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Kapitel 2
ОглавлениеDrei Wochen später
Missgelaunt saß Tom Sawbarn am Steuer seines Kleintransporters und rumpelte viel zu schnell über den ausgefahrenen Kiesweg. Die leuchtenden Ziffern am Armaturenbrett ließen ihn wissen, dass es stramm auf fünf Uhr morgens zuging. Was für eine verschwendete Nacht, was für eine sinnlose Herumfahrerei, was für eine alberne Idee. Rund um Esbjerg gab es die herrlichsten Strände, aber nein, sie mussten ja die Küste hochfahren, bis zu dem einen, dem besten, dem vielversprechendsten aller Strände.
»Da vorne musst du abbiegen, Tom. Gleich dort drüben bei den zwei niedrigen Kiefern ist der nächste Parkplatz«, rief Kalle vom Beifahrersitz aus und fuchtelte mit seiner Hand vor Toms Gesicht herum. Kalle stank nach Schweiß, Frittenfett und Armut und wechselte nie seine Jogginghose oder seinen Pullover mit dem aufgedruckten Maskottchen eines Möbelhauses. Kalle war eine Nervensäge und hatte immer wieder blöde Einfälle, so blöde wie eben diesen. Aber er war noch immer einer von Toms besten Freunden. Und war es etwa Kalles Schuld, dass in seinem Leben seit ihrer gemeinsamen Schulzeit alles schiefgelaufen war? Manches war schon seine Schuld, dachte Tom und bog auf den nahezu verlassenen Parkplatz vor den grasbewachsenen Dünen ein. An der Einfahrt zu dem steinigen Platz wuchsen wenige krüppelige Kiefern und warfen bizarre Schatten im Mondlicht.
Manches war ganz eindeutig Kalles eigene Schuld gewesen. Vielleicht nicht der Verlust seines ersten Jobs, aber der Verlust aller folgenden schon. Vielleicht nicht das Scheitern seiner letzten Ehen, doch das der allerersten schon. Und jetzt hatte Kalle aufgegeben. Nicht alles und nicht völlig, aber die Dinge, auf die es Toms Meinung nach ankam, die hatte Kalle endgültig hinter sich gelassen. Das Streben nach einem festen Wohnsitz beispielsweise, die Suche nach einer Arbeit, einer richtigen Arbeit, die ihn ernähren und kleiden konnte. Stattdessen unternahm er Ausflüge wie diesen hier und Tom half ihm auch noch dabei.
»Nur ein anderes Auto zu sehen«, sagte Kalle und spähte hinaus auf den vom Vollmond beschienenen Parkplatz inmitten der Dünenlandschaft. »Das gehört sicher ein paar Teenagern, die sich gerade nackt und eng umschlungen durch die Dünen wälzen.«
Tom bezweifelte das. Der Strand am Gammelgab wurde selbst bei Tage nur von wenigen Sonnenanbetern heimgesucht, er lag weiter abseits der Ferienhäuser als die beliebten Touristenstrände. Und jetzt, da die Sommersaison vorbei war und die ersten kühlen Herbstnächte Einzug hielten, hatte dieser Ort auch für die einheimischen Liebespaare an Reiz verloren.
Kalles guter Laune tat der verlassene Wagen, der ganz vorn am Dünenweg geparkt war, keinen Abbruch. »Wir sind konkurrenzlos, Tom. Alles, was wir heute Nacht finden, gehört uns.«
Sein Freund schlug ihm mehrmals hintereinander auf die Schulter und riss die Beifahrertür auf. Tom zog den Zündschlüssel ab und stieg ebenfalls aus. Augenblicklich fuhr ihm der Wind durch das schwarze Haar und zerzauste es. Im Gegensatz zu Kalle, der jetzt mit Ende dreißig fast kahl war, hatte Tom sein volles Haar behalten.
»Der Wind steht richtig«, jubelte Kalle, schlug die Wagentür zu und marschierte zielstrebig in Richtung eines mit Stroh ausgelegten Pfades, der sie durch die Dünen zum Meer führen würde.
