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2. Ankunft in Rittertal

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Die Ritterburg befand sich in einer ziemlich einsamen Gegend, die von Berlin nicht leicht zu erreichen war. Dreimal war Anna während der fünfstündigen Zugfahrt bereits umgestiegen. Jetzt saß sie in einer alten Bummelbahn, die sie endlich an ihr Ziel bringen sollte. Das Dorf Rittertal. Es war eine verschlafene 400 Seelen Gemeinde, die versteckt in einem tiefen, bis heute unzugänglichen Tal lag und von einem großen Waldgebiet umringt war. In diesem Wald befand sich die Burg Rittertal. Eine ziemlich große Burganlage, in der es jedoch bis zum heutigen Tage weder Strom noch fließend Wasser gab. Ob sich das auch auf das übrige Dorf bezog wusste Anna nicht, bezweifelte dies aber, obwohl die Lage des Dorfes schon recht einsam war. Bis heute führten nur eine Zugstrecke und zwei sandige Straßen hinein bzw. hinaus. Ein Zustand, der die Gemeinde gerade in heftigen Wintern oft wochenlang von der Außenwelt abschnitt. Eine Zugverbindung gab es nur zweimal am Tag, morgens und abends.

In dem so genannten Spätzug saß Anna gerade und überflog immer wieder die Zeilen ihrer Tante, mit denen sie ihre bislang unbekannte Nichte willkommen geheißen und ihr angeboten hatte, sie bei ihrer Ankunft am Bahnhof Rittertal abzuholen. Anna hatte den Brief kurz vor ihrer Abreise über ihren Notar erhalten. Ihre Tante hatte den Brief nicht an die Privatadresse ihrer Nichte geschickt, sondern an den Notar, der seinerseits alles an Anna weitergeleitet hatte. Zuerst hatte sie es als unsinnig empfunden, nachdem der Notar die Familie ihrer verstorbenen Mutter von der Annahme des Erbes durch Anna informiert hatte, die weitere Korrespondenz noch über die Kanzlei laufen zu lassen. Doch der Notar hatte sie überzeugt, erst mal alles weiterhin über ihn abzuwickeln. Im Nachhinein betrachtete Anna seine Einwände sogar als nicht unbegründet. Selbst wenn der Brief ihrer Tante freundlich klang und sie wirklich willkommen war, konnten weder der Notar noch sie selbst die Furcht ihrer Mutter vor ihrer Familie und deren düsteren Geheimnissen leugnen. Was auch immer ihre Mutter damals aus Rittertal vertrieb, es schien so bedrohlich zu sein, dass sie es Zeit ihres Lebens fürchtete. Sollte Anna auch irgendwann so empfinden, durch was auch immer ausgelöst, wäre es besser, wenn sie in ihre Heimat Berlin zurückkehren konnte, ohne dass man auf Burg Rittertal von ihrem genauen Aufenthaltsort in der Hauptstadt wusste. Berlin war groß mit seinen mehreren Millionen Einwohnern. Nur zu wissen, dass sie aus Berlin stammte würde etwaigen Verfolgern keine Hilfe sein.

Aber vielleicht würde es ja gar nicht so weit kommen. Sie würde unvoreingenommen und offen diesem neuen Lebensabschnitt entgegen sehen und sich selbst ein Bild machen. Zufrieden mit diesem Entschluss schaute sie aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Es war Anfang Oktober. Jetzt, gegen neun Uhr abends, war draußen bereits alles von der Finsternis der Nacht überzogen, nur noch hier und da konnte sie die Schemen einer besonders großen Tanne oder eines einsam gelegenen Gebäudes ausmachen. So hing Anna eine ganze Weile ihren Gedanken nach, bis sie plötzlich zusammen zuckte. Mitten in der Dunkelheit waren plötzlich zwei leuchtende blaue Punkte aufgetaucht. Sie schienen dem Zug zu folgen und kamen dabei immer näher und näher. Anna dachte sich zuerst nichts dabei und beugte sich ein wenig weiter vor, um die Ursache der beiden Punkte besser erkennen zu können. Die Punkte bewegten sich ein wenig auf und ab und waren dabei sehr schnell. Bald würden sie den Zug erreicht haben. Noch ein kleines Stück, und Anna starrte fassungslos nach draußen. Sie konnte eindeutig den Schatten eines großen, struppigen Wolfes erkennen, dessen blaue Augen böse zu ihr in den Zug zu funkeln schienen. Das waren also die beiden leuchtenden Punkte! Erschreckt rutschte Anna ein Stück weit vom Fenster weg und schielte mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend nach draußen.

