Читать книгу Die Blutsippe - Mona Gold - Страница 8
6. Böse Überraschungen
ОглавлениеAnna war der kalte Angstschweiß auf die Stirn getreten. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie hier unten bereits herumirrte. Anfangs hatte sie sich vorsichtig in die Richtung zurück getastet aus der sie gekommen war. Aber dort hatte sie in völliger Dunkelheit nichts finden können, um den Mechanismus zur Öffnung der Tür in Gang zu setzen. Ihr Weg zurück zur Wendeltreppe war auch nicht erfolgreicher.
Also hatte sie die Flucht nach vorn angetreten und war langsam tastend und sich ganz auf ihren Instinkt verlassend die Wendeltreppe hinuntergeschlichen. Irgendwann war diese zu Ende und seitdem bewegte sich Anna ebenerdig weiter. Bestimmt war sie schon zwei oder drei Stunden unterwegs, als sie mit dem Kopf gegen etwas Hartes stieß. Schmerzvoll rieb sie sich die Stelle an ihrer Schläfe und strich vorsichtig mit den Fingerkuppen über den lädierten Bereich. Bereits diese winzige Berührung ließ Anna schmerzhaft das Gesicht verziehen. Hoffentlich gab es nicht noch eine Beule.
Ein plötzliches Geräusch ließ Anna zusammenfahren. Wie elektrisiert verharrte sie. Ihr Herz begann zu klopfen. Schweiß rann ihre Schläfen herab. War sie vielleicht nicht allein? Wer war außer ihr noch hier unten? Und wieso hatte sie plötzlich solche Angst? Sollte sie nicht froh sein, wenn man sie hier fand und aus dieser ausweglosen Situation befreite? Noch während sie ihren Gedanken nachhing und sich über ihr ungutes Gefühl in der Magengegend wunderte, griff plötzlich etwas nach ihrem Arm, wirbelte sie herum und drückte ihr den Mund zu. Klauenartige Hände krallten sich um ihren Leib und hielten sie wie ein Schraubstock fest. Anna roch einen warmen, fauligen Atem an ihrer Halsbeuge. Ein tiefes, wildes Knurren direkt neben ihrem Ohr ließ sie erschaudern. Etwas Nasses berührte sie am Hals. Immer wieder. War das etwa eine Zunge, die über ihren Hals schleckte? Das Knurren wurde tiefer und grollender. Anna begann zu zittern. Sie war wie gelähmt. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Noch während sie völlig konfus versuchte zu überlegen, wie sie dem Angreifer entkommen konnte, spürte sie einen brennenden Schmerz am Hals. Etwas bohrte sich blitzschnell in ihre Halsbeuge und saugte! Direkt neben Annas Ohr erklang ein gieriges Schlürfen und Schmatzen! Gleichzeitig spürte sie etwas Warmes an ihrem Hals herunterlaufen. Sie nahm einen eisenartigen Geruch wahr. Ob das ihr eigenes Blut war? Ihr wurde schlecht und sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, als sie ein wütendes Fauchen vernahm.
Gleich darauf wurde sie losgelassen und sackte zu Boden. Völlig geschwächt und mit einem hundsmiserablen Gefühl in der Magengegend hockte sie auf dem Fußboden und lauschte mit zunehmenden Schrecken dem Gefauche und dem Wortgefecht, das nun direkt neben ihr in der Dunkelheit einsetzte. „Lass sie in Ruhe!“ Anna fuhr zusammen. Sie kannte die Stimme. Es war Leo. Leo war hier unten und hatte sie gerettet! Ob man ihm gesagt hatte, dass sie ihn suchte? Aber woher wusste er, dass sie sich im unbewohnten Südflügel befand? Sie hatte niemandem gesagt, wohin sie ging. „Du machst dich lächerlich, Cousin! Sie ist doch nur ein Mensch!“ Nur ein Mensch? Was sollte sie denn sonst sein? Wieder ertönte ein wütendes Fauchen, begleitet von einem lauten Poltern.
