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Hinführung

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Es war Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ich befand mich in der Erholungsphase nach einer langwierigen Erkrankung und suchte mich in meinem Alltag wieder neu zurechtzufinden. Krank war ich zwar nicht mehr, aber auch noch nicht so richtig gesund. Ich musste lernen, in der veränderten Situation meine Kräfte, Grenzen und Spielräume sowie meinen Platz in der Gemeinschaft neu wahrzunehmen und zu gestalten. Parallel dazu gab es die eine oder andere Verlusterfahrung zu verarbeiten. Das war nicht leicht, und so suchte ich verstärkt nach Hilfen.

Die Regel Benedikts1, nach der ich einige Jahre zuvor meine Profess abgelegt hatte, lag vor mir. Konnte sie mir Hilfe sein? Manches in ihr, woran ich mich anfangs noch gestoßen hatte, war mir nach zehn Jahren Gottsuche im Kloster verständlicher geworden. Dann gibt es eine ganze Reihe »Perlen« in ihr, die mich von Anfang an tief angesprochen hatten und immer noch ansprachen. Aber Benedikts Sprache aus dem 5./6. Jahrhundert klang in meinen verwöhnten Ohren des ausgehenden 20. Jahrhunderts streckenweise immer noch etwas spröde und trocken (was von einer alten Ordensregel an sich nicht unbedingt anders zu erwarten ist). Manches blieb mir nach wie vor fremd. Ihre Sprache war – mit Ausnahme der »Perlen« – nicht die Sprache, die in meinem Herzen neue Energie weckte, zumindest nicht in jener Situation. Trotzdem schätzte ich den Geist, der immer wieder aus dem uralten Text durchscheint, in dem ich noch verborgene Tiefendimensionen ahnte. Aber es war ein eher nüchternes Ahnen und Schätzen, keine überschwängliche Begeisterung, im Gegensatz zu mancher Mitschwester, die damals wie eine inkarnierte Regel auf mich wirkte. Ich dagegen hatte mir lediglich die Perlen oder Rosinen, die ich fand, herausgepickt und versucht, mich daran zu halten. Es waren Sätze wie:

Der Liebe zu Christus nichts vorziehen. (RB 4,21) An Gottes Barmherzigkeit niemals verzweifeln. (RB 4,74) Wer im klösterlichen Leben und im Glauben voranschreitet, dem wird das Herz weit. (RB Pr 49) Wer still für sich beten will, trete einfach ein und bete. (RB 52,4) Stehen wir so beim Gottesdienst, dass Herz und Stimme in Einklang sind. (RB 19,7) Wer mehr braucht [als die anderen], werde demütig wegen seiner Schwäche und nicht überheblich wegen der ihm erwiesenen Barmherzigkeit. (RB 34,4) Die Älteren ehren, die Jüngeren lieben. (RB 63,10) Christus führe uns gemeinsam zum ewigen Leben. (RB 72,12)

Vermutlich hatte ich mit meinen herausgepickten Rosinen gerade die wesentlichen Linien der Regel getroffen. Das ist nicht allzu schwer, denn in Benedikts Regel sind die schönsten Sätze meist die wesentlichsten, deren Grundtenor sich dann in den mehr organisatorischen und »spröde« klingenden Kapiteln durchzieht, dort jedoch nicht gleich ins Auge springend. Möglicherweise tat manche eifrige Mitschwester meiner Eintrittsgeneration letztlich auch nichts anderes als Rosinen herauspicken, nur dass deren Rosinenspeicher vielleicht größer und geordneter war als meiner. Wie dem auch sei, diesen Linien wirklich zu folgen, ist etwas anderes als Rosinen-Picken. Ich wäre kein Mensch und keine Benediktinerin, wenn mir dies kein Ringen abverlangt hätte. Was heißt etwa Christus nichts vorziehen, wenn mir gerade alles gegen den Strich geht oder eine Mitschwester mich mächtig herausgefordert hat?

Ohne Störungen, Kämpfe, Versagen, Umwege und die Notwendigkeit, in der je konkreten Situation nach der evangeliumsgemäßen Haltung leidenschaftlich zu suchen, um Christus im Blick zu behalten, geht niemand den Weg. Und hier kommen neben den »stärkenden« die weniger beliebten Stellen der Regel Benedikts zum Zug; heute zwar allgemein interpretiert und geglättet, also nicht mit der Härte der an der Schwelle zum Mittelalter üblichen Bräuche, Verbote und Strafen, doch darum nicht weniger herausfordernd und korrigierend in dem Anliegen, um das es geht: die Teilnahme am Leben Jesu Christi, die Communio untereinander in seinem Geist.

Wie gesagt, mein Verhältnis zur Regel Benedikts war trotz Profess noch etwas unausgegoren. Die Profess verstand ich auf der Beziehungsebene des Vertrauens, der Hingabe, der Liebe, der Communio im Geist. Das klingt ja nicht schlecht, nur – was sollte da die Regel? War sie denn nur dafür da, damit der klösterliche Alltag funktioniert? Wer so fragt, hat noch viel zu entdecken. Denn die Regel will mit ihren Weisungen und Strukturierungen – auch wenn sie in jeder Epoche neu interpretiert und den jeweils aktuellen Gegebenheiten der Menschen angepasst werden müssen – ja genau dies: den Boden für Vertrauen, Hingabe, Liebe und Freundschaft mit Christus und untereinander bereiten und schützen, also einfach dem »Beziehungsgeschehen« dienen, sonst nichts. Aber abgesehen davon, dass diese Ausrichtung, konsequent gelebt, allein schon eine große Herausforderung für eine Gemeinschaft ist – es ist ja nicht einfach mit Gesetzen getan –, setzt jede Schwester je nach Charakter und Lebenssituation ihre Schwerpunkte, findet ihre eigenen Zugänge und braucht ihre Zeit, bis sie versteht, was das bedeutet: Einklang von Herz und Stimme, von Gebet und Arbeit, von Vertrauen und Verantwortung, von Sehnsucht und Vereinbarungen, von Individuum und Gemeinschaft usw. Anfangs sind tendenzielle Fixierungen in die eine oder andere Richtung kaum zu vermeiden.