Ein lautes Klopfen ließ Anna hochschrecken. Das Pochen wurde lauter. Die Stimme des Schaffners klang ungehalten durch die Tür zu ihr ins Abteil. „Wir sind gleich da! Bitte machen Sie sich zum Aussteigen bereit.“ Anna, die derart von der unheimlichen Aura des Tieres eingenommen war, brachte nicht einmal eine kurze Antwort zustande, sondern saß nur schweigend auf ihrem Platz und starrte hinaus. „Hallo! Haben Sie mich gehört? Der Zug hat nur zwei Minuten Aufenthalt in Rittertal!“ Mit einem lauten Quietschen wurde die altersschwache Abteiltür zur Seite geschoben und der Schaffner trat mit einem verdrießlichen Gesichtsausdruck ein. „Haben Sie gehört? Sie sollten schon mal Ihre Sachen zusammenpacken und sich zum Aussteigen bereit machen. Hallo? Wieso reagieren Sie denn nicht?“ Der Schaffner schien nun wirklich besorgt. Mit fragendem Gesichtsausdruck beugte er sich zu der immer noch aus dem Fenster starrenden Anna hinunter und folgte dann ihrem Blick.

Was er dann sah ließ ihn zusammenzucken. Doch auch das bemerkte Anna nur am Rande, viel mehr nahm die Anwesenheit des Wolfes ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr folgte, nur an ihr interessiert war und sich nicht damit zufrieden geben würde, sie nur von außen zu beobachten. Als ob dieser Gedanke der Auslöser war, setzte der Wolf zum Sprung an. Anna erstarrte und beobachtete fassungslos jede seiner Bewegungen. Selbst als die Schnauze des Wolfes die Scheibe berührte und diese in tausend Stücke zerspringen ließ, war sie zu keiner Regung fähig. Hunderte kleinerer und größerer Splitter flogen in alle Richtungen. „Passen Sie auf!“ Beherzt griff der Schaffner, der ebenso wie Anna fassungslos aus dem Fenster gestarrt hatte, nach ihrem Jackenärmel und zog sie vom Fenster weg. Er selbst hatte ebenfalls seinen Kopf weg gedreht, schützend die Arme über sein Haupt geschoben und sich auf das Schlimmste eingestellt. Mit zusammengekniffenen Augen verharrten sie regungslos.

Doch nichts geschah. Als sie vorsichtig aufsahen, war der Wolf verschwunden. Stattdessen strömte durch den fensterlosen Rahmen die kalte Nachtluft herein und ließ sie frösteln. Doch war es nicht nur die Kühle der Nacht, die ihre Körper mit einer Gänsehaut überzog. Noch etwas Anderes war mit der eisigen Nachtluft herein gekommen. Anna spürte es sofort, noch bevor sie es sah. An der Stelle, an der sich eben gerade noch der bedrohliche Umriss des massives Tierkörpers befunden hatte, war nun nichts weiter als eine schwarz-graue Nebelwolke. Eine klirrende Kälte breitete sich im Abteil aus. Die dunkle Nebelschwade verdichtete sich immer mehr zu einem bedrohlichen Schatten. Mit dem Wolf war etwas herein gekommen. Etwas, das Anna nicht wohlgesonnen war. Ihr war, als lege sich eine unsichtbare, eiserne Hand um ihren Hals. Sie konnte kaum noch atmen, war von einer solchen Angst erfüllt, wie sie sie nie zuvor in ihrem Leben verspürt hatte.