„Bleib weg von ihr. Verschwinde!“ Das war wieder Leos Stimme. Er war hier und beschützte sie. Doch schien sich der unbekannte Gegner Leos nicht groß von seinen Drohgebärden beeinflussen zu lassen, sondern lachte nur schäbig und dreckig in die Dunkelheit hinein. „Irgendwann wirst du auch wieder zu den alten Riten zurückfinden!“ - „Niemals! Und jetzt verschwinde. Lass dich hier nie wieder blicken.“ Statt einer Antwort ertönte wieder das hämische Lachen, gefolgt von lauten, polternden Schritten. Dann war alles ruhig.
Ein Licht wurde angezündet. Anna hörte noch das Zischen eines Streichholzes, dann sah sie, dass tatsächlich Leo vor ihr stand und eine der Kerzen angezündet hatte. Diese waren hier in regelmäßigen Abständen zusammen mit je einem Päckchen Zündhölzer in kleinen Nischen aufgestellt. Im Kerzenlicht sah sie nun, wie Leo neben ihr kniete und ihren Hals untersuchte. „Dieser Schuft! Glücklicherweise bin ich noch rechtzeitig gekommen.“ Anna blinzelte irritiert. „Rechtzeitig? Er hat mich doch schon angefallen. Was hätte denn noch passieren sollen?“ Leo sah ihr tief in die Augen. Ganz zart legte er seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hob es so an, dass sie ihm in die Augen blicken musste. Tief in die Augen blicken musste, die smaragdgrün im zarten Kerzenlicht schimmerten und sie teils streng, teils besorgt anblickten. „Das möchtest du gar nicht wissen, glaube es mir!“ Die Worte des Angreifers kamen ihr in den Sinn. „Was hat der andere Mann gemeint mit 'zu den alten Riten zurückkehren' und 'sie ist doch nur ein Mensch', was sollten ich und du denn sonst sein?“ Bei ihren letzten Worten hatte es amüsiert um Leos Mundwinkel gezuckt, bevor er zu einer Antwort ansetzte. „Auch das möchtest du nicht wirklich wissen!“ Zärtlich strich er mit seinem Daumen über ihren Mund und schüttelte lächelnd den Kopf. „Vertrau mir, kleine Anna.“ Immer noch lächelnd stand er auf und zog sie dabei mit sich in die Höhe. Als sie mühsam wieder auf beiden Beinen stand, lehnte sich Leo mit ernstem Gesicht an die Felswand.
„Wie geht es dir? Kannst du laufen?“ Noch immer von leichten Schwindelgefühlen geplagt, nickte Anna vorsichtig und hielt sich Hilfe suchend an seinem muskulösen Unterarm fest. Wieder blickte er ihr tief in die Augen. Anna wurde ganz mulmig zumute. Das Grün seiner Augen war so intensiv, sie könnte ihn ewig so anschauen… Leicht amüsiert räusperte Leo sich. „Da ist noch etwas. Wir müssen uns eine Erklärung überlegen, warum du diese beiden Löcher am Hals hast. Von dieser Begegnung solltest du besser niemandem erzählen. Es würde dir ohnehin niemand glauben. Die Leute würden dich für verrückt erklären, wenn du ihnen von einem blutsaugenden Fremden, der in euren Kellern herumschleicht, erzählen würdest.“ Daran hatte Anna noch gar nicht gedacht. Sie würde diesen Übergriff der Polizei melden müssen. „Aber ich habe doch einen Zeugen! Du hast es doch auch gesehen!“ Leo hob eine Augenbraue. Ein trauriger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. „Bedaure, aber ich werde mich nicht lächerlich machen. Solltest du jemandem etwas davon erzählen, werde ich nur bestätigen, dich blutend allein am Boden gefunden zu haben.“ Schockiert starrte Anna ihn an. Hatte sie eben gerade richtig gehört? Leo wollte ihr nicht helfen? Als habe er ihre Gedanken gelesen, strich er ihr liebevoll über die linke Wange. „Verzeih, aber ich habe meine Gründe. Gründe, die du nicht verstehen würdest.“
