Читать книгу Mississippi Melange - Miriam Rademacher - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеIch wusste zwar nicht warum, aber die Nachricht über die Hundeleine hatte Maiberg nicht nur verstummen lassen, sie hatte auch dafür gesorgt, dass er bis zum folgenden Morgen nicht auf meiner Fußmatte aufgetaucht war. Erleichtert, aber auch sehr müde saß ich am Fenster und sah hinüber zu Katalies Wohnung. Es war noch früh, gerade wanderte ein Zeitungbote schwer bepackt die Straße hinunter. Die verlassene Hundeleine am Straßenschild und den leeren Napf daneben würdigte er keines Blickes.
»Ist sie wieder da?«, hörte ich die Stimme meines Vaters fragen.
Ohne mich auch nur umzudrehen, schüttelte ich den Kopf. »Vielleicht wäre es an der Zeit, die Polizei einzuschalten.«
»Du kapitulierst also vor einem kleinen Mädchen? Das hätte ich nicht von dir erwartet, Smiljan.«
Jetzt drehte ich mich zu ihm um. »Was heißt denn hier kapitulieren, ich mache mir nur Sorgen um sie. Sie ist jetzt schon seit vier Tagen fort. Wir haben Herbst und sie trägt nur ein Sommerkleid und Ballerinas und läuft da draußen in einer Stadt herum, die ihren Verstand vermutlich bei weitem überfordert.«
»Überfordert?« Mein Vater lachte ein abgehacktes Lachen, das in ein Husten überging. »Das glaube ich nicht.« Wie stets trug er seinen Morgenmantel aus grünem Samt, noch immer glänzte das getrocknete Eigelb auf seinem Revers. Er war eine jämmerliche, unrasierte Erscheinung, und ich fragte mich, warum ich ihm überhaupt zuhörte. »Dieses Mädchen ist sehr pfiffig.«
Ich quittierte diese Feststellung mit einem abfälligen Schnauben.
»Ja. Das ist sie. Und wenn du dir einmal vor Augen halten würdest, wie geschickt sie die Genres in ihren Phantasiegeschichten bedient und dabei noch dein Verhalten in der jeweiligen Rolle berücksichtigt hat, dann müsstest du eigentlich zu dem gleichen Ergebnis kommen wie ich: Dieses kleine Mädchen ist dir überlegen, mein lieber Sohn.« Er zog eine zerknautschte Fernsehzeitung hinter seinem Rücken hervor und legte sie mir in den Schoß. Dann nahm er das Fernglas zur Hand und warf einen Blick hinaus auf die Straße. »Tatsächlich. Alles unverändert. Es wird allerhöchste Zeit, dass du deinen Kopf anstrengst, mein Sohn.«
»Genres?«, wiederholte ich eines seiner Worte, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Was willst du damit andeuten?« Mir kam der Verdacht, dass mein Vater schon zu lange ausschließlich Fernsehprogrammzeitschriften las.
»Zuerst hat sie sich selbst zur Prinzessin und dich zum Ritter gemacht und dir ihren Teufel aufgehalst, nicht wahr?«
Ich dachte an die Szene im Sukkertop gleich nach Katalies Verschwinden und nickte unwillig.
»Das war ein Märchen, Smiljan. Und sie hat es für dich erfunden.« Mein Vater nickte bedeutungsschwanger, ich aber beschloss abzuwarten, worauf er hinauswollte. »Und gleich danach hast du eine kleine Familiengeschichte erzählt bekommen. Der leidende große Bruder, der von seiner kleinen Schwester betreut wird. Klingt nach dem Auftakt einer Herzschmerzgeschichte, könnte aber auch einer Seifenoper entsprungen sein.«
»Nur weiter«, forderte ich ihn auf, als er sich grinsend auf der Fensterbank niederließ und die Arme verschränkte. »Erzähl mir mehr, was ich schon weiß.«
»Du weißt es, Smiljan, aber du hast nicht begriffen. Du solltest entweder mehr lesen oder mehr fernsehen.« Mein Vater klopfte mir sachte mit seinem knochigen Daumen auf den Scheitel. Langsam wurde ich ärgerlich und hoffte, dass er es mir ansah. »Dann folgte der Zahnarzt«, fuhr er ungerührt fort, »der eine Lücke schließen will. Ich bin mir nicht sicher, ob das unter Fachliteratur oder unter Realsatire fällt. Oder vielleicht Musical?« Er schaute mich fragend an. »Hat der Schuster eine ungewöhnliche Zimmerpflanze erwähnt? Na, egal.«
»Vielleicht ja unter Tod und Vernichtung«, schlug ich vor. »Bedient das Bild des Zahnarztes nicht irgendwelche Urängste in dir?«
Mein Vater ignorierte diese Bemerkung und schloss seine Aufzählung mit den Worten: »Und schließlich noch eine nette Agentengeschichte, die hat mich wirklich am meisten beeindruckt. Und dieses letzte Szenario führt schnurgerade zum nächsten, jedenfalls, wenn man mal ganz genau darüber nachdenkt, was die Angestellte bei Brugsen zu dir gesagt hat.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.« Und das meinte ich ehrlich.
