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Mirjam Aggeler Wenn du lächeln würdest

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Heute lieber Hose. Heute lieber unsichtbar. Heute lieber unbemerkt. Gestern den Welpenschutz verloren. Im Bus von X nach Y. Neben mir ein alter Mensch. Sich männlich behauptend. Ein freundliches Nicken, als ich mich zu ihm setzte. Ich glaubte an einen Zufall. Als sein Bein das meine berührte. Selbst beim zweiten Mal: Das Gleichgewicht verloren vielleicht. Nichts, was nicht passieren kann. Nichts, was der Rede wert wäre. Nur eine leichte Berührung. Nur eine leichte Gänsehaut. Ein leichtes Zurückzucken. Das war’s. Aber das war es nicht. Ich wurde schmaler neben ihm. Ausgleichsversuch. Er wurde breiter neben mir. Ausgleichsversuch. Von Gleichgewicht keine Rede. Ich versuchte, mir ein Bild zu machen, und schaute zu ihm hinüber. Ein Mustern überzog meinen Körper. Einmustern, Ausmustern. Und wieder, wie zufällig: Berührung der Beine. Meine schon fast neben dem Sitz. Mitleidiger Blick einer Frau, die sich bei der Tür an die Stange klammerte. Fast hätte ich mich daran festhalten können, aber sie zog ihn zurück und warf ihn aus dem Fenster. Lieber du als ich. Draußen das vorbeiziehende Brückengeländer, der Fluss in der Ferne, das Sonnenlicht auf dem Wasser. Möwenkreise über kleinen Köpfen. Es waren weniger geworden. Der Sommer in den letzten Zügen. Dort unten sich treiben lassen, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr. Ein Ziehen in meinem linken Bein. Griff auf meinen ganzen Körper über. Anspannung. Fast das Atmen vergessen. Der Versuch, mir nichts anmerken zu lassen. Denn was ist schon dabei. Ich bin keine Zimperliese. Nimm es als Kompliment. Die Frau an der Tür, ihr Blick nach draußen, noch immer. Nichts zu machen. Lieber du als ich. Aber ihre Fühler im Raum. Das war schon viel, mehr als nichts. Aber nicht genug. Die Ahnung, dass etwas hätte sein können. Der Bus hielt, die Türen öffneten sich. Ein letzter Blick über die Schulter. Ein Lächeln. Gequält, quälend. Sie stieg aus. Die Sitzreihen leerten sich. Ein Impuls, den Platz zu wechseln. Die Sitzreihen füllten sich. Mein rechtes Bein im Durchgang, ein Störfaktor. Rückzug. Nein. Jetzt noch aufstehen. Als einzige. Eine Gegenbewegung. Was würden die anderen denken: Was hat die für ein Problem? Was hat er denn gemacht? Was ist denn dabei? Nimm es als Kompliment. Kein Wunder, nimmt die Frauen niemand ernst. Ein Theater wegen nichts. Oder: Was bildet die sich ein? Armer Kerl. Gemeine Unterstellung. Rufmord. So eine bin ich nicht. Oder: Zieht ein Kleid an und wundert sich. Er ist auch nur ein Mann. Dem Zauber erlegen. Das hast du doch gewollt. Gib es zu. Das wollt ihr doch alle. Hexe. Ich sah schon den Schein der Fackeln. Oder schlimmer noch: Sie zeigen auf ihn. Lustmolch. Grabscher. Mit ihren Fackeln in der Hand. Vergewaltiger. Das wollte ich nicht. So war es nicht. Ich wollte nur. Schuldgefühl. Die Bustüren schlossen sich. Ich sank auf meinen Sitz zurück. In mich zusammen. Sein Bein an meinem. Selber schuld. Ich riskierte noch einen Blick, verstohlen. Schuldbewusst. Und schaute in ein faltiges Gesicht mit buschigen Augenbrauen. Knollennase, weiches Kinn. Verschmitztes