»Der Wind schon«, rief Tom und folgte dem Freund mit schnellen Schritten. Bald hatte er ihn eingeholt und fuhr etwas gedämpfter fort: »Aber abgesehen von der Windrichtung ist so ziemlich alles verkehrt. Es ist noch viel zu warm, um wirklich etwas zu finden. Dunkel ist es auch noch.«
»Es wird schon hell werden«, erwiderte Kalle. »Wird es jeden Tag. Und heute werden wir die ersten an der Wasserlinie sein. Alles gehört uns. In Blåvand hat man mir versichert, dass man mir alles abkaufen würde, was ich zusammenbringe.«
»In Blåvand? Du warst also wieder bei Sven«, stellte Tom fest und verdrehte die Augen. Sven hatte ebenfalls mit ihm und Kalle die Schulbank gedrückt. Und genau wie Tom hatte Sven, wann immer Kalle stinkend und hungrig bei ihm auftauchte, das Gefühl, seinem Freund aus Kindertagen irgendwie helfen zu müssen. Obwohl Sven als Juwelier seinen Bernstein längst zu günstigen Konditionen aus Russland bezog, kaufte er Kalle dessen Funde noch immer für viel zu viele Kronen ab.
»Diese Gegend ist perfekt für Bernstein.« Kalle verließ den mit Stroh ausgelegten Strandweg zugunsten eines Trampelpfades und erklomm die erste Düne. »Hier habe ich vor zwei Jahren meinen größten Bernstein gefunden. Und noch viele andere schöne Brocken.«
»Es ist nicht kalt genug für Bernstein. Und Sturm wäre besser als das bisschen Wind, das weiß doch jeder.«
Tom kam das ganze Unternehmen noch immer blödsinnig vor. Er wusste, dass der Bernstein bei niedrigen Wassertemperaturen nach oben getrieben und durch Sturm bis an die Küste gespült wurde. Der Sommer war keine gute Zeit zum Bernsteinsuchen, auch der frühe Herbst war es nicht. Je schlechter das Wetter, umso besser die Chancen auf Bernstein. Warum kurvte er also mehr als eine Stunde in aller Herrgottsfrühe durch die Landschaft, um Kalle an seinen Bernsteinstrand zu bringen, wo sie jetzt im September und ohne Sturm kaum fündig werden würden? Er konnte verstehen, dass Kalle lieber die unsinnigste und unproduktivste Arbeit auf sich nahm, als um Geld betteln zu müssen. Er konnte verstehen, dass es einen Rest von Stolz unter Kalles Dreckschicht gab, Stolz, den er hegte und pflegte, um ihn nicht auch noch zu verlieren. Aber dass er, Tom Sawbarn, ein hart arbeitender Gastwirt aus Esbjerg, deswegen um seinen Schlaf gebracht wurde, das sah er nicht ein. Rebecca hatte eben doch recht gehabt, als sie ihn vor Ausflügen mit Kalle gewarnt hatte. Der Schlafmangel würde ihm den Rest des Tages zu schaffen machen.
Der volle Mond hing wie ein großer, gelber Käse über den Dünen, die, je näher sie dem Wasser kamen, an Bewuchs einbüßten und in sandigem Weiß schimmerten. Tom konnte die Brandung des Meeres bereits hören, ohne den Strand zu sehen. Sie war nicht laut genug. Es würde kein guter Morgen für Bernstein werden, der, leicht wie er war, auf dem Wasser schwimmend den Strand erreichte und sich dadurch von allen anderen Steinen unterschied. Doch heute würde es außer Treibholz, Tang und leeren Eikapseln nichts zu finden geben. Aber vielleicht fand sich im Müll des Meeres ja etwas anderes Brauchbares, das Kalle zu Geld machen konnte. Irgendetwas, das dieser Aktion einen Sinn gab.
In diesem Moment entdeckte Tom die beiden Gestalten im Dünental zu seiner Linken. Und kaum, dass er wirklich begriffen hatte, was er dort sah, sank er schon in die Hocke und zog Kalle mit sich.
