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1. Paris – LA, ein Anruf

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Stille Tage in Paris

Roman

Monica B. Armstrong, Christine „Tini“ Trapp & Peter Citti


Dies ist ein Roman über das Filmemachen in Frankreich, jede Ähnlichkeit mit lebenden und toten Personen ist nicht zufällig.

Über die Autor:innen

Monica B. Armstrong, geb. 1990 in Rom, aufgewachsen in Klagenfurt, Autorin und Sales Agent für Filme; lebt in Los Angeles.

Christine „Tini“ Trapp, geb. 1992 in Viktring, aufgewachsen in Klagenfurt, Autorin, PR-Agentin für Filme, Journalistin, lebt in Los Angeles.

Peter Citti, geb. 1970 in Villach, Autor, Drehbuchautor und Filmregisseur, lebt in Mailand und Sevilla.

Der einzig wahre Realist ist der Visionär.

Federico Fellini

Für meine beste Freundin Christine, die mich nächtelang von Paris aus in LA zugequatscht hat.

Los Angeles im April 2021

Monica B. Armstrong

Bonjour, comment allez-vous? (Hallo, wie geht’s Ihnen?) Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Janet West, ich bin 23 Jahre alt, und mein Vater hat mich vor zwei Tagen zu nachtschlafender Zeit in Europa angerufen, so als hätte er noch nie etwas von Zeitzonen gehört.

Dad sagt: „Mädel, West-Film befindet sich in einer Notsituation, und du bist die Einzige, die uns vorübergehend aus der Patsche helfen kann.“

Wenn ein Dad so anfängt, bedeutet das, dass kein Widerspruch geduldet wird.

„Okay, Dad, was steht an?“, darf ich höflichkeitshalber fragen.

„Duane hat einen lukrativen Job drüben in London bei einem 200-Millionen-Dollarfilm bekommen, und die Gelegenheit können wir nicht auslassen. Es ist ein großer Actionfilm, der erste, in den wir seit vielen Jahren einsteigen werden, und Duane ist im richtigen Alter, um dort einen der Executive Producer zu machen, ich hoffe, das ist dir klar, Babe“, sagt mein Dad unmissverständlich in Englisch, obwohl ich 10.000 Kilometer weit weg in Klagenfurt, Kärnten, bin, wo ich an der Alpen-Adria-Universität gerade meinen Abschluss in den Fächern Film- und Theaterwissenschaften, Englisch, Französisch und Italienisch gemacht habe.

„Well, Dad, ich bin dabei. Was ist zu tun?“, frage ich, es ist klar, dass ich in Klagenfurt keine Wurzeln schlagen werde, auch wenn unser Abschlussfilm noch nicht fertig ist, sollen ihn andere fertigstellen, es gibt genug Wichtigtuer an der AAU, die sich berufen fühlen, so einen Film ins Finale zu bringen. Ich muss damit rechnen, nicht zur Premiere eingeladen zu werden.

„Schwamm drüber, vergiss Klagenfurt, schau einfach nach vorn, Babe, die Vergangenheit interessiert dich nicht mehr“, sagt mein Mentor, der Verrückte, der in Kärnten zurückbleiben wird.

„Das ist ja unmöglich, dass Monica und Johnny unsere Janet von heute auf morgen wegnehmen“, polterten die Katzenomi und der Altbulle, also Grandma und Grandpa, in Kärnten, aber natürlich wissen auch sie, dass der Tag gekommen ist, von dem jeder hoffte, dass er niemals kommen würde, und der doch kommen musste.

So gab es zu meinem Abschied nur ein kleines Fest mit ganz engen Verwandten und Freunden. Der Verrückte zeigte mir zu Ehren „Leoparden küßt man nicht“, den Film, den er auch damals gezeigt hat, als meine Mutter die Stadt für immer verlassen hat, um in Los Angeles ihr Glück zu versuchen, und dort bestens verheiratet wurde.

Was für ein schöner Film! Der ideale Film, um Abschied zu nehmen; ein letztes Mal gibt es gutes Kino-Cola und die feine Kinomarmelade, und dann sitze ich auch schon am nächsten Morgen im Bus nach Venedig – von dort startet das Flugzeug, das mich nach Paris bringen wird.

Rue Jenner, 13, im 13. Arrondissement, 75013 Paris. Es ist eine Megastadt in einem ganz anderen Land. Man wacht auf, und man spricht Französisch.

Ich bin allein in einem kleinen Apartment über den Filmateliers, die für alle möglichen Zwecke vermietet werden. Hier wird alles gedreht, was vor die Kamera gehört: Kurzfilme, Werbung, Szenen für Langfilme, ganze Spielfilme. Es gibt auch eine Requisite und ein Archiv, durch das ich mich am Wochenende wühlen werde.