Lächeln. Ein Zwinkern in den Augen. Zwischen Opa und nettem Onkel. Und auf jeden Fall: unschuldbewusst. Nein. Kein Bewusstsein. Eine Gewissheit. Jetzt auch bei mir: Die Fackeln hätten nicht ihm gegolten. Ich schaute auf die Anzeigetafel, noch fünf Haltestellen. Sein Blick blieb an mir kleben. Herausgefordert. Selber schuld. Noch sieben Minuten. Durchatmen. So gut es ging. Den Umständen entsprechend, halbwegs. Bloß nicht nach links ausdehnen. Bloß kein Missverständnis wecken. Bloß nicht. Selber schuld. Das Summen der Stimmen gleichförmig. Alles in Ordnung. Nur vorne im Bus eine höhere Frequenz. Ein schreiendes Kind. Eine beruhigende Mutter. Bestimmt hatte sie einen langen Tag hinter sich. Und noch einen langen Tag vor sich. Nervös, unter all den Blicken. Den kritischen. Muss das sein. Was macht sie nur. Warum schreit dieses Kind. So geht das nicht. Es wird Hunger haben. Müde sein. So schwierig ist das nicht. Wahrscheinlich aus der KiTa geholt. Rabenmutter. Wir haben Feierabend. Sie legte es an die Brust. An meinem Bein ein anderes. Ich gab nach. Etwas noch. Etwas ging noch. Die Berührung blieb. Sein Fokus auf der stillenden Frau. Ich sah es in meinem Augenwinkel. Ekel. Erregung. Vielleicht beides. Ihr Blick tauchte ab auf das Gesicht des Kindes. Tauchte ein in einen eigenen Raum. Und schloss sich dort ein. Sicher. Das ist besser als nichts. Dort lässt sich einiges aushalten. Das Summen wieder ungestört. Gleichförmig. Auf dem Bein neben meinem eine Hand. Locker hingelegt. Zufällig bequem. Die Knöchel auf meiner Haut. Den Fuß noch ein wenig eindrehen, Knie gegen Knie. Wieder ein, zwei Zentimeter gewonnen, verloren. Meine Arme vor der Brust. Ich hielt mich. Auf Abstand. Verdreht. An den Rand gedrängt. Die Sitzkante. Einschneidend. Pochen in den Adern. In der Busmitte ein paar Anzüge. Zwei von ihnen linsten verstohlen in meine Richtung. Steckten die Köpfe zusammen. Einmustern. Der eine verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Ein aufmunterndes Lachen. Eine auffordernde Kopfbewegung. Ich kenne den Text: Was schaust du so böse, du machst mir ja Angst. Lächle doch mal. Dann wärst du viel schöner. Eine Grenze überschritten. Ungeahnt. Da kann keine gewesen sein: Denn schöner sein will jede. Muss jede wollen. Das ist Gesetz. Und wider die Natur, wer die Blicke nicht erntet, wer sie verrotten lässt. Nur einmal lächeln, für mich, bitte. Aber ich will nicht. Ein Lächeln kostet nichts. Wenn sie wüssten. Eingemustert, ausgemustert. Es kann sich an einem Lächeln entscheiden. An der Bereitwilligkeit zu gefallen. Die Entscheidung dagegen. Ein Wutgefühl. Ich gefalle nicht. Ausgemustert. Ein Mäuschengefühl. In der Falle, grau. Und kauernd. Als würde einer wie er. Eine wie mich. Blick nach rechts, das Fenster: eine Spiegelwand. Haare sortieren, Haltung korrigieren. Du gehst wie ein Bergbauer, die Erinnerung an eine Stimme aus einer anderen Zeit. Als wäre etwas falsch daran. Etwas daran ist falsch. Wo war der Blick nach draußen. Links, ein drohendes Missverständnis, gerade aus, ein Augenschein. Von einer Frau aus der Gruppe der Anzüge. Ich blieb hängen. Ein Ausmustern. Die Wände so nah, rücken immer näher. Werden mich zerquetschen. Mir den Rest geben. Wohin nur mit den Blicken? Die mich