Die Stimme des Fahrkartenkontrolleurs riss sie abermals aus ihren Gedanken. „Geht es Ihnen gut?“ Als Anna nur stumm nickte, schimpfte er los. „Verdammte Gören! Weiß der Teufel wie sie das wieder angestellt haben. Erst beschmieren sie die Züge und jetzt schlagen sie die Scheiben während der Fahrt ein!“ Kopfschüttelnd sah er sich um. „Was haben sie bloß geworfen? Können Sie irgendetwas finden?“ Mit der Fußspitze schob er einige der Glassplitter hin und her. „Haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Die dunkle Jahreszeit draußen hat ihr Übriges getan. Ich hatte doch für einen Moment den Eindruck da draußen verfolge ein großer wild aussehender Wolf den Zug und wolle zu uns ins Abteil springen. Leuchtend blaue Augen hat er gehabt. Können Sie sich das vorstellen? Ein Wolf, der blaue Augen hat und einen Zug verfolgt?“ Er lachte in sich hinein. „Es wird Zeit, dass ich in Rente gehe. Bin schon 64.“ Während er sprach hatte er mit einem verärgerten Gesichtsausdruck das Chaos im Abteil betrachtet, so dass ihm Annas erschreckte Reaktion verborgen blieb, als er erwähnte, einen Wolf gesehen zu haben. Er hielt es für Einbildung, wusste nicht, dass auch Anna denselben Wolf gesehen hatte. „Das wird teuer für die Eisenbahngesellschaft und wieder einmal gibt es keinen, den man zur Kasse bitten könnte.“ Er sprach mehr zu sich selbst, schien seinen jungen Fahrgast neben sich völlig vergessen zu haben.

Anna schluckte betreten. Sollte sie zugeben, dass auch sie denselben Wolf gesehen hatte? Doch selbst wenn sie den Zugbegleiter davon überzeugen konnte, dass es keine Einbildung war, wer sonst würde ihnen beiden glauben? Niemand! Sie würden nur wie zwei Narren da stehen. Verunsichert presste sie die Lippen aufeinander. Nein, sie würde nichts sagen. Ein Ruck ließ sie aufblicken. Auch der Schaffner schaute auf. „Der Lokführer hat bereits das Tempo gedrosselt, jetzt sind es nur noch ein paar Minuten bis Rittertal.“ Erleichtert über diese Information raffte Anna, immer noch von Panik erfüllt, ihre Sachen zusammen und ging Richtung Abteiltür. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt und viel Spaß beim Antiquitätenkauf! Obwohl es dafür noch zu früh ist. Der Antikmarkt öffnet jedes Jahr immer erst Ende Oktober.“

Irritiert drehte Anna sich noch einmal um. „Wie bitte? Was für Antiquitäten?“ Der alte Mann stutzte und betrachtete Anna mit zusammengekniffenen Augen: „Sie waren noch nie hier, nicht wahr? Wenn dieser Ort auch sonst ein gottverlassenes Nest mit einer grauenvollen Vergangenheit ist, so ist er doch berühmt für seinen Antikmarkt. In meinen ganzen 48 Dienstjahren habe ich noch nie jemanden auf dieser Strecke erlebt, der nicht den Antikmarkt kannte. Seit jeher überwintert hier eine uralte Händlerdynastie und richtet während der kalten Jahreszeit den Antikmarkt aus. Aus der ganzen Welt strömen die Besucher hierher! Das wissen Sie nicht? Was wollen Sie denn sonst hier?“ Anna war immer noch verwirrt. „Nein. Nein, ich… besuche hier jemanden. Vielleicht bleibe ich auch länger. Das weiß ich noch nicht genau.“ - „Länger bleiben? Du liebe Güte! Noch etwas, das mir in meinen 48 Dienstjahren noch nicht begegnet ist. Jemand, der auch noch freiwillig hierher zieht. Dann noch so jung. Außer einer Dorfkneipe gibt es hier nicht viel für junge Leute. Aber Sie werden schon sehen, was ich meine. Gucken Sie sich erst mal bei Tageslicht in Ruhe um, dafür dürfte es ja nun schon ein bisschen spät sein.“