Duane ist am Wochenende noch da, um mir die wichtigsten Dinge zu zeigen, die ich einfach wissen muss. Es gibt Gästezimmer für die ganz kleinen Crews, die in den Ateliers und in Paris drehen wollen. Alle anderen werden im Hotel Jenner untergebracht, das ganz in der Nähe ist; dort frühstücken sie auch und kommen dann in die Ateliers herüber, wo der allgemeine Treffpunkt ist, es kann aber nicht schaden, wenn ich ab und zu ins Hotel Jenner hinübergehe und den Faulpelzen beim Frühstücksbuffet ordentlich Dampf unter den Hintern mache.

„Lass dich nur ja nicht von den Amis als Köchin einspannen. Die Amis sind die schlimmsten Schnorrer, die du dir vorstellen kannst“, hat Duane mich gewarnt, der schon mit den Gedanken drüben in London ist.

„Wenn du was brauchst, geh einfach zum Bio-Carrefour, das sind gerade mal 200 Meter, das schaffst du locker in der Früh“, sagt Duane.

„Und wo ist hier das nächste Kino?“, frage ich.

„Das Kino. Immer das Kino! Ich wusste doch, dass die Frage kommt“, sagt Duane.

„Na klar, was sonst?“, antworte ich.

„Du bist ganz wie deine Mom und der Verrückte“, sagt Duane.

„Richtig, was sonst?“, antworte ich frech.

„Am besten, du gehst in die MK2 Bibliothèque, das ist nicht weit weg, 1,7 Kilometer, mit denen machen wir auch manchmal was, wenn wir Szenen in einem Kinosaal drehen wollen, die sind total auf Draht, aber die Pressevorführungen unserer eigenen Filme machen wir hier. Unsere beiden Studios sind mit Beamern und 35- und 16-mm-Projektoren ausgestattet, da kannst du wirklich viel sparen, größere Filme machst du am besten auch im MK2, aber so etwas hatten wir bisher noch nicht. Außerdem bist du vom Fach und brauchst keinen Vorführer für unsere kleinen Filme wie Werbung, Kurzfilme und Indies anheuern“, sagt Duane.

„Kann ich mir auch etwas aus dem Fundus nehmen?“, frage ich.

„Klar, nimm, was du willst, ist überhaupt kein Problem. Es gibt keine Inventarlisten“, antwortet Duane.

„Was trägt so eine junge Pariserin in meinem Alter?“, frage ich.

„Auf jeden Fall kurz. Hohe Stiefel. Overknees. Einen langen Mantel und einen Hut“, sagt Duane.

„Wie im Letzten Tango?“

„Wie im Letzten Tango. Mit Hut. Das kommt hier immer perfekt an. Außerdem ist es November“, sagt Duane.

Ich ziehe mich um. Er prüft mein Outfit. Ich schwinge die Hüften wie ein Model. Er ist zufrieden. Er nimmt mich in die Arme und küsst mich. Ich schlinge die Arme um seinen Hals und küsse ihn. Er hebt mich hoch. Ich schlinge die Beine um seine Hüften. Wir treiben es im Stehen. Ich reite genussvoll auf seinem Schwanz. Er legt mich flach. Wir treiben es in einem Atelier auf einer Matratze, die eine Filmcrew hier hat liegen lassen. Wir haben Sex.

Es ist unsere erste und einzige Sexnummer hier in Paris. Am Nachmittag wird er nach London abreisen. Aber diese Sexnummer gehört uns beiden.

Zu Mittag lädt Duane mich noch in die Pizzeria in der Rue Jenner ein, er meint, dass hier die Nudeln besser sind als die Pizza, aber ich bleibe bei der Pizza, weil ich zwei Tage nur Junkfood gegessen habe, und er isst seine Spaghetti, wir genehmigen uns einen Salat zu zweit, die Preise in dieser putain Paris sind atemberaubend.

Während wir essen, suchen seine Füße ihren Weg zwischen meine Beine. Erotik pur. Der Geschmack der Pizza steigt ins unermesslich Feine. Ich verstehe, warum die Pariser Mädchen im Winter kurze Röcke tragen.

Duane bezahlt. Wir verlassen die Pizzeria und küssen uns ein letztes Mal leidenschaftlich auf der Rue Jenner.

Dann kommt der Bus, Duane nimmt seinen Koffer und seine Sporttasche, er winkt mir ein letztes Mal zu, gewürzt mit einer obszönen Geste, und dann ist er weg.

Ich bin allein auf einer Straße in Paris, im 13. Arrondissement, ich bin kaum einen Tag hier in der französischen Hauptstadt, und ich fühle mich wie eine Profinutte, die hier die Gehsteige nach Kunden abklappert.

