mit dem Namen Maiberg stand tatsächlich kein einziger Umzugskarton. Hinter allen weit geöffneten Türen herrschte gähnende Leere.
»Ist das jetzt Ihre Wohnung?«, fragte ich und machte ein paar Schritte vorwärts in den Raum mit der nackten Glühbirne. Es war die Küche, wie mir die Wasseranschlüsse an der Wand verrieten.
Maiberg gab keine Antwort. Stattdessen nahm er eine Bierflasche von der Bank des Küchenfensters, eben jenes Fensters, durch das er mich beobachtet hatte, öffnete sie und reichte sie an mich weiter.
Ich zögerte, daraus zu trinken, und sagte, was mir unter der Dusche am wichtigsten erschienen war: »Sie haben von einem legalen Job gesprochen und nur deswegen bin ich hier. Wenn ich merke, dass ich für irgendwelche krummen Machenschaften benutzt werden soll, dann werde ich nicht zögern …«
Maiberg griff in die Innentasche seines Sakkos und zog ruckartig etwas heraus. Ich hielt den Atem an, doch statt einer Waffe wurde mir unvermittelt eine Fotografie vor das Gesicht gehalten. Sie zeigte ein Mädchen mit ausdruckslosem Gesicht und Mireille-Mathieu-Frisur. »Sie ist Ihr Job. Sehen Sie sie genau an, denn daraus wird Ihre Arbeit bestehen: Sie genau anzusehen. Jeden Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und darüber hinaus. Schaffen Sie das? Wenn Sie gerade mal ein bisschen unterrichten müssen, kann Ihr Vater für Sie einspringen. Das wäre doch eine nette Abwechslung für den alten Mann. Wo er doch nun schon seit Wochen in der kleinen Wohnung dort drüben festsitzt. Und es wird noch viel Zeit vergehen, bis Gras über seine Verbrechen gewachsen ist.«
»Mein Vater ist kein Verbrecher«, widersprach ich. »Er hatte die besten Absichten, als er das Geld seiner Kunden und Freunde anlegte. Er hatte einen todsicheren Tipp bekommen, verstehen Sie?«
»Ja, diese Art Tipps kenne ich sehr gut.« Maiberg wedelte mit der Fotografie vor meinem Gesicht herum. »Interessanterweise liegen die Tippgeber meist kurz nach dem Platzen der Seifenblase an einem fernen Strand und zählen ihre Millionen, während andere wie Ihr Vater bis zum Hals in der Scheiße stecken. Aber was rede ich. Das sind Probleme, die mich eigentlich gar nichts angehen. Mir geht es einzig und allein um sie.«
Maiberg ließ zu, dass ich ihm das Foto aus der Hand nahm. Ich betrachtete das runde Gesicht genau und schätzte das Mädchen auf etwa dreizehn Jahre.
»Das ist ein Kind«, stellte ich fest und machte Anstalten, das Bild zurückzugeben, doch Maiberg nahm es nicht zurück.
»Sie ist dreiundzwanzig.« Die Stimme des anderen knarrte nicht mehr. Sie hatte eine warme Färbung angenommen. »Und ihr Name ist Katalie.«
Dreiundzwanzig, nur fünf Jahre jünger als ich selbst. Mir fiel es schwer, das zu glauben. Das Mädchen auf dem Foto trug einen Nickipullover und eine Cordhose. Kein Mensch trug heutzutage noch Cordhosen, schon gar keine junge Frau. »Katalie. Ein seltsamer Name. Habe ich noch nie gehört.«
»Ein seltsamer Name für ein seltsames Mädchen.« Die Stimme des Mannes war noch weicher geworden, seine Gedanken schienen für einen Moment abzuschweifen, doch dann klang er wieder ganz geschäftsmäßig, als er fortfuhr: »Sie wird hier einziehen. Katalie hat diese Wohnung von ihrer Großmutter geerbt, die vor einigen Wochen im Krankenhaus verstorben ist. Ihr ganzer Besitz ging an Bedürftige, nur diese Wohnung hinterließ sie ausgerechnet ihrer Enkelin. Katalie ist fest entschlossen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Deswegen und weil es so am besten ist, werden Sie von dem Tag ihres Einzuges an ein wachsames Auge auf sie haben, verstanden?«
»Nein«, gab ich unumwunden zu. »Was bedeutet es, ein wachsames Auge auf jemanden zu haben? Wie stellen Sie sich das vor?«