Nicht verstehen würdest? Aber hatte nicht die andere Person ihn mit „Cousin“ angesprochen? Ungläubig schüttelte Anna den Kopf und stieß Leos Hand weg. „Was soll das heißen, du hast deine Gründe? Der Mann, der mich vor einigen Minuten attackiert hat, sprach dich mit 'Cousin' an. Du weißt also sehr wohl, wer das eben gerade war und willst es nicht bei der Polizei bestätigen.“ Bitterkeit stieg in ihr auf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ausgerechnet jetzt fiel ihr in diesem Zusammenhang auch noch ihr fehlendes Alibi für die zwei Stunden am gestrigen Abend ein. Was, wenn Leo ihr auch hierbei nicht helfen würde? Ihr Entsetzen musste sich wohl auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Leo sah sie fragend an. „Ist noch was?“ Sie wollte sich abwenden, doch er hielt sie am Oberarm fest. „Was ist los?“
Mit vor Wut blitzenden Augen starrte sie ihn an, nahm seine Hand von ihrem Arm und machte auf dem Absatz kehrt. Zumindest versuchte sie es, aber sie hatte nicht mit Leos Reaktionsschnelle gerechnet. Blitzschnell hatte er seinen Arm um ihre Taille geschlungen und drehte sie zu sich um. Mit der anderen Hand hob er wieder ihr Kinn an und zwang sie, ihn anzusehen. „Was ist los? Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du ein Problem hast.“ Als Anna ihn so vor sich stehen sah, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Vielleicht lag es aber auch an dem Übergriff des Fremden von vorhin, schließlich war es nicht alltäglich, von einem blutsaugenden Unbekannten angegriffen zu werden. Schniefend nickte sie und begann mit knappen Worten vom Besuch der Polizei und deren Verdacht, sie könnte an dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tante beteiligt sein, zu erzählen. Als sie fertig war, lächelte Leo sie an.
Beruhigend fasste er sie bei den Schultern. „Ungelogen habe ich dich gestern Abend bereits eine Weile beobachtet, genauer gesagt seitdem du die Hauptstraße entlang kamst und in den Wald gelaufen bist. Ich wollte mich nicht aufdrängen, also habe ich dich nicht angesprochen. Erst als ich dich vor dem Wolf beschützt habe, habe ich mich zu erkennen gegeben. Du siehst also, dass du dir keine Sorgen machen musst.“ Anna fiel ein Stein vom Herzen. Also hatte sie tatsächlich einen Zeugen, der ihre Unschuld bei der Polizei bestätigen konnte. Vielleicht würde er es sich mit dem Überfall heute ja auch noch einmal anders überlegen… Als sie eine Frage in dieser Hinsicht stellte, erntete sie jedoch nur erneute Ablehnung. Anna verstand das nicht. Wieder strich Leo ihr liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du würdest es nicht verstehen, vertrau mir. Diesen Vorfall kannst du nicht der Polizei melden. Du würdest dir selbst schaden, niemand würde dir glauben, wenn du einen blutsaugenden Fremden beschuldigen würdest, dich überfallen und dein Blut getrunken zu haben. Außerdem würde ich meinerseits erst recht nicht zugeben, solch eine Person zu kennen bzw. von einer solchen mit 'Cousin' angesprochen zu werden.“ Anna schluckte. Nun fasste Leo sie sanft an den Schultern und schüttelte sie leicht. „Stell dir doch mal vor, wie du einem Polizisten diesen Vorfall beschreiben würdest?“ Leo wurde allmählich unruhig. Anna hatte etwas erlebt, das durchaus real war, jedoch niemals irgendwo ernst genommen werden würde. Er wusste nur zu gut, dass sie die Wahrheit sprach, aber er wusste noch zu wenig von ihr, um ihr trauen zu können. Niemals würde er bei der Polizei diesen Vorfall bestätigen. Fast schon mitleidig schaute er auf die junge Frau runter, die mehr als zwei Köpfe kleiner war als er und nun einen wirklich erbosten Gesichtsausdruck zur Schau trug.