»Wir suchen einen Bosse, nicht wahr? Bosse. Ein Name. Kein besonders schöner Name, wie ich finde. Aber doch ein bekannter Name. In einem Kinderbuch ist er mir mal untergekommen, meine ich, und damit wären wir wieder in einem neuen Genre gelandet. Kannst du mir folgen? Wie hießen die Freunde von diesem Bosse noch gleich? Es ist ja so furchtbar lange her, dass ich dir Kinderbücher vorgelesen habe. Lass mich mal nachdenken …«
Ich ließ ihn nachdenken, sprang aber selbst vom Stuhl und verließ im Sturmschritt meine Wohnung. Draußen auf der Treppe begann ich zu rennen und verließ das Haus, nur um es durch eine gläserne Ladentür erneut zu betreten.
»Smiljan!« Lasse Ostvin, mein Freund und gleichzeitig der Ladenbesitzer des Antiquariats, in dem ich in jüngster Vergangenheit nicht mehr ausgeholfen hatte, begrüßte mich mit einem Lächeln.
Ich lächelte nicht zurück. »Was weißt du über Katalies Verschwinden?«, rief ich statt einer Begrüßung und ballte meine Hände zu Fäusten, um sie nicht auf Lasses Schultern zu legen und ihn kräftig durchzuschütteln.
Lasse, ganz klassischer Bücherwurm in Strickjacke und mit wucherndem Vollbart, machte einen Schritt rückwärts und stieß gegen ein Regal voller Reiseführer. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Jetzt klang seine Stimme unsicher.
»Ob mit mir alles in Ordnung ist? Aber klar, wenn man mal davon absieht, dass ich mir langsam verarscht vorkomme. Du bist natürlich Bosse, wer denn sonst? Ole, Lasse und Bosse in einer Person, du alter Bücherdealer. Und jetzt raus mit der Sprache: Wo steckt Katalie? Und wieso kennt ihr euch überhaupt? Ich habe sie niemals die Gammelgade überqueren sehen. Sie war nie hier drüben auf unserer Seite der Straße.«
»D-doch, das war sie«, widersprach Lasse und rückte sich den Krawattenknoten zurecht, eine Angewohnheit, die immer dann durchbrach, wenn er nervös wurde. »Sie kommt immer als erste, ganz früh am Morgen. Manchmal steht sie schon vor der Tür und wartet, wenn ich hier ankomme.«
Ich runzelte die Stirn. Lasses Antiquariat öffnete um halb neun. Eine Zeit, die ich gern verschlief, wie ich zugeben musste, und bis heute hatte ich geglaubt, dass es Katalie ganz genauso ging. Denn wenn ich um halb zehn zum ersten Mal zu ihr rübergeschaut hatte, war sie meist noch im Schlafanzug gewesen. Oder wieder? Die Kleine hatte mich also erneut reingelegt.
»Und was hat sie hier gewollt?«, fauchte ich noch immer schlecht gelaunt, obwohl mir inzwischen bewusst war, dass Lasse an meiner Situation völlig unschuldig war.
»Bücher natürlich«, klärte Lasse mich bereitwillig auf. »Katalie liebt Bücher, sie sagt, wer ein Buch kennt, kennt eine Welt, wer mehrere Bücher kennt, kennt auch sich selbst. Klingt sehr weise, oder? Ich habe schon überlegt, ob ich mir den Satz ins Schaufenster hängen sollte. Auf einem Spruchband vielleicht.«
»Katalie hat überhaupt keine Bücher«, erwiderte ich in ätzendem Tonfall. Diesbezüglich herrschte meiner Ansicht nach Klarheit. »In ihrem Wohnzimmer befindet sich kein einziges Buch. Ja, nicht einmal in ihrer Küche steht ein Kochbuch auf dem Regal. Sie liest nicht. Nie.«
»Bist du dir da sicher?« Lasse klang ehrlich überrascht.