Mit aufmerksamem Blick spähte er nach draußen. Der Zug fuhr gerade in das Dorf ein. Zumindest musste es das Dorf sein, das in diesem Tal lag und in dessen Mitte sich der Bahnhof befand, an dem man Anna abholen würde. Unscharfe Konturen unterschiedlich großer Gebäude zogen an ihr vorbei. Dank einer fehlenden Straßenbeleuchtung konnte sie nur Schatten erkennen. Dann endlich erhellten sich die Gleise vor ihr und gaben den Blick frei auf ein altes, einstöckiges Bahnhofsgebäude. Mit quietschenden Rädern hielt der Zug. Anna stieg mit ihren wenigen Habseligkeiten aus.

Kaum hatte sie ihre letzte Tasche aus dem Wageninneren gehoben, schlossen sich die Türen auch schon wieder hinter ihr und der Zug setzte sich in Bewegung. Anna sah ihm nach, bis er am Horizont verschwunden war. Langsam drehte sie sich um. Suchend wanderte ihr Blick über das Bahnhofsgebäude. Alles war dunkel und verlassen. Über einem Fenster hing ein Schild. „Information“ stand dort in großen Buchstaben. Jedoch war dahinter ebenfalls alles düster. Ratlos sah sich Anna um. Sie war allein. Mutterseelenallein auf dem leeren Bahnhof. Niemand war gekommen, um sie abzuholen. Dabei hatte ihre Tante doch sogar persönlich kommen wollen. Suchend blickte sie sich um. Eine einzige Laterne erhellte den Bahnsteig. Es gab nicht einmal eine Sitzgelegenheit. Hinzu kam, dass es mittlerweile stockdunkel geworden war. Nebelschwaden zogen auf und von irgendwoher ertönte der Ruf einer Eule. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper und ihr war absolut nicht wohl bei dem Gedanken, hier weiterhin alleine zu warten. Doch mangels etwaiger Alternativen ging sie ungeduldig auf und ab. Dabei stieg mit jeder Minute, die verging, ihre Nervosität. Ständig kehrten die Erinnerungen an den Wolf mit den leuchtend blauen Augen, der in das Zugabteil gesprungen war, in ihr Bewusstsein zurück. Bereits nach wenigen Minuten Wartezeit war ihre Angst so übermächtig geworden, dass jedes Geräusch sie zusammenzucken ließ.

Nein, hier konnte sie keine Sekunde länger bleiben. Energisch fegte sie ihre Angst vor dem einsamen Heimweg in der Dunkelheit zur Seite und marschierte mit ihrem Gepäck los. Die Tür zum Bahnhofsgebäude war verschlossen. Also musste sie einem kleinen Trampelpfad folgen, der rechts um das Bahnhofsgebäude herum führte. Nach ein paar Schritten war sie um die erste Ecke herum und fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Ohne das helfende Licht der Straßenlaterne tastete sie sich vorsichtig Schritt für Schritt weiter, bis sie um die nächste Ecke des Gebäudes herum war. Endlich kam wenigstens wieder der Mond zum Vorschein und gab den Blick frei auf eine ungepflasterte Dorfstraße, die nur von wenigen Straßenlaternen erhellt wurde. In deren Schein konnte Anna zumindest einen Großteil ihrer Umwelt ausmachen. Und was sie sah, entsprach genau dem Klischee eines kleinen, verschlafenen Dorfes, das erst vor wenigen Jahren ans öffentliche Stromnetz angeschlossen wurde. Die Häuserreihen zu beiden Seiten bestanden größtenteils aus kleinen, gedrungenen Fachwerkhäusern. Das Bahnhofsgebäude schien eines der wenigen Gebäude aus Stein zu sein. Vom Bahnhof aus führte eine breite Straße weiter ins Dorf hinein. Sie bestand vollständig aus platt gestampftem Sand. Dass es so etwas noch gab? Das konnte ja heiter werden. Mit gemischten Gefühlen blickte sie die Straße herunter. Ein Stück weit von ihr entfernt befand sich ein erhelltes Gebäude. Wenigstens ein Lichtblick. Vielleicht waren die Bewohner noch wach, so dass sie ihr den Weg zur Ritterburg beschreiben konnten. Gerade als sie erleichtert darauf zu gehen wollte, vernahm sie neben sich im Gebüsch ein Geräusch.