Kalle war nicht dumm. Er stellte keine Frage, ging kommentarlos zwischen dem lichter werdenden Strandgras in Deckung und spähte vorwärts. Tom suchte den Blick des Freundes und tippte sich vielsagend an das linke Ohr. Zum Rauschen des Meeres hatten sich die angestrengt klingenden Flüche eines Fremden gesellt. Die gesprochenen Worte endeten so abrupt, wie sie begonnen hatten. Stille folgte.
»Was geht da vor?«, raunte Kalle schließlich und machte Anstalten, sich aus der Hocke zu erheben.
Tom hielt ihn zurück. »Da vorn ist jemand. Da scheint etwas sehr Eigenartiges vor sich zu gehen.« Dieser Jemand war seiner Meinung nach ein Mann. Ein Mann, der etwas hinter sich herzog. Und dieses Etwas hatte Tom stark an einen schlaffen menschlichen Körper erinnert.
»Was meinst du damit?« Kalles Stimme war auf minimale Lautstärke herabgesunken, während er selbst jetzt den Hals reckte, um mehr sehen zu können. »Braucht jemand Hilfe?«
Tom schüttelte den Kopf. Die Gestalt vor ihnen hatte ihre Last nicht in Richtung Parkplatz geschleppt, sondern tiefer in die Dünen, fort von der Zivilisation. Was immer sich dort abspielte, sollte bestimmt in aller Heimlichkeit geschehen. Tom glaubte nicht, dass Zeugen wie er und Kalle zu diesem Zeitpunkt sehr willkommen gewesen wären. »Ich glaube, da schleppt jemand einen Toten mit sich herum«, erklärte er seinem Freund die Lage.
»Ach du Scheiße«, raunte Kalle zurück. Er schien angestrengt nachzudenken. Dann sagte er: »Jemand, den wir kennen?«
»Woher soll ich das wissen, kenn’ ich ganz Dänemark persönlich, oder was?«, zischte Tom. »Außerdem habe ich die zwei doch nur für eine Sekunde gesehen.«
In diesem Moment tauchte die Gestalt vor ihnen auf der Kuppe einer höher gelegenen Düne auf. Noch immer zog sie einen reglosen menschlichen Körper hinter sich her. Tom warf Kalle einen raschen Blick zu und stellte fest, dass sein Freund die Situation ähnlich einschätzte wie er selbst. Kalles Augen waren vor Entsetzen geweitet, seine linke Hand hielt er sich vor den Mund gepresst.
»Duck dich tiefer«, befahl ihm Tom.
Und während er selbst jetzt fast mit der Nase im Strandsand verschwand, sah er aus den Augenwinkeln, dass Kalle sich sogar noch weiter streckte, um einen besseren Blick auf das nächtliche Schauspiel zu haben.
Gleich darauf hörte er seinen Freund flüstern. »Ich glaube, du hast hast Recht, Tom. Der zieht wirklich eine Leiche durch die Landschaft. Und jetzt, jetzt …«
Kalles Gestammel war mehr, als Tom vertragen konnte. Auch wenn es ihm leichtsinnig erschien, hob er den Kopf, um zu sehen, was Kalle beobachtete, und stellte fest, dass die Silhouette des Mannes, jetzt scheinbar von aller Last befreit, Schritt für Schritt hinter dem Dünenkamm verschwand.
»Was ist passiert?«, wollte Tom wissen.
»Er hat den anderen einfach die Düne runtergeschubst und läuft nun seelenruhig hinterher«, stellte Kalle fest. »Da kullert gerade ein Toter über den Nordseestrand, ist das zu fassen? Ob er den hier draußen verbuddeln will? Den findet hier dann sicher keiner mehr wieder.«
Doch, dachte Tom. Wenn die Dünen weiterwandern, dann wird man ihn finden. Aber das konnte eine ganze Weile dauern. Laut sagte er: »Was sollen wir denn jetzt machen?«
»Abhauen natürlich«, antwortete Kalle. »Nur schade um den schönen Bernstein am Strand und all das Benzin, das du heute Nacht ganz umsonst verfahren hast.«
»Abhauen? Ist das dein Ernst? Da vorne entsorgt jemand den Körper eines Menschen zwischen den Dünen. Da können wir uns doch nicht einfach umdrehen und abhauen.« Doch schon wich Toms Empörung plötzlicher Klarheit. Natürlich mussten sie abhauen. Auf direktem Wege mussten sie zur nächsten Polizeistation fahren und dort berichten, was sie hier im Gammelgab beobachtet hatten. Das Kennzeichen des zweiten verlassenen Wagens auf dem Parkplatz würde er sich vorsorglich notieren, wenn sie wieder daran vorbeikämen. Es könnte die Polizei direkt zum Täter führen.