Hinter Annas Stirn arbeitete es. Irgendwie hatte Leo sogar recht. Was sollte sie einem Polizisten denn erzählen? Dass sie in einem alten Keller von einem Vampir angezapft worden war? Bestenfalls würde sich die gesamte Polizeiwache über sie amüsieren, aber glauben, glauben würde ihr niemand. Sie schluckte, dann nickte sie langsam. „Du hast recht, niemand würde es mir glauben.“ Doch noch während sie diese Worte sprach kam ihr irgendetwas eigenartig vor. Wieso hatte Leo nicht genauso verstört auf diesen Vorfall reagiert wie sie selbst? Es war, als habe er eine gewisse Routine mit Angelegenheiten dieser Art… Anders ließ sich sein Verhalten nicht beschreiben. Aufmerksam sah sie ihn an. Er jedoch erwiderte ihren Blick mit einem unverfänglichen Lächeln. Doch hinter seinem Lächeln verbarg er seine große Besorgnis darüber, dass es ausgerechnet Anna getroffen hatte. Ausgerechnet. Jedem anderen Bewohner der Burg wäre von alleine klar gewesen, dass diese Art der Bedrohung nichts ist, das man bei der Polizei anzeigen kann, sondern etwas, das auf andere Weise gelöst werden musste. Aber Anna war erst seit gestern auf der Burg. Als nach dem Tod ihrer Mutter ihre Existenz bekannt wurde, hatte er zumindest am Rande mitbekommen, dass sie ohne jegliches Wissen über das mütterliche Erbe groß geworden war. Mittlerweile vermutete er, dass das auch ihr Nichtwissen um die Existenz von Vampiren betraf. Das könnte sie zu einem Problem werden lassen. Ausgerechnet die Frau, die sein Herz so hoch schlagen ließ wie schon lange keine mehr vor ihr. Er wollte alles andere, als sie gegen ihn und Seinesgleichen aufbringen. Aber daran wollte er jetzt lieber noch nicht denken. Vielmehr sollte er sie besänftigen und ihr wirklich helfen, wo es möglich war, um sie für sich zu gewinnen.
Die erste Gelegenheit dazu bot sich in Form seiner entlastenden Aussage bei der Polizei bezüglich des gestrigen Abends. So versöhnlich wie es nur ging lächelte er Anna an. „Wenn du willst können wir gleich jetzt zur Polizei fahren und die Aussage machen.“ Jetzt lächelte sie endlich wieder. „Aber dafür ist es längst zu spät.“ Mit einem flüchtigen Kopfnicken verwies sie auf seine Armbanduhr. "Schau doch mal, wie spät es schon ist. Wir sind doch bestimmt schon Ewigkeiten hier unten.“ Irritiert warf Leo einen Blick auf seine Armbanduhr. „Da muss ich dich leider eines Besseren belehren. Es ist erst halb sechs. Wenn wir jetzt Johanns Kutsche nehmen, sind wir in nicht mal zwei Stunden da.“ Anna schaute zweifelnd. „Wäre es nicht besser, deine Aussage auf morgen zu verschieben?“ Sie wollte noch weiter sprechen, doch legte ihr Leo ganz zart seinen Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nicht morgen. Jetzt und heute. Hast du irgendeine Telefonnummer von den beiden Polizisten, die dich heute befragt haben? Ja? Dann ruf an. Deine Tante hat zwar kein Telefon, aber du hast doch bestimmt ein aufgeladenes Smartphone von zu Hause mitgebracht?“ Als Anna ihn fragend anschaute, zuckte er nur lächelnd mit den Schultern. „Wie gesagt, du hast mir bei unserem gestrigen Spaziergang durch den Wald sehr, sehr viel über dich erzählt. Unter Anderem, dass du befürchtest bei der vorsintflutlichen technischen Ausstattung deines neuen Zuhauses sehr bald Entzugserscheinungen zu bekommen und deswegen ein voll aufgeladenes Smartphone mitgebracht hast.“ Lächelnd strich er mit seinem Zeigefinger erst an Annas Schläfe entlang, dann an ihrem Kinn und endete kurz vor ihrem Schlüsselbein. Dabei sah er ihr tief in die Augen und Anna wurde das Gefühl nicht los, hypnotisiert zu werden. Auch wusste sie nicht genau, warum sie ohne weiter nachzudenken gehorsam ihr Smartphone zusammen mit der Visitenkarte des Polizisten aus ihrer Hosentasche zog und begann die Nummer zu wählen.