Maiberg deutete auf das Fenster und hinüber zu meiner Wohnung. »Sie werden morgens nachsehen, ob sie aufsteht, werden darüber wachen, was und wie oft sie isst, werden sicherstellen, dass sie jeden Abend heimkommt und beobachten, mit wem sie sich umgibt oder anfreundet.«
Mir kam ein Verdacht. Noch einmal betrachtete ich das Foto in meiner Hand genau. »Kann sie nicht auf sich selbst aufpassen? Ist Katalie behindert oder geistig zurückgeblieben?«
»Das konnte niemals nachgewiesen werden!« Maiberg klang jetzt aufgebracht und rang die Hände, hatte sich aber Sekunden später wieder in der Gewalt. Er räusperte sich und seine Stimme klang verlegen, als er weitersprach: »Katalie ist sonderbar, ja. Ihre Art, die Dinge zu sehen, ist einzigartig. Sie ist nicht ganz von dieser Welt.« Er machte eine ausladende Geste und wirkte nun gar nicht mehr wie der weltgewandte Mann, der mir in meinem Arbeitszimmer gegenübergestanden hatte. Jede Überheblichkeit war von ihm abgefallen. »Manchmal wären wir alle gern nicht von dieser Welt, nicht wahr? Aber unser Verstand folgt allgemeinen Regeln und Gesetzen und kann gar nicht mehr anders, als immer wieder auf denselben ausgetretenen Pfaden zu wandeln, verstehen Sie? Bei Katalie ist das anders.« Seine Arme fielen herab. »Um sie herum scheint die Wirklichkeit sich zu verzerren, wenn Sie mir folgen können.« Das konnte ich nicht, und meine Mimik hatte wohl auch genau das zum Ausdruck gebracht, weswegen Maiberg einmal mehr hilflos die Hände rang und sagte: »Sie werden es erleben, junger Mann. Und dann werden Sie verstehen, wovon ich rede. Sie und ich, wir sind beschränkt in unserer Gedankenwelt, Katalie ist das nicht.« Er rieb sich über den kahlen Kopf, auf dem jetzt Schweißperlen glitzerten. »Aber genau das macht die Realität zu einem gefährlichen Ort für sie. Jemand muss ein Auge auf sie haben. Jemand, der ständig in ihrer Nähe ist. Jemand, der in ihrer Nähe lebt und arbeitet. Jemand wie Sie.«
Jetzt glaubte ich, verstanden zu haben. Und ich beschloss geistesgegenwärtig, das Beste für mich aus dem Dilemma meines Gegenübers herauszuholen. »Haben Sie einen Zettel und einen Stift?«, fragte ich Maiberg.
Der Mann zog wortlos einen teuer aussehenden Kugelschreiber aus der gut bestückten Innentasche seines Jacketts und fand in der Tasche seiner Hose die Quittung einer Tankstelle. Beides reichte er mir. Ich drückte den Zettel an die weiße Küchenwand und notierte rasch eine Reihe von Zahlen.
»Was soll das?«, fragte Maiberg.
»Das ist meine Kontonummer und die Summe, die Sie mir monatlich überweisen werden. Beginnend mit dem Monat, in dem Katalie hier einzieht.« Ich reichte den Zettel an Maiberg zurück. »Und erwarten Sie bitte nicht, dass ich für den Preis eines gewöhnlichen Kindermädchens arbeite. Dass das ein Fulltimejob ist, den Sie mir da anbieten, ist Ihnen ja wohl klar.«
Maiberg zückte nun seinerseits eine Visitenkarte, die er mir überreichte. »Und dies ist die Mailadresse, an die Sie jeden Abend einen Bericht über Katalies Tätigkeiten der vergangenen Stunden schicken werden. Ist das auch klar?«
»Völlig klar.« Ich warf einen Blick auf die Visitenkarte.
Maiberg Industries.
Ich hätte eine höhere Summe auf dem Kassenzettel vermerken sollen. »Der Betrag, den ich von Ihnen für meine Arbeit verlange …«
»Ja?« Maiberg zog eine Augenbraue hoch.
»Liegt er oberhalb oder unterhalb ihrer ursprünglichen Preisvorstellung?«
Maiberg bleckte die Zähne zu einem kalten Grinsen. »Er liegt weit unter dem, was ich zu zahlen bereit gewesen wäre.«
Mist. Aber vielleicht ließ sich noch etwas mehr aus dem Mann rausholen. »Wenn der Job sich als anstrengender als erwartet entpuppen sollte, werde ich eine Lohnerhöhung fordern.«
»Er wird viel anstrengender, als Sie es erwarten, verlassen Sie sich darauf.« Maibergs Unterkiefer verkrampfte sich grimmig.