»Polizei«, entfuhr es ihm, und schon wollte er den Weg zurückkriechen, den sie gerade erst gekommen waren.
Doch Kalle hielt ihn zurück. »Gute Idee, Tom. Aber ich geh’ lieber allein. Ich nehme dein Auto und hole die Polizei hierher. Du beobachtest, was sich hier weiter tut. Ohne Leiche glaubt uns das hier nämlich niemand. Wir müssen wissen, was er mit dem Toten macht.«
»Wieso fährst du zur Polizei?«, begehrte Tom auf. »Wieso nicht ich? Es ist mein Auto.«
»Schere, Stein, Papier«, flüsterte Kalle und hob die Hand.
Einen Augenblick später hatte sein Stein Toms Schere geschlagen, und noch einen Augenblick später sah Tom seinen Freund den Weg zum Parkplatz zurückschleichen. Wie dumm, dass er Kalle nicht geraten hatte, sich das Kennzeichen des fremden Wagens zu notieren.
Noch immer rauschte das Meer. Er beobachtete abwechselnd den Zeiger seiner Armbanduhr und die Kuppe der Düne, hinter der der Mann mit der Leiche verschwunden war. Wenn der Kerl den Toten noch tiefer in die Dünenlandschaft zerren wollte, dann müsste seine Gestalt so langsam auf einem der weiter entfernten Dünenkämme auftauchen, oder etwa nicht? Vergrub er den Toten bereits in einer Senke? Und wenn ja, womit?
Tom dachte angestrengt nach, doch er konnte sich nicht erinnern, eine Schaufel bei dem Mann gesehen zu haben. Grub der Kerl etwa mit den bloßen Händen? Dann könnte die Polizei doch noch rechtzeitig genug eintreffen, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Was aber, wenn der Mann einen ganz anderen Plan verfolgte?
Plötzlich fröstelte Tom. Er hockte hier noch immer auf dem Trampelpfad, der vom Strandweg zur Wasserlinie führte. Dieser Weg war nur einer von vielen im Gewirr der Dünen, doch wenn jemand zu eben jenem Parkplatz zurückkehren wollte, dann war es nicht unwahrscheinlich, dass er hier entlangkam, um zu seinem Fahrzeug zu gehen. Hier, zwischen den Dünen, konnte der Fremde sich ihm von allen Seiten nähern: von links, rechts, vorn oder …
Tom blickte sich hektisch um. Er war ganz allein. Aber er saß auf dem Präsentierteller und musste wachsam bleiben. Noch zweimal drehte Tom sich in der Hocke um die eigene Achse, um alle Himmelsrichtungen im Blick zu haben. Dann war er es leid. Die Rolle des Verfolgten lag ihm nicht, lieber war er der Verfolger, und solange er noch nicht entdeckt worden war, befand er sich klar im Vorteil. Es war an der Zeit, diesen zu nutzen.
Langsam und auf allen vieren kroch Tom durch das stachelige Strandgras. Keinesfalls wollte er auf sich aufmerksam machen, indem er aufstand und, wie der Kerl mit der Leiche zuvor, eine scharfe Silhouette im Mondlicht abgab. Er krabbelte vorwärts, bis es plötzlich steil bergab ging. Ein kleines Stück ließ er sich den Hang hinunterrutschen, dann kam er auf die Füße und lief bis zum tiefsten Punkt des Dünentals. Kalter, weicher Sand rann ihm in die Turnschuhe, machte sie schwer und unbequem, doch Tom ignorierte es. So schnell er konnte, erklomm er die nächste Düne und spähte wie ein Indianer auf dem Kriegspfad vorsichtig über den Kamm. Vor ihm breitete sich ein weiteres Dünental aus weißem Sand aus. Und unter ihm, dort wo der steile Hang endete, lag eine menschliche Gestalt und rührte sich nicht.