Ich wollte schon antworten, als ich doch noch einmal kurz nachdachte. Trotz Feldstecher konnte ich ja gar nicht in alle Räume der gegenüberliegenden Wohnung hineinsehen. Und wusste ich, was sie trieb, wenn sie mehrere Bierlängen – oder vielmehr Kaffeelängen – im Sukkertop verbrachte, während ich in der Kneipe gegenüber die Daisy durchblätterte?
»Was liest sie?«, fragte ich und bemühte mich, etwas gelassener zu werden. Leider halfen diese dämlichen, selbst erfundenen Atemübungen schon wieder nicht.
»Oh, einfach alles.« Lasses Augen strahlten. »Sie ist eine meiner besten Kundinnen. Sie hat eine Schwäche für besonders aufwändig gestaltete Einbände und Erstausgaben. Ganz egal, ob es sich um ein Nachschlagewerk oder einen Roman handelt.«
»Aha.« Ich wusste, dass das griesgrämig klang. »Und seit wann bist du ihr toter Briefkasten?«
»Ihr was?« Lasse nestelte schon wieder an seinem Krawattenknoten.
»Seit wann gibst du Nachrichten für sie weiter oder empfängst welche?«, hakte ich ungeduldig nach.
»Ach, jetzt verstehe ich.« Lasse lachte erleichtert auf. »Du bist der Milchbubi.«
Das war genau der Moment, in dem ich meinen Freund gerne an seiner Krawatte quer durch den Laden geschleift hätte, aber ich konnte mich bezähmen. Ich war die Ruhe selbst, ich würde bald die Yogastunden im Fitnesscenter ganz übernehmen. Und zwar an dem Tag, an dem ich bei Maiberg kündigen würde!
»Milchbubi?« Ich zog die Silben absichtlich in die Länge und beobachtete, wie Lasses Lächeln erlosch.
»Das hab nicht ich gesagt! Jedenfalls nicht zuerst. Katalie hat es gesagt. Sie meinte, ein Milchbubi würde kommen und mich nach einer Nachricht fragen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du damit gemeint warst.« Er hob abwehrend die Hände.
»Schon gut«, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Und wie lautet nun also diese Nachricht, du toter Briefkasten, du?«
»Also eigentlich ist es ja gar keine richtige Nachricht. Es ist ein Briefumschlag. Er lag heute vor der Ladentür.«
»Erst heute? Und er hat keine Briefmarke?«, fragte ich und spürte, wie ich mich schon wieder aufregte. Sie war heute in aller Frühe auf meiner Straßenseite an meiner Haustür vorbeigeschlichen und ich hatte sie nicht bemerkt. Wie erniedrigend konnte dieses Spielchen eigentlich noch werden?
Lasse schüttelte den Kopf und reichte mir einen großen braunen Umschlag.
Ich riss ihn gleich auf und heulte fast, als ich die neueste Ausgabe der Daisy in Händen hielt. »Was soll das? Die bekomme ich doch sowieso zugeschickt.«
»Ja, aber jetzt weißt du, dass eine Nachricht für dich drin sein muss, nicht wahr?« Lasse versuchte schon wieder, heiter zu klingen.
Ich klemmte mir die Daisy unter den Arm und wandte mich grußlos ab. Katalie und ihre Spielchen konnten mir gestohlen bleiben. Ich würde Maiberg noch heute schreiben, dass er sich einen neuen Spitzel für diesen Job suchen konnte. Die Kleine und ihre verrückten Einfälle gingen mich ab sofort nichts mehr an. Was zu viel war, war eben zu viel. Ich ließ mich nicht für dumm verkaufen.
»Sieht aus, als hätte der Postbote uns die Stromrechnung gebracht.« Mein Vater hatte ein ganz großes Talent dafür, einem schon frühmorgens den Tag zu versauen. »Und deine Telefonrechnung ist auch gekommen.«
Ich bedachte ihn mit dem bösesten Blick, den ich auf Lager hatte.
