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1. Die Erbschaft

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Neugierig schaute sich Anna in dem kleinen, finsteren Büro des Notars um. Zu ihrer rechten und zu ihrer linken Seite befanden sich deckenhohe, altertümliche Bücherwände, deren mit Papierbergen überfüllte Regalböden von millimeterdicken Staubschichten überzogen waren. Vor den Regalen befanden sich weitere Akten in schäbigen Mappen verstaut, die zusammen mit diversen Papierstapeln einen Großteil des Fußbodens einnahmen. Bereits beim Hereinkommen hatte Anna kaum einen Fuß vor den anderen setzen können. Die heruntergelassenen Rollos ließen alles in einem unangenehmen Zwielicht erscheinen, die wenigen Zimmerpflanzen waren schon vor langer Zeit vertrocknet und in ihren Blumentöpfen vergessen worden. Zweifelsohne hatte dieses Büro schon bessere Zeiten gesehen.

Laute, polternde Schritte rissen Anna aus ihren Gedanken. Das musste der Notar sein. Schnell richtete sie sich auf, zupfte ihre Jacke zurecht und verharrte gespannt auf ihrem Stuhl. Hinter ihr wurde die Tür mit einem Ruck aufgerissen. „Guten Tag. Sind Sie Frau Wolfstöter? Wir hatten telefoniert. Mein herzliches Beileid wegen des Todes Ihrer Mutter.“ Es war eine unangenehm kehlige Stimme, die hinter ihr ertönte und Anna zusammenzucken und herumfahren ließ. Der Anblick, der sich ihr in diesem Moment bot, passte zu der unangenehmen Stimme. Vor ihr stand ein untersetzter, dicker Mann mit Halbglatze, dessen Oberhemdknöpfe über der Bauchmitte so stark spannten, dass sie bei jeder Bewegung zu platzen drohten. Sein Gesicht war von tiefen Falten und Aknenarben gezeichnet, die auch durch den Dreitagebart nicht versteckt werden konnten. Seine Augenlider waren so dick und aufgedunsen, dass sie die Augen des Notars zu kleinen, schmalen Schlitzen zusammendrückten. Gekleidet war er in einen schmuddeligen, beigen Anzug im Stil der 80er Jahre. Seine gesamte Erscheinung strahlte einen Unwillen und eine Abscheu aus, dass Anna sich mehr als unwillkommen vorkam.

Mit einem genervten Gesichtsausdruck und mit einer herrischen Handbewegung deutete der Notar auf die Mappe mit den erforderlichen Unterlagen, die er Anna gebeten hatte mitzubringen. Anna schluckte schwer und brachte nur ein stummes Nicken anstelle einer Antwort hervor. Offenbar war der Notar kein Freund zu vieler Worte. Hätte sie nicht vor zwei Wochen seinen Brief erhalten, wüsste sie nicht einmal seinen Namen, denn vorgestellt hatte er sich seit Betreten des Büros auch noch nicht. Doch wagte sie nicht, dies zu kommentieren, denn trotz seiner untersetzten Größe stellte der Notar doch eine respekteinflößende Erscheinung dar, so dass Anna ihn mit einem Anflug von Unbehagen dabei beobachtete, wie er gedankenverloren ihre Papiere betrachtete. „So, so. Sie sind also tatsächlich die Tochter von Frau Wolfstöter. Als ich Sie das letzte Mal sah, waren Sie kaum ein Jahr alt und Ihre Mutter in großer Sorge um Sie. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Es gab kaum einen seltsameren Fall als den Ihren in meiner beruflichen Praxis als Notar.“

Mit einem undurchdringlichen Blick sah er auf und musterte sie lange Zeit, bevor sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Damit zeigte er eine Gefühlsregung, bei der sich Anna noch vor einer Minute sicher gewesen wäre, dass sie ihm völlig fremd sei. Doch lehnte er sich nun gedankenverloren lächelnd zurück und begann, sich mit leiser Stimme zu erinnern. „Ihre Mutter suchte mich damals noch nach Büroschluss auf, es war ein kalter, regnerischer Novemberabend. Zuerst verwies ich sie auf die Öffnungszeiten, aber sie schüttelte energisch den Kopf und sagte, morgen, morgen könne es zu spät sein. Ich war müde, hatte einen anstrengenden Tag hinter mir und wollte sie zuerst stehen lassen. Doch etwas in ihrem flehenden Blick erweckte mein Mitgefühl. Ich ließ sie in mein Büro. Es war genau hier in diesem Zimmer, dass ich ihre Geschichte hörte, zumindest den winzigen Teil, den sie mir zu erzählen bereit war - und das war nicht viel. Trotzdem schien sie große Angst zu haben, sie sagte, sie sei auf der Flucht, habe mit allen aus ihrem früheren Leben gebrochen und müsse sich nun verstecken. Ihre größte Sorge jedoch galt Ihnen, ihrer kleinen Tochter. Sie sagte, dass Sie unter allen Umständen fern von der Familie aufwachsen müssten und dass es ihr lieber wäre, wenn Sie nie etwas über die Herkunft Ihrer Mutter erführen.“