Der Tote, dachte Tom und hielt nach dem Mann Ausschau, der die Leiche hierhergeschleppt hatte, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Inzwischen war die Nacht so weit vorangeschritten, dass der Himmel von Nachtblau in ein Bleigrau zu wechseln drohte. Tom konnte immer mehr Einzelheiten wahrnehmen und erkannte, dass der Körper unten im Dünental einen schwarzen Anzug, schwarze Schuhe und ein weißes Hemd samt Fliege trug. Er war gekleidet, als wäre er noch Stunden zuvor Teil einer vornehmen Abendgesellschaft gewesen. Tom begann sich zu fragen, warum der Fremde diesen Anzugträger bis hierher geschleppt hatte, um ihn dann einfach liegen zu lassen. Hatte er keine Zeit mehr gehabt, sein Opfer zu vergraben? Oder war der Mann da unten gar kein Opfer? Lebte er vielleicht sogar noch?
Tom kniff die Augen zusammen. Der Kerl unter ihm rührte sich nicht. Tom zählte bis zehn. Dann traf er eine Entscheidung. Er würde sich vergewissern. Rutschend erreichte er nur einen Augenblick später die Gestalt, die reglos im Sand lag, und beugte sich über sie. Während er mit der einen Hand nach dem Puls am Hals tastete, wanderte sein Blick immer wieder unruhig zum Dünenkamm hinauf. Was, wenn der andere doch noch zurückkehrte?
Nach einer gefühlten Ewigkeit war er sich sicher, dass der Kerl vor ihm im Sand keinen Puls mehr besaß. Der Körper war auch schon recht kalt und von seiner Kleidung ging ein deutlicher Uringeruch aus. Tom betrachtete das schmale Gesicht des Enddreißigers mit dem albernen Oberlippenbärtchen genauer. War er dem Typ nicht irgendwo schon einmal begegnet? Vielleicht in seinem eigenen Café? Nein, dort verkehrten einfache Leute, keine Männer mit Oberlippenbart im schwarzen Anzug. Und trotzdem kam ihm der Kerl irgendwie bekannt vor. Da bemerkte Tom auf Brusthöhe des Mannes eine Ausbuchtung im schwarzen Anzugstoff. Der Tote trug etwas in der Innentasche seines Jacketts spazieren. Vielleicht ein Handy oder eine Brieftasche, möglicherweise etwas, das Tom Aufschluss über die Identität des Mannes gab?
Er zögerte nur kurz. Dann schob er seine Hand zwischen Hemd und Revers, ertastete im Innenfutter die gesuchte Tasche und zog einen Gegenstand heraus. Das Ding sah aus wie ein Zigarettenetui. Tom war enttäuscht. Ohne sich etwas davon zu versprechen, ließ er das silberne Etui aufschnappen und blickte auf ein zusammengefaltetes Taschentuch, das einen seltsamen Geruch verströmte. Tom konnte sich keinen Grund vorstellen, warum jemand ein feuchtes und müffelndes Taschentuch in ein Zigarettenetui sperren sollte. Gerade wollte er das Kästchen schließen, um es zurückzustecken, als er instinktiv spürte, dass er nicht mehr allein war.
»Was machen Sie denn da?«, fragte eine fremde Stimme hinter seinem Rücken.