Zehn Minuten später saßen sie in der Kutsche des alten Burgverwalters. Glücklicherweise war Johann gerade von einem kurzen Ausflug ins Dorf zurückgekehrt, so dass sie keine Zeit damit verloren, erst noch Pferd und Kutsche fahrbereit zu machen. Während sie durch den Wald fuhren, der sich um die Burg herum erstreckte, beobachtete Anna Leo. Irgendwie wurde sie aus ihm nicht schlau. Er war anders als die Männer, die sie vor ihm kannte. Anders auf eine Art, die sie nicht genau beschreiben konnte. Dazu kam noch ihre steigende Besorgnis, was sie ihm am gestrigen Abend alles auf ihrem Weg zur Burg erzählt haben mochte. Ihren Namen, wer sie war, den Umfang ihres Erbes, ihre Begeisterung für ihr neues Smartphone und damit verbundene Furcht auf Burg Rittertal nicht mal eine Steckdose zum Aufladen zu finden… Wie hatte er das nur angestellt, dass sie ihm gestern Abend so sehr vertraute? Und wieso erinnerte sie sich an nichts mehr? Lächelnd schaute Leo sie an. Als ob er ihre Gedanken erraten hätte… Seine glitzernden grünen Augen betrachteten sie übermütig. Es waren wunderschöne Augen, in denen sie sich am liebsten verloren hätte. Und sein Lächeln. Es war wirklich umwerfend. Wann immer er sie so ansah konnte sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Ob er sie so auch gestern Abend ausgefragt hatte? Unsinn, schalt sie sich. Das würde immer noch nicht erklären, warum sie sich an nichts mehr erinnern konnte.
Um sich selbst wieder unter Kontrolle zu bringen, setzte sie sich gerade auf, schaute stur auf den Waldweg vor ihnen, der allmählich in die sandige Dorfstraße überging und begann, den Spieß umzudrehen. Jetzt würde sie ihn ausfragen. Lächelnd beugte sie sich vor. „Aber nun haben wir genug von mir geredet. Erzähl mir etwas von dir.“ Lachend warf Leo den Kopf in den Nacken. „Du lernst schnell. Gut. Was möchtest du wissen?“ - „Alles. Was du hier machst, wo du herkommst, ob du verheiratet bist, ob du Kinder hast. Einfach alles.“ Verschmitzt beobachtete sie ihn von der Seite und errötete, als er sie ebenfalls anlächelte. Mit seinem umwerfenden Lächeln. Anna konnte sich nicht erinnern, jemals einen Mann mit so viel Charme getroffen zu haben. Er wirkte so umwerfend, so entwaffnend, so…anziehend. Diese grünen Augen, sein ebenmäßiges Gesicht, sie hatte das Gefühl, sich darin zu verlieren. Wie machte er das nur? Ob das Liebe auf den ersten Blick war? Wenn man sich von jemandem vom ersten Augenblick an so angezogen fühlte, dass man zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war? Leos Stimme ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. „Warum wechseln wir uns nicht ab? Du stellst eine Frage und ich beantwortete sie dir, danach stelle ich dir eine Frage und du antwortest, und so weiter?“
Überrascht schüttelte sie den Kopf. „Aber dann bist du immer noch im Vorteil! Du hast gestern Abend schon so viel über mich erfahren… Diesen Vorsprung kann ich so ja gar nicht mehr aufholen.“ Mit gespielter Empörung knuffte sie ihn in die Seite und wollte gerade dazu übergehen, sich weiter zu beschweren, als er sie mit seiner nächsten Frage völlig aus der Bahn warf. „Bist du eigentlich noch zu haben?“ Verdutzt schaute Anna ihn an. „Musst du darüber nachdenken?“ Mit spöttisch blitzenden Augen beobachtete Leo sie. Irritiert schüttelte Anna den Kopf. „Nein, nein, natürlich nicht. Es ist nur so, dass mich noch keiner so direkt gefragt hat, ich meine so schnell gefragt hat.“ - „So direkt oder so schnell gefragt hat?“ - „Was? Ähm, beides.“ - „Aha. Und?“ - „Was und?“ Wieder lachte Leo. „Kann ich mir noch Hoffnung machen?“ - „Ja, also nein. Also, das heißt, ich bin nicht verheiratet.“ - „Aber du hast einen Freund?“ - „Nein, nein.“ Meine Güte, was redete sie nur für einen Stuss! Nicht verheiratet! Danach hatte er doch gar nicht gefragt, sondern wollte allgemein wissen, ob sie mit irgendjemandem liiert war. Ob nun verheiratet oder nicht, so genau hatte er sich gar nicht erkundigt. Jetzt glaubte er bestimmt, dass sie leicht beschränkt war. Besser sie hielt für den Rest der Fahrt den Mund. In seiner Gegenwart konnte sie sich einfach nicht konzentrieren. Und noch mehr blamieren wollte sie sich nun wirklich nicht. Unsicher verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte lippenkauend auf den Weg vor ihnen.