Neugierig trat sie näher und sah ein Pärchen verborgen hinter einigen Büschen stehen, völlig auf sich fixiert. So sehr, dass sie ihre heimliche Zeugin sie nicht einmal bemerkten. Die betrachtete die beiden genauer, konnte jedoch nur wenig erkennen, da durch wild wuchernde Hagebuttensträucher das Meiste der beiden verdeckt wurde und Anna nur einen kurzen Blick auf die Schulter der Frau erhaschen konnte. Dort prangte eine Tätowierung in Form einer Fledermaus. Dunkel und scharfkantig hob sie sich von der blassen Haut ihrer Trägerin ab und gab so ein unverwechselbares Erkennungsmerkmal, denn vermutlich gab es in diesem kleinen Nest eher wenige Menschen, die genau dieselbe Tätowierung hatten. Was hatte sie im Internet gelesen? 400 Einwohner zählte das Dorf, das vorerst ihre neue Heimat sein würde - falls sie sich zum Bleiben entschied, hieß das.

Den besten Eindruck hatte sie nicht. Langsam ließ sie ihren Blick über das schäbige Bahnhofsgebäude gleiten, die ungepflegten, wild wuchernden Sträucher rechts und links. Seufzend griff sie nach ihrem Gepäck, um ihren Weg fortzusetzen. Dabei streifte ihr Blick noch einmal das Pärchen vor ihr und ließ sie auf dem eher schmalbrüstigen Oberkörper des Mannes ein eigenartig geformtes Muttermal über seiner linken Brustwarze entdecken. Es hatte die Form eines kleinen Mondes. Die großen, grobschlächtigen Finger der Frau strichen nun mit ihren spitzen Nägeln über seine Brust, über seine Schulter, um dann mit einem der spitzen Fingernägel ein tiefe lange Schramme auf seinen Oberarm zu ziehen. Ein dünnes Rinnsal Blut lief nun dem Arm des Mannes herunter und hinterließ eine schmale rote Linie. Anna schluckte und starrte wie gebannt auf den Arm des Mannes. Direkt vor ihren Augen schloss sich nun der tiefe Kratzer wie von Geisterhand und verheilte innerhalb weniger Sekunden vollständig als ob es nie eine Verletzung gegeben hätte! Anna unterdrückte einen Aufschrei. Wie war diese Blitzheilung nur möglich? Sie hatte es selbst gesehen! Es war ein tiefer Kratzer aus dem Blut quoll. Angewidert schüttelte sie sich und machte auf dem Absatz kehrt. Hektisch hastete sie mit ihren Gepäckstücken die spärlich beleuchtete Dorfstraße entlang.