Erschwerend kommt hinzu: Zur normalen gemeinschaftlichen Erfahrung im Kloster gehört es, dass nicht bei allen Mitgliedern einer Gemeinschaft dieser Reifungsprozess offensichtlich glückt. Und selbst diejenigen, bei denen er zu gelingen scheint, sind vor Krisen und unerwarteten Herausforderungen, an denen sie zu scheitern drohen, nicht gefeit. Immer wieder müssen wir erneut Anfänger werden. Auch das müssen »echte« Anfänger erst verstehen lernen. Für mich war wohl die Zeit gekommen, zur tieferen Ebene zu finden, und – um im Bild zu bleiben – mit meinen Rosinen einen guten Kuchen zu backen, zu dem nicht nur Rosinen gehören. Aber wie?

Es kam mir eine Idee: Warum übersetze ich die Regel nicht in meine Sprache? Nicht eine Sprache aus Vorschriften und Anordnungen, die schwer lastet, sondern eine eher lyrische, bilderreiche Sprache, die mich beschwingt und neue Energien weckt. Ich wollte einfach etwas leichter und spielerischer mit dem alten Text umgehen und bei meinen Ressourcen ansetzen, anstatt mich nur tapsig in irgendwelchen Vorschriften und entsprechenden Vorsätzen zu verstricken, die ich so kaum oder nur mit »unerwünschten Nebenwirkungen« zu erfüllen vermochte. Der Rest, so hoffte ich, käme dann schon (fast) von selber. Nicht ohne mich, aber leichter, natürlicher, lebendiger, mir gemäßer, als Folge der Gnade, die mehr freudige Bewegungsbereitschaft und Kreativität in mir vorfinden würde, ja diese überhaupt erst freisetzt.

Ich begann also, Gedichte zur Regel zu schreiben, ganz einfache, aus dem Herzen kommende. Es war eine Neuentdeckung für mich. Die wichtigste Entdeckung war, dass mir die Regel nichts ist, was ich »befolgen« könnte. Sie ist mir mehr Raum als eindimensionale Richtschnur; sie ist wie ein Experimentierlabor – das ist ja gar nicht so weit weg von Benedikts Bild der Schule2 oder der Werkstatt3 –, ein Angebot, um meine Erfahrungen auf dem Weg der Freundschaft mit Gott und der Beziehung zur Gemeinschaft, zu mir selbst und zu allen Menschen zu orten und in der Kraft des Evangeliums weiterzugehen. Es fällt mir noch das Bild einer Landkarte ein. Die Landkarte ist nicht selber der Weg. Man »beobachtet« sie nicht wie ein Gesetzbuch, man orientiert sich an ihr. Sie hilft, den eigenen aktuellen Standpunkt und den weiteren Weg zu finden. Die Kraft, den Weg zu gehen, kommt nicht von der Regel, sondern vom Wort Gottes.

Das Schreiben weckte in mir tatsächlich erstaunliche Energie und eröffnete mir neue Erfahrungsräume. Zwar hielt ich mit meinen Gedichten nicht die ganze Regel durch. Irgendwann fand ich es aber auch gar nicht mehr nötig und blieb auf die ersten Kapitel4 beschränkt, die die Grundlage benediktinischer Spiritualität bilden. Umso mehr entwickelte das Gedichte-Schreiben an sich bald seine eigene Dynamik, und so schrieb ich weitere Texte, nicht mehr ausdrücklich von der Regel inspiriert, aus ganz verschiedenen Situationen meines Weges in einer monastischen Gemeinschaft heraus. Diese späteren Gedichte oder Gebete habe ich ebenfalls in das vorliegende Buch aufgenommen.

Zwischen den lyrischen Texten finden Sie längere Texte in Prosa. Sie stammen aus neuerer Zeit und sollen helfen, die Zusammenhänge leichter zu erkennen und die Gedanken zu vertiefen. Dabei habe ich Ergebnisse der Regel-forschung außer Acht gelassen, da sie nicht Thema des Buches sind. Zu bedenken ist, dass Benedikt nicht alle Regelkapitel selbst schrieb. Zwar wähle ich der Einfachheit halber ohne Unterschied Formulierungen wie »Benedikt schreibt: …«, doch manches hatte er von anderen übernommen. Immerhin war er es aber, der sorgfältig übernahm, wegließ und ergänzte. Als Endredakteur der Regel können wir ihn also ansehen.

Ich danke allen, die mich bei diesem Projekt in vielfältiger Weise unterstützt haben, meinen Mitschwestern und vor allem Hannelore Bares und Professor Werner Schüßler, die den entscheidenden Anstoß zur Veröffentlichung gaben und mir hilfreich zur Seite standen.

Sr. Mirijam Schaeidt OSBTrier, im Dezember 2010
Hindurch ins Licht

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