Читать книгу Und sie träumte vom Osterhasen - Monica Dunand - Страница 5

KAPITEL 2

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«Es ist das Osterfest alljährlichfür den Hasen recht beschwerlich.»

(Wilhelm Busch)

24. April 2011:

Melanie war zum Osterfest bei ihrer Schwester eingeladen. Sie hatte zu ihrer Familie einen engen, aber unregelmässigen Kontakt, was aber nicht auf Streitereien zurückzuführen war. Die Lehmanns hatten schlicht nicht das Bedürfnis