Nach knapp zwei Stunden hatten sie die Stadt erreicht, in der sich das Polizeirevier und damit das Büro von Kommissar Baier befand. Mit klopfendem Herzen betrat Anna das mehrstöckige Gebäude. Wenn nur alles gut ging! Obwohl sie sich nichts vorzuwerfen hatte, hatte sie doch beim Betreten des Gebäudes ein seltsames Gefühl beschlichen. Leo, der ihre Nervosität bemerkte, nahm sie sachte am Arm und führte sie durch die vielen Gänge bis zum Büro des Kommissars. Als sie anklopften, ertönte sofort ein „Herein“. Leo, der schützend vor Anna stand, öffnete die Tür und zog Anna hinter sich her. „Frau Wolfstöter hatte Sie bereits angerufen. Es geht um gestern Abend. Nachdem Frau Wolfstöter in Rittertal angekommen war, habe ich sie zum Rittergut begleitet. Sie hat also mit dem Verschwinden von ihrer Tante nichts zu tun.“
Kommissar Baier saß an seinem Schreibtisch und hatte mit unbeweglicher Miene zugehört. Was er zu hören bekam, verbesserte seine Laune nichts gerade. Er glaubte dem jungen Mann kein Wort. Heute Morgen noch war der jungen Frau auf der Ritterburg alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, als er sie darauf hinwies, dass sie ohne Alibi durchaus als Tatverdächtige in Frage kam und nun auf einmal marschierte sie mit einem vermeintlichen Zeugen in sein Büro. Also verzog er nur missmutig das Gesicht und wies Anna an, bitte draußen zu warten. Als diese nur unsicher Leo anblickte, verdeutlichte er mit einer verächtlichen Handbewegung seine Anweisung. Er war es schon lange nicht mehr gewohnt, dass seinen Anordnungen nicht sofort Folge geleistet wurde. Unsicher blickte Anna Leo an. Der nickte nur und gab ihr flüchtig einen Kuss auf die Wange. Anna wurde rot und nickte schüchtern. „Ich warte draußen bei der Kutsche.“ Plötzlich war ihr einfach nur noch übel in dem stickigen Büro und sie brauchte dringend frische Luft. Irritiert zog Kommissar Baier die Augenbrauen hoch. Hatte er es sich doch gleich gedacht! Zwischen den beiden lief was! Wieso sonst sollte der junge Mann Frau Wolfstöter auf die Wange küssen und ihr dabei so tief in die Augen blicken? Deshalb auch die entlastende Aussage. Er würde Stein und Bein darauf verwetten, dass die junge Frau nach ihrer Ankunft in Rittertal nicht eine Sekunde mit dem jungen Mann zusammen war. Jetzt musste er es den beiden nur noch beweisen…
Mit hochrotem Kopf verließ Anna das Gebäude. Er hatte sie geküsst! Zwar nur auf die Wange, aber das war immerhin ein Anfang. Vor freudiger Erregung zitternd wickelte sie ihre Jacke um ihren Körper und strahlte über das ganze Gesicht. Sie strahlte immer noch, als sie aus dem Eingang kam und auf die Kutsche zu ging, die Leo einfach auf dem Parkplatz abgestellt hatte. Versonnen lächelnd kraulte sie das Pferd hinter den Ohren und sah sich um. Es war die nächstgrößere Stadt, in der sich die Polizeistation befand. Ehrlich gesagt hatte sie es sich größer vorgestellt. Dass ein solch kleiner Ort bereits Stadtrechte haben sollte erstaunte sie ebenfalls. Wahrscheinlich irgendein Überbleibsel aus dem Mittelalter. Tröstlich war nur, dass es offenbar alles gab. Vielleicht sollte sie nicht immer alles mit ihrer Heimatstadt Berlin vergleichen.