»Was ist denn los mit dir? Du hast doch in letzter Zeit einen Haufen Geld verdient. Und das auch noch auf höchst angenehme und gemütliche Weise. Da können dich doch ein paar Rechnungen nicht schrecken.«
Ich senkte den Blick und schob mich an meinem Vater vorbei. Wieder an meinem Arbeitsplatz vor dem Schreibtisch angekommen ging ich in mich und dachte nach: Es war die Arbeit für Maiberg gewesen, die eine neue Leichtigkeit in meinen Alltag gebracht hatte. Keiner meiner anderen Jobs brachte auch nur annährend gleich viel Geld ein. Wollte ich also wirklich diese Gans schlachten, nur weil Katalie mich ein bisschen an der Nase herumführte? Wollte ich nur des Stolzes wegen auf warme Leberpastete verzichten?
Ich haderte noch ein paar Minuten mit mir selbst. Dann schlug ich die neue Ausgabe der Daisy auf und begann zu lesen. Ich las das ganze Blatt von vorn bis hinten durch, ganz besonders der Bitte-melde-dich-Seite schenkte ich meine Aufmerksamkeit. Doch eine Nachricht, die für mich relevant gewesen wäre, konnte ich nicht entdecken.
»Kommen wir voran?«, fragte mein Vater und kratzte an den Eigelbspuren auf seinem Revers herum.
»Nicht wirklich«, gestand ich und wedelte mit der Daisy vor seiner Nase herum. »Lasse hat mir das hier gegeben. Es soll eine Nachricht von Katalie enthalten, aber ich kann sie nicht finden.«
»An wen würde Katalie ihre Worte denn richten?« Die Augen meines Vaters blickten listig.
»Na, an mich. Oder etwa nicht?« Verwirrt sah ich zu ihm herüber und beobachtete ihn dabei, wie er die Situation ganz offensichtlich genoss.
»An dich? Kennt sie dich denn? Wo du sie doch überhaupt nicht kennst, wie du mir gesagt hast.«
Ich hasste es, wenn er mehr zu wissen glaubte als ich und mich das auch noch spüren ließ. Musste mich denn alle Welt heute Morgen wie einen kompletten Idioten behandeln?
»Würde Katalie ihre Nachricht nicht eher an einen Ritter, einen Bruder oder Zahnarzt richten? Oder vielleicht an einen Geheimagenten?«
Er hatte natürlich Recht. Warum nur gelang es ihm scheinbar so mühelos, sich in Katalies Gedankenwelt zurechtzufinden, wohingegen ich wie ein Elefant darin herumtrampelte? Noch einmal nahm ich mir die letzte Seite der Daisy vor und studierte die persönlichen Nachrichten. Etwa auf der Hälfte der kurzen Texte blieb mein Blick hängen.
»Frechheit«, entfuhr es mir. »Sie hat an den Milchbubi geschrieben.«
Dicht an meiner linken Wange fühlte ich jetzt den Atem meines Vaters, der mir über die Schulter blickte. Er roch nach Eiern und Senf. »Liebes Jungchen, triff mich bei Miss Melange zur fünften Stunde«, las er laut vor. »Ja, das passt. Jungchen und Melange klingen sehr nach Milchbubi. Gratuliere, mein Sohn. Du hast deine Nachricht gefunden.«
Ich warf die Daisy auf den Boden und hackte auf die Tastatur meines Laptops ein. Endlich hatte ich die Spur, die ich brauchte.
Derweil dachte mein Vater laut nach und wanderte dabei im Zimmer herum. »Bei Miss Melange muss es sich um eine Ausländerin handeln. Eine Engländerin oder Französin, vielleicht? Sie ist noch sehr jung, denn sie ist eine Miss. Es könnte sich um ein Au-pair-Mädchen handeln. Kennst du ein Au-pair-Mädchen in der Gammelgade, Smiljan?«
Ich blickte vom Bildschirm auf und sah meinen Vater lange an. Diesmal war ich es, der eine überhebliche Miene aufsetzen konnte. »Tja, Vater, dieses Mal liegst du leider total daneben. Überzeug dich selbst.« Ich deutete auf den Laptop. »Bei der Miss Melange handelt es sich um ein Café in Esbjerg. In einer Seitenstraße zwischen den Hafenanlagen und der Innenstadt. Keine Toplage, aber für Touristen gerade noch interessant.«
»Wie klug unsere kleine Katalie doch ist.« Mein Vater schmunzelte. »Und dort wird sie sich also heute um fünf mit dir treffen.«
»Irrtum«, erwiderte ich. »Sie wird mich früher treffen. Ich werde jetzt gleich dorthin gehen. Ich werde nicht tun, was sie von mir erwartet, ich kann eigenständig denken und handeln. Und das werde ich ihr jetzt auch beweisen.«