Anna schaute irritiert. Von solch Geheimniskrämerei hatte sie noch nie etwas gehalten. „Was war denn an der Herkunft meiner Mutter so problematisch? Habe ich vielleicht ein Krematorium oder so etwas geerbt? Oder eine Geisterbahn?“ - „Letzteres ist vielleicht gar nicht so weit von der Realität entfernt.“ Der Notar hatte diese Worte mehr zu sich selbst gesprochen, doch offenbar nicht leise genug, denn Annas Augenbrauen fuhren irritiert in die Höhe. Jedoch bevor seine Klientin irgendwelche Fragen stellen konnte, fuhr er schnell fort. „Aber lassen Sie uns doch mit der Verlesung des Testaments beginnen.“ Hektisch begann er in der Mappe, die er beim Betreten des Büros unter seinem Arm hatte, zu kramen. Als er die richtigen Blätter gefunden hatte, setzte er eine für sein breites Gesicht viel zu kleine Nickelbrille auf und räusperte sich umständlich, bevor er mit der Verlesung des Testaments begann. „Ich, Maria Wolfstöter, setze mein einziges Kind, meine Tochter Anna Wolfstöter, als alleinige Erbin ein. Bevor meine Tochter jedoch ihr Erbe antreten kann, mache ich es zur Bedingung, dass sie erst dem das Testament verlesenden Notar den Brief vorliest, den ich für sie im Falle meines Ablebens zusammen mit meinem Testament bei Selbigem deponiert habe.“

Skeptisch verzog Anna das Gesicht. Was war denn das für eine eigenartige Bedingung? Als sie den Notar danach fragte, lächelte der nur und zuckte mit den Schultern. „Über ihre Beweggründe hat mich Ihre Frau Mutter nur so weit wie nötig informiert. Was den Brief betrifft, wollte sie sicherstellen, dass Sie den Inhalt auch wirklich zur Kenntnis nehmen und den Brief nicht einfach in Ihrer Manteltasche verschwinden lassen würden. Warum all diese Vorsichtsmaßnahmen?“ Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Das hat sie mir nicht mitgeteilt. Ich weiß nur noch, dass sie große Angst vor ihrer Familie hatte.“ Während er das sagte, beobachteten seine Augen Anna, keine Regung in ihrem Gesicht schien ihnen zu entgehen. Bei seinen letzten Worten war Anna zusammen gezuckt.

„Was soll das heißen 'Sie hatte große Angst vor ihrer Familie'?“ - „Das sagte mir Ihre Frau Mutter auch nicht. Im Gegenteil. Sie hielt sich sehr bedeckt mit Informationen über ihren familiären Hintergrund.“ - „Dann sollte ich das Erbe vielleicht besser ausschlagen.“ - „Oh, nein! Diesen Schritt sollten Sie gut überdenken. Wissen Sie, es handelt sich dabei um ein nicht unbedeutend großes Erbe, das überwiegend aus Grund und Boden besteht. Schuldenfrei. Gut erhalten. So viel vorab.“ Anna zog kritisch die Augenbrauen zusammen. „Was stimmt nicht mit dem Erbe?“ Allmählich wurde sie doch misstrauisch. Der Notar schaute sie sehr ernst an, bevor er tief seufzte und schließlich zu einer Antwort ansetzte. „Leider kann ich Ihnen dazu auch nicht mehr sagen, da das alle Informationen sind, die ich von Ihrer Frau Mutter zu diesem Punkt erhalten habe. Unglücklicherweise ist sie viel zu früh von uns gegangen, von ihrem Erbe hat sie leider nichts gehabt. Laut dem Testament ihres Vaters, also Ihres Großvaters, hat nur derjenige einen Anspruch auf die Pachteinnahmen u.s.w., der auch dauerhaft auf der Ritterburg lebt. Und das hat sich Ihre Mutter ja nun beileibe nicht vorstellen können. Im Gegenteil. Ihre Familie durfte zeitlebens nicht erfahren, wo sie sich aufhielt. Von Ihrer Existenz, Frau Wolfstöter, wissen die Verwandten bis heute nichts. Das war der Wunsch Ihrer Mutter. Sie hat ausdrücklich verfügt, dass ich erst dann Kontakt mit der Familie aufnehmen soll, wenn Sie sich für die Annahme des Erbes entschieden haben.“

Mit einem traurigen Lächeln schob er ihr einen übergroßen Briefumschlag entgegen. Das Papier war vergilbt, das Siegelwachs dunkelrot mit dem Abdruck irgendeines Wappens. Oder war es ein Symbol? So genau konnte Anna das nicht erkennen. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Brief. Ein wenig mulmig war ihr doch zumute, als sie das Siegel brach und ein mindestens ebenso vergilbtes Blatt Papier herauszog. Sofort erkannte sie die schön geschwungene Handschrift ihrer Mutter.

Meine liebe Tochter!

Nun ist es geschehen! Da Du diesen Brief in den Händen hältst, bin ich von dieser Welt gegangen, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, Dich einzuweihen.