Gedankenverloren beobachtete sie das bunte Treiben in der kleinen Fußgängerzone mit den vielen kleinen Geschäften, die sich vor ihrer Nase erstreckten. Doch plötzlich stutzte sie. Gerade als sie neugierig den Eingang eines doch sehr altertümlichen Tischlereibetriebes betrachtet hatte, ging die Tür auf und ein junger Mann war herausgetreten. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, wenn der junge Mann nicht über irgendetwas gestolpert wäre. Vor Schreck ließ er das dick verschnürte Paket, das er unter dem Arm trug, fallen. Mit einem lauten Poltern fiel es auf den Boden und die Verpackung brach auf. Zum Vorschein kamen unzählige angespitzte Holzpflöcke. Es mussten mindestens hundert sein. Was wollte man denn nur mit so vielen Holzpflöcken? Völlig irritiert starrte Anna auf den jungen Mann, der nun hektisch begonnen hatte, die schön gespitzten Pfähle aufzusammeln und flink in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Dabei sah er sich nach allen Seiten nervös um und verschwand dann im Laufschritt in einer Seitenstraße.
Sprachlos schaute Anna ihm hinterher, als sich plötzlich eine Hand von hinten auf ihre Schulter legte und leicht zudrückte. Erschreckt wirbelte sie herum und schaute… in Leos Gesicht. Er strahlte sie an. Wieder mit seinem umwerfenden Lächeln. „Alles klar?“ - „Das müsste ich dich fragen. Ist alles gut gegangen? Hat er dir geglaubt?“ Leos Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. „Was heißt hier 'Hat er dir geglaubt?' Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen. Außerdem entspricht es voll und ganz der Wahrheit, dass wir beide die Zeit zwischen deiner Ankunft in Rittertal und deinem Eintreffen auf der Burg zusammen verbracht haben. Ich habe nicht gelogen.“ Nun war sein Gesichtsausdruck regelrecht wild und empört. Dass er Recht hatte, wusste Anna. Trotzdem war seit dem Besuch der Polizei und deren Anschuldigungen ein schales Gefühl in ihrer Magengegend zurückgeblieben.
Schniefend nickte sie und suchte insgeheim nach einem Thema, dass weniger schlechte Stimmung zwischen ihnen verbreiten würde. Dazu fiel ihr der junge Mann mit seinen eigenartigen Holzpfählen ein, den sie noch vor ein paar Minuten vor der Tischlerei beobachtet hatte. „Eben gerade habe ich einen jungen Mann aus der Tischlerei dort drüben mit einem ganzen Packen Holzpflöcke kommen sehen. Findest du das nicht auch eigenartig? Wozu braucht man denn noch angespitzte Holzpfähle?“ Während sie sprach, hatte sie die Tür zur Tischlerei keine Sekunde aus den Augen gelassen, so dass ihr Leos Erbleichen verborgen blieb. Auch dass er ihr nicht antwortete kam ihr nicht seltsam vor. „Die einzige Bedeutung, die ich mit angespitzten Holzpflöcken in Verbindung bringe ist das Töten von Vampiren. Denen muss man ja bekanntlich einen Pflock schön tief ins Herz schlagen, damit sie endlich tot sind und wirklich nie wieder auferstehen.“ Lachend drehte sie sich um und erschrak zutiefst. Leo stand noch blasser als sonst vor ihr starrte sie voller Verachtung an. „So? Muss man das?“ Sagte er und drehte sich wütend um. Mit mehr Schwung als nötig setzte er sich auf den Kutschbock und nahm die Zügel in die Hand. „Wenn du hier in der Stadt nicht übernachten willst, solltest du dich beeilen.“ Sein Blick war eiskalt. Wie ein Racheengel thronte er auf der Kutsche und starrte wutentbrannt zu Anna herunter, die sich immer noch völlig perplex beeilte, ebenfalls aufzusitzen. Kaum hatte sie sich zurück gelehnt, fuhr die Kutsche auch schon an. Die gesamte Fahrt über sprach Leo kein Wort mehr mit ihr. Jeder ihrer Versuche, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, scheiterte kläglich. Ratlos und mit verschränkten Armen saß Anna auf dem Kutschbock neben Leo. Sie wusste einfach nicht, was sie falsch gemacht hatte.