mustern. Einmustern, ausmustern. Was hat das mit mir zu tun? Nichts. Alles. Meine Beine klebten, zusammengepresst. Ob ich sie nicht doch hätte, ob das Kleid nicht zu, ob es genug, ob meine Haare noch, meine Schminke noch, ob sie nicht zu viel, zu wenig, ob ich zugenommen, abgenommen. Ob meine Brüste zu, ob sie überhaupt, wem gehört dieser Körper: Wer gibt mir den Rest? Wäre ich nur zu Hause geblieben. Aber es spielte keine Rolle. Bodenwelle. Halt verloren. Eine Hand an meinem Handgelenk. Hielt mich fest. Zog mich zurück auf den Sitz. Der alte Mann. Ein gutmütiges Lächeln. Gerade nochmal Glück gehabt. Nein. Das Fass bis zum Rand voll, schwappte über. In diesem Moment. Mit Glück hatte das nichts zu tun. Ich riss mich los. Und endlich die Haltestelle. Nicht meine, aber eine: im letzten Moment aufgetaucht. Ich zwängte mich zwischen den Leuten hindurch, ein Rempeln hier und da, für Rücksicht weder Raum noch Zeit: Ich musste raus, einfach nur raus. Hinter mir ein Raunen, sich schließende Türen. Unter mir ein schwankender Boden. Ein Blick zurück. Gesichter mit hochgezogenen Augenbrauen hinter Glas, verständnislos. Was war das? Ich schaute dem Bus hinterher, bevor er um die nächste Ecke verschwand. Mich zurückließ. Mit einer Unsicherheit. Einer Erschütterung. Mit der ich allein war. Niemand sonst nahm sie wahr. Niemand ließ sich etwas anmerken. Alle gingen ihren Gang: seinen Gang. Alles in Ordnung. Aber ich war mir sicher. Der Boden unter meinen Füßen, ein Schwanken. Und dabei nichts Neues. Ausgedehnte Räume, bedrängte Räume, unterstellte, umstrittene, gestohlene Räume. Alles in Ordnung. Woher das Schwanken. Er war nicht nur zu nah, er war auch zu alt. Uralt. Urgroßvateralt. Ich stellte mir vor, wie seine Hand nach mir greift, aus dem offenen Grab heraus. Wie sie mich zu sich hinunterzieht, wie sie mich aus dem Leben reißt. Hinein in einen Sarg voller Trophäen. Alle schön, still, und alle tot. Es gäbe ihm nichts zu denken. Und die Trauergemeinde weinte nicht. Um mich. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Ein betretenes Schweigen vielleicht. Ein verlegener Blick. In frommer Andacht. Reihum Anerkennung. Nimm es als Kompliment. Darunter ein spöttischer Mund mit Bitterkeit und Neid gefüllt. Die Hand betrauernd, die nicht nach ihr gegriffen hat, die Trophäen verfluchend, zu denen sie nicht zählt. Nimm es als Kompliment. Das eine oder andere erleichterte Wegschauen. Lieber du als ich. Etwas beschämt, vielleicht. Noch einmal davongekommen. Noch einmal überlebt. Der Vorhang fällt. Applaus für den Schürzenjäger. Unerbittlich standhaft bis zuletzt. Siegestaumel der bewahrten Tradition, alterslos, nicht konservierte Grenzüberschreitung. Noch ein Gesetz. Und deshalb: fraglosen Beifall wert.

Aber heute nicht. Heute lieber Hose. Und Pullover. Kapuze auf, die Treppe hinunter. Heute lieber unsichtbar. Heute lieber keine Blicke. Sie können mir gestohlen bleiben. Die Zuvielen, die Zuwenigen, die mit Absicht. Denn es fragt sich keiner. Sagt höchstens einer, wenn du mehr lächeln würdest. Nimm es als Kompliment. Draußen die Sonne, die letzten Strahlen noch. Etwas zu warm. Der Pullover, die Kapuze. Nur etwas zu warm. Auszuhalten.

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