Ich schlage den Weg zur Pont de Bercy ein, um mein neues Revier etwas kennenzulernen, es ist ein kühler Samstagnachmittag im November, es sind viele Leute auf der Straße, wieso sollte ich nicht ins Kino gehen?

Mir ist es egal, wie ich heute den Tag totschlage, es ist kühl, es ist regnerisch, ich spüre die Kälte zwischen den Beinen, ich hätte Jeans statt des Minirocks anziehen sollen, ich beschließe, mir im Nachmittagsprogramm den erstbesten französischen Film anzusehen und dann ins Atelier zurückzukehren, um in Ruhe das Studio, die Requisite und das Archiv zu durchstöbern.

Die erste US-Crew kommt erst am Mittwoch, bis Mittwoch muss ich gewappnet sein.

Duanes Tipp mit der MK2 Bibliothèque ist perfekt. Ich sehe mir eine Repertoirevorstellung von La vie d’Adèle“ und im Anschluss Les Misérables von Ladj Ly an, die im vergünstigten Doppelprogramm angeboten werden. Ich genehmige mir nach dem fünfstündigen Kinomarathon eine Pause in der Cafeteria und einen Café au lait und ein Törtchen und beschließe, den Samstag mit Poupoupidou abzuschließen, der perfekt zu einem feuchten, kalten Novemberabend passt.

Gegen Mitternacht verlasse ich das Kino, für die Supernachtvorstellung bin ich nach drei Vorstellungen noch nicht bereit, ich bin ja eben erst in Paris angekommen.

Ich nehme eine Seitenstraße zur Seine und komme an den Vorführkabinen vorbei, eine junge Fille, die nicht viel älter ist als ich, genehmigt sich zwischen den Vorführungen einen Joint mit einem Kollegen.

„Salut, wie waren die Filme? War das Bild scharf, oder hast du sonst was an der Vorführung auszusetzen?“, fragt mich die Fille.

„Nein, war alles okay“, antworte ich, „Wieso?“

„Une cinéphile, die sich drei Filme hintereinander gibt, fällt auf, auch in Paris“, antwortet die Fille.

„Bien, das Bild war scharf, der Ton war gut, es war ein echtes Filmerlebnis“, antworte ich.

„Merci, du bist keine Französin, obwohl du gut Französisch sprichst“, sagt ihr Kollege.

„Oui, ich bin eine Amerikanerin aus Österreich“, sage ich.

„Das klingt kompliziert. Da bist du in Paris ganz richtig. Hier ist alles kompliziert“, antwortet ihr Kollege.

„Willst du die Kabinen sehen? Jetzt ist die beste Gelegenheit dazu“, werde ich eingeladen.

Natürlich nehme ich die Einladung an, ich bin ja selbst vom Fach und bin perfekt auf Analog- und Digitalgeräte eingeschult worden.

Die beiden Kinoangestellten rauchen den Joint zu Ende und bieten mir auch einen Höflichkeitszug an; natürlich nehme ich an.

Über die Außenstiegen erreichen wir das Herz des Kinos, die Vorführsäle. 9 digitale Projektoren und 4 Projektoren für die 35-mm-Filme stehen in dem Multiplexkino der französischen Kinokette MK2 zur Verfügung. Natürlich wird mir alles gezeigt. La Fille et le Garçon sind erfreut über meine technischen Kenntnisse, was die Kinovorführung betrifft.

„Vorführer sind in Paris Mangelware“, sagt la Fille.

„Wenn du einen Job in einem Kino suchst, bist du bei uns richtig“, sagt le Garçon.

„Am besten bleibst du gleich bei MK2, dann sind wir oft gemeinsam im Dienst“, sagt la Fille, die hier das Kommando übernommen hat, obwohl sie jünger als le Garçon zu sein scheint. Doch ich lehne ab, ich bin nicht nach Paris gekommen, um Filme zu zeigen, sondern um Filme zu machen, auch wenn es (noch) nicht meine sein werden.

Ich verabschiede mich weit nach Mitternacht von dem französischen Filmvorführerduo, das mir noch einen Gutschein für einen Club im Viertel gibt.

Ich erreiche die Seine, der Fluss ist ruhig, ich denke an den Film mit Agnès Varda, die in ihrem Boot auf der Seine segelt. Eines Tages werde auch ich auf der Seine segeln, aber heute ist mein erster Tag in Paris, an dem schon sehr viel passiert ist. Ich hatte sehr guten Sex mit Duane, und ich war im Kino.

Paris, ich bin hier! Paris, die verbotene Stadt, gehört mir.

Stille Tage in Paris

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