Sie kam an etlichen dunklen, abweisenden Häuserfassaden vorbei, bis sie endlich das erleuchtete Haus erreichte. Das musste die Dorfkneipe sein, von der der Schaffner gesprochen hatte. Über ihrem Kopf hing ein altes, dunkelrotes Schild auf dem eine dicke golden schimmernde Sonne prangte. Ein leicht aufkommender Wind ließ es quietschend hin und her schaukeln. Über dem Eingang stand in dicken goldenen Lettern „Zur Sonne“. Eigenartig. Einen solchen Namen für ein Wirtshaus hatte Anna noch nie gehört. Auch sonst sah das Gebäude nicht einladend aus. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln. Wortfetzen und Gelächter erklangen aus seinem Inneren zu ihr nach draußen. Mit energischem Schritt erklomm Anna die Treppen und öffnete die Tür.

Schlagartig verstummte jedes Gespräch. Alle blickten sie groß an. Anna, die auf eine solche Reaktion nicht gefasst war, schaute sich schüchtern um, unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Sie befand sich in einer altmodisch eingerichteten Gaststätte, wie sie es von Fotos aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kannte. An der gegenüber liegenden Seite des Raumes war die Theke hinter der eine junge Frau, die ungefähr in ihrem Alter war, stand. Sie war auch die Erste, die ihre Sprache wiederfand. „Guten Abend“ Sie hatte ein sympathisches, hübsches Gesicht, lange rote Locken, die sie zu einem wilden Dutt zusammengesteckt hatte und leuchtend grüne Augen. Ihr Gesicht war über und über mit Sommersprossen bedeckt. „Kann ich Ihnen helfen?“ Anna wusste nicht genau, was sie sagen sollte. Eigentlich sollte sie ja abgeholt werden. Dummerweise jedoch hatte ihre Tante kein Telefon, sie konnte also niemanden auf der Ritterburg erreichen. Die fragenden Blicke der jungen Frau hinter dem Tresen ignorierend, kramte sie noch einmal aufgeregt den Brief aus ihrer Handtasche. Es war ein eigenartiges Schreiben auf geschöpftem Papier, überzogen von einer altmodischen, verschnörkelten Handschrift, das ihr ihre Tante vor ihrer Abreise hatte zukommen lassen. Nein, wirklich nichts. Nur die Adresse der alten Ritterburg. „Ist alles in Ordnung?“ Die Stimme der jungen Frau hinter dem Tresen klang nun wirklich besorgt. Anna schreckte hoch, zu tief saß ihr noch das gerade im Zug Erlebte in den Knochen. „Ja, sicher. Es ist nur…ich will eigentlich zur alten Ritterburg, zu meiner Tante, Adele von Rittertal. Ich bin eben mit dem Zug angekommen. Jemand sollte mich abholen, doch am Bahnhof war niemand. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen?“ So viele Ritterburgen würde es hier ja wohl nicht geben. „Sicher. Wir haben oben ein paar Gästezimmer, Sie können gerne über Nacht bleiben und sich morgen auf den Weg machen.“

Mittlerweile war Anna bis zur Theke gegangen und hatte sich auf einen der Barhocker gesetzt. „Nein, nein, das ist gar nicht nötig. Ich gehe, wenn es sein muss, heute Abend noch zu Fuß dahin. Zuhause habe ich mir das auf einer Karte im Internet angeschaut, so weit ist das ja gar nicht. Leider habe ich sie mir nicht ausgedruckt, weil ich ja davon ausgegangen bin, dass ich abgeholt werde.“ Die Frau blickte Anna erschreckt an. „Das sollten Sie lassen! Nachts allein durch den dunklen Wald…“ - „Aber das ist doch ein kleiner beschaulicher Ort.“ Anna verstand die Frau nicht ganz. Was sollte in so einer abgelegenen Region denn schon passieren? Aber die Frau schaute nur noch erschreckter drein und griff nach einer Tageszeitung, die achtlos neben Anna auf dem Tresen lag. Bevor sie sie jedoch wegziehen konnte, hatte Anna mehr aus Neugierde zugegriffen. „Tote im Wald von Rittertal“ stand dort in Großbuchstaben. Rittertal. Das war doch der Name dieses Dorfes. Fragend blickte sie die junge Frau an. „Das ist doch hier, oder?“ Die junge Frau lächelte gequält. „Ja, das ist hier. Vor ein paar Tagen wurde hier im Tal die Leiche einer jungen Frau aus dem Ort gefunden. Wir alle kannten sie gut, ich bin mit ihr aufgewachsen.“ Anna war geschockt. „Hat man schon eine Spur vom Mörder?“ - „Nein, leider. Sie war übel zugerichtet. Ihre Kehle war ganz zerfetzt. Wer macht nur so was?“