Einzuweihen in das düstere Geheimnis meiner, nein, unserer Familie. Zumindest teilweise. Alles werde ich Dir hier nicht mitteilen können, handelt es sich doch um Dinge, die nicht auf Papier gebracht werden sollten. Dinge, die Dein ganzes Leben verändern können und werden, falls Du - wie von mir befürchtet - das Erbe annehmen wirst.

Sollte Letzteres eintreten, hast Du Dich zweifelsohne von der Verlockung des Geldes verleiten lassen, die zugegebenermaßen groß sein wird, werde ich Dir doch nicht viel bieten können außer einem Leben in Freiheit. Einer Freiheit, die ich hier nicht näher beschreiben kann, die Du aber noch zu schätzen wissen wirst, solltest Du Dich für das Erbe entscheiden.

Auf den ersten Blick wird alles wunderbar erscheinen, Dir wird die Hälfte einer Ritterburg sowie die dazugehörigen Ländereien und Immobilien gehören. Jedoch hat es seinen Preis, einen unaussprechlichen Preis, der Teil des dunklen Geheimnisses unserer Familie ist und mich von meiner Familie wegtrieb.

Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich bereits fast zwei Jahre von meiner Familie weg. Zwei Jahre, in denen ich stets auf der Flucht war, Deinen Vater geheiratet habe, schwanger wurde und Dich geboren habe.

An keinem Ort bin ich länger als ein paar Wochen oder Monate mit Dir geblieben, zu groß ist die Angst, dass die Familie mich aufspürt und dann von Deiner Existenz erfährt. Die habe ich nämlich bis jetzt geheim gehalten. Das werde ich auch nicht ändern. Besser, sie wissen nichts von Dir!

Du siehst, noch hast Du die Chance, einfach das Erbe auszuschlagen und Deiner Wege zu gehen. Du wirst nicht reich sein, aber frei. Mein rastloses Leben hat nun ein Ende, viel werde ich Dir abverlangt haben, bevor Du ein eigenes Leben wirst beginnen können.

Deine Schulzeit wird von ständigen Umzügen gezeichnet sein. Selten wird es mal ein Jahr geben, in dem Du nur ein oder zweimal die Schule wirst wechseln müssen. Stets werde ich mit Dir auf der Flucht sein, hoffentlich ohne dass Du auch nur den leisesten Verdacht hegst.

Aber glaub mir, all das wird nur zu Deinem Besten sein, nur so kann ich Dich ohne den Einfluss unseres dunklen Familiengeheimnisses aufziehen! Ein dunkles Familiengeheimnis, das nicht gleich offenbar wird, jedoch wenn man länger auf der Burg verweilt.

Vielleicht bereits nach ein paar Wochen, eventuell aber auch erst nach einigen Monaten. Es ist so unglaublich, so gut geschützt, dass Du es vielleicht erst bemerken wirst, wenn es zu spät ist. Leider handelt es sich um ein Geheimnis, das man nicht aufschreiben kann.

So bedaure ich nun unendlich, Dir nicht früher alles erzählt zu haben. Wir hatten genug Zeit in all den Jahren, die seit dem Schreiben dieses Briefes und meinem Tod vergangen sein werden. Aber da Du jetzt diesen Brief in Händen hältst, werde ich offenbar all die Jahre nicht den Mut dazu gehabt haben, mich Dir anzuvertrauen.

Nun jedoch ist es zu spät dazu, jetzt kann ich nur noch darauf hoffen, dass Du die richtige Wahl triffst. Schlag das Erbe aus und pfeif auf das Geld. Dass Du mütterlicherseits noch eine Familie hast, solltest Du ebenfalls vergessen, auch verrate niemals jemandem, dass Deine Mutter eine geborene von Rittertal ist. Flieh meine Tochter, flieh, solange Du noch kannst!

Deine Dich liebende Mutter

Stumm starrte Anna auf das vergilbte Papier. Das hatte sie nicht erwartet. Ihre Mutter hatte diesen Brief vor über 20 Jahren geschrieben. Offenbar war sie in großer Furcht vor ihrer Familie. Eine Familie von deren Existenz Anna bisher nichts geahnt hatte. Wenigstens wusste sie nun, warum sie zeitlebens immer wieder umgezogen waren. Dieses rastlose Dasein hörte erst auf, als sie ausgezogen war um ihre Ausbildung zur Buchhändlerin zu absolvieren.

Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich zurück. Das Geld konnte sie schon gebrauchen. Einen Versuch war es wert. Falls es ihr nicht gefiel, konnte sie immer noch zurück nach Berlin gehen. Trotzdem war ihr mulmig zumute. Warum hatte ihre Mutter all diese Entbehrungen auf sich genommen? Sie wurde nicht wirklich schlau aus ihren Zeilen. Doch handelte es sich um zu viel Geld, als dass sie den Versuch ungenutzt lassen würde. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck teilte sie dem Notar ihre Entscheidung mit, alles Notwendige zu veranlassen und verließ die Kanzlei in Richtung Bahnhof, um sich eine Zugfahrkarte zu ihrem neuen Zuhause zu kaufen.

Die Blutsippe

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