Tom fuhr zusammen, sprang auf die Füße und sah sich um. Die Stimme war vom oberen Rand der Düne her gekommen. Schon sah er eine einsame Gestalt, die sich ihm rutschend näherte. Ein Mann, groß gewachsen und auffallend dünn. Er kam allein und trug einen Benzinkanister in der linken Hand. Tom erkannte augenblicklich die Gestalt wieder, erkannte in ihr den Mann, der gerade diesen toten Körper mit sich geschleift hatte. Jetzt durfte er keinen Fehler machen, durfte nichts Falsches sagen. Der Mann könnte ein Mörder sein. Ein Mörder, der in Ermangelung einer Schaufel beschlossen hatte, sein Opfer mit Benzin zu übergießen und zu verbrennen. Was sollte einen solchen Kerl davon abhalten, einen weiteren Mord zu begehen, um einen lästigen Zeugen zu beseitigen? Tom öffnete den Mund, um eine Lüge zu erfinden, irgendeine Erklärung dafür, was er hier tat.
Doch der Fremde kam ihm zuvor. »Tom? Bist du das etwa? Junge, ich glaube, du hast gerade einen schlimmen Fehler gemacht.«
Nur wenig später in der Havnegade in Esbjerg
Seit einer geschlagenen Stunde versuchte Marta Jorgensen vergeblich, ihren Hausarzt zu erreichen. Natürlich waren die frühen Morgenstunden keine Zeit, um einen schwer arbeitenden Mann aus dem Bett zu klingeln. Doch die einzige Alternative für Marta war, eines der Krankenhäuser von Esbjerg aufzusuchen, und das war etwas, was sie unter gar keinen Umständen wollte.
Etwa seit Mitternacht hatte sich Marta nicht recht wohlgefühlt. Zunächst hatte sie an den Anflug einer Grippe geglaubt, denn die Symptome wie Kopf- und Gliederschmerzen inklusive einer schnell ansteigenden Körpertemperatur waren wie aus dem Nichts über sie hereingebrochen. Doch von einer Grippe ließ sie sich nicht Bange machen. Marta Jorgensen war achtundsiebzig Jahre alt, dies war nicht ihre erste kleine Influenza. Mit einer Grippe gehörte man eben ins Bett und in ein paar Tagen würde dann alles wieder gut sein.
Doch als sie weit nach Mitternacht aus dem Schlaf aufgeschreckt war, hatte sie am ganzen Körper gezittert und die Lymphknoten in Achseln und Leisten waren zwischenzeitlich so groß und so hart geworden wie Hustenbonbons. Kurz darauf hatte Martas Sehfeld angefangen, sich zu verzerren, und das war der Moment gewesen, in dem sie eingesehen hatte, dass sie dringend Hilfe benötigte. Nichtsdestotrotz war ein Krankenhaus der letzte Ort, in dem Marta sich wiederfinden wollte. Krankenhaus war für sie gleichbedeutend mit Endstation. Noch nie war jemand, den sie gekannt hatte, gesünder aus einem Krankenhaus herausgekommen, als er es betreten hatte. Man ging mit einer lästigen Blasenentzündung hinein und kam mit einer Krebsdiagnose wieder heraus. Da konnte man mal sehen, was Krankenhäuser den Menschen antaten.
Mit zitternden Fingern wählte sie erneut die Nummer ihres Hausarztes Jonas Bager. Er musste doch längst zu Hause in seinem Bett liegen. Aber der Mann schien einen gesunden Schlaf zu haben. Nach einer Weile sprang, wie schon bei den Versuchen zuvor, der Anrufbeantworter an, der sie aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Bis zu diesem Moment war Marta dieser Aufforderung nicht nachgekommen. Was sie wollte, war einen Arzt, nicht die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen. Jetzt aber, gepeinigt vom Schüttelfrost, kam sie der Bitte nach.
»Marta Jorgensen hier. Jonas, ich fühl mich, als ob ich sterben muss. Kommen Sie schnell und bringen Sie etwas von diesem Antispirin mit oder wie das Zeug heißt.«
Marta hustete ein paar Spritzer Blut auf das Telefon und legte auf. Kein Aspirin und kein Antibiotikum konnten ihr jetzt noch helfen. Doch das wusste sie natürlich nicht. Der Gedanke kam ihr erst, als das Atmen von Moment zu Moment anstrengender wurde. Jetzt wählte sie den Notruf, kam aber nur noch bis zur zweiten Ziffer. Ein Ende im Krankenhaus blieb Marta Jorgensen erspart.