Jetzt mischte sich ein Gast aus dem Schankraum ein. Es war ein Mann mittleren Alters mit beginnender Kopfplatte und leichten Geheimratsecken. „Wer? Wohl eher was! Ein Tier natürlich. Was sonst sollte sofort an die Kehle gehen?“ Die junge Frau sah verärgert und zugleich besorgt aus, sagte aber nichts. Aber der Mann setzte nach, beugte sich zu ihr vor und fragte mit einem süffisanten Lächeln: „Oder glaubst du etwa an Vampire?“ Das letzte Wort hatte er regelrecht geflüstert und brach nun in schallendes Gelächter aus. Seine Kumpanen stimmten mit ein, prosteten sich gegenseitig mit ihren Bierkrügen zu. Bei dem Wort Vampire war die junge Frau regelrecht zusammengezuckt, dabei musste sogar Anna bei der Bemerkung des Mannes über Vampire grinsen. Versöhnlich lächelnd richtete sie sich wieder an die junge Frau hinter dem Tresen. „Vielleicht sagen Sie mir einfach den Weg zur Ritterburg? So spät ist es ja noch nicht. Im Internet wirkte es auch gar nicht so stark bewaldet. Mir passiert bestimmt nichts.“ Die junge Frau setzte gerade zu einer Antwort an, als der Mann von vorhin sie schon unterbrach. „Einfach die Hauptstraße runter. Dann kommen Sie direkt auf den Wald zu. Da bleiben Sie auf dem Weg, der ebenfalls gerade durchführt. Das können Sie gar nicht verfehlen.“ Anna dankte und verließ die Kneipe.

Mit weit ausholenden Schritten marschierte sie los. Schon nach ein paar Minuten war sie aus dem Ort raus und tauchte in den dichten dunklen Wald ein. Es war so dunkel, dass sie bereits nach ein oder zwei Minuten kaum noch ihre Hand vor Augen sehen konnte, geschweige denn den Weg vor ihrer Nase. Blind lief sie weiter und wurde allmählich nervös. Die Geräusche der Nacht taten ihr Übriges. Jedes Knacken oder Rascheln jagte ihr unangenehme Schauer über den Rücken. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, allein durch den Wald Richtung Burg zu laufen? Sie war schon eine gefühlte Stunde unterwegs, als sie dicht neben sich ein tiefes Knurren hörte. Anna blieb wie angewurzelt stehen. Wieder ertönte das Knurren, diesmal ganz dicht hinter ihr. Anna schluckte. Panik stieg in ihr auf und ließ sie ihren Entschluss, allein bei Nacht durch diesen unbekannten Wald zu laufen, bereuen. Langsam drehte sie sich um. Ein paar leuchtend blaue Augen starrten sie an. Riesige Reißzähne ragten aus einem muskulösen starken Kiefer. Das tiefe Knurren ertönte wieder. Es war der Wolf, der Wolf aus dem Zug!

Es war ein ungewöhnlich großes Tier, dessen gefährlich blitzende Augen wachsam auf Anna ruhten. Lauernd und mit gefletschten Zähnen begann der Wolf nun sie zu umkreisen. Anna war wie gelähmt, zu keiner Regung fähig. Angsterfüllt starrte sie auf diesen massiven Körper, dessen Muskeln sich nun anspannten. Ein Frösteln erfasste ihren Körper - trotz der milden Temperaturen des ungewöhnlich warmen Oktoberanfangs. Ihr wurde immer kälter, sie begann mit den Zähnen zu klappern. Nebelschwaden zogen auf, bald so viele, dass ihre Umgebung kaum noch wahrnehmbar war. Anna verharrte in Angst, darauf gefasst, dass der unheimliche Wolf jeden Moment zum Sprung ansetzen und ihre Kehle zerfetzen würde. Die junge Frau fiel ihr ein, die man ganz hier in der Nähe tot im Wald gefunden hatte. Wie hatte der Mann gesagt, es sei nur ein Tier gewesen? Nur ein Tier? Aber ein verdammt Tödliches, wenn man ihm so ausgeliefert war wie Anna jetzt. Aber das Erstaunliche geschah. Der Wolf zog sich zurück. In einer unterwürfigen Haltung wich er wimmernd vor den immer dichter werdenden Nebelschwaden zurück und war mit vier, fünf Sätzen ganz in der Dunkelheit des Waldes verschwunden.

Anna blieb schweißüberströmt und zugleich zitternd zurück. Unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, stand sie allein auf dem dunklen einsamen Waldweg, als eine Berührung an der Schulter sie aufschreien und herumfahren ließ. Vor ihr stand ein junger Mann. Groß und breitschultrig hatte er sich hinter ihr aufgebaut, seine smaragdgrünen Augen schauten sie mit einem undefinierbaren Blick an. Angsterfüllt betrachtete Anna ihn. Er hatte markante Gesichtszüge, dunkelblonde Locken, die ihm locker auf die Schultern fielen. „Sie sollten nicht allein im Wald umher laufen.“ In seiner Stimme klang ein leichter Tadel mit. „Die Nacht ist bereits hereingebrochen.“ Annas Kehle war wie zugeschnürt. Sie musste mehrmals schlucken, bevor sie in der Lage war, zu antworten. „Was war das?“ Sie hörte wie ihre Stimme zitterte. „Ein Wolf. Wie ich schon sagte, Sie sollten nicht mehr um diese Zeit im Wald unterwegs sein.“ - „Aber ich wollte doch nur meine Tante besuchen, die auf der Ritterburg lebt. Eigentlich wollte sie mich abholen lassen, aber es ist niemand gekommen.“

Der junge Mann zog kritisch eine Augenbraue hoch. „Und da sind Sie nicht auf die Idee gekommen, sich ein Zimmer für die Nacht zu nehmen? Eigentlich müssten Sie am Gasthaus vorbei gekommen sein, als Sie in den Wald gingen. Es befindet sich direkt an der Hauptstraße.“ Fragend schaute er Anna an. Unter seinem leicht belustigten, leicht tadelnden Blick begann diese, sich allmählich unwohl zu fühlen. Dem entsprechend genervt rollte Anna die Augen, bevor sie antwortete. „Ich habe nicht gedacht, dass mir etwas passieren könnte. Ich wusste doch nicht, dass hier wirklich so ein gefährliches Tier herumläuft, das vielleicht auch die junge Frau getötet hat, die man vor einigen Tagen gefunden hat…“ Amüsiert betrachtete der junge Mann sie. „Ach, Sie haben also von der Toten gehört und die Gefahr einfach nicht ernst genommen?“ Anna spürte wie sie rot anlief. „Vielleicht nehmen Sie die Gefahr jetzt ernst genug und lassen sich von mir sicher zur Burg Rittertal geleiten?“ Mit einem schelmischen Grinsen bot er ihr seinen Arm an. Die Art wie er das sagte ließ keinen Widerspruch zu. Seine Stimme hatte etwas Zwingendes. Ohne dass sie sich groß wehren konnte, fügte Anna sich. Eingehakt ließ sie sich von ihm zur Ritterburg ihrer Tante bringen.

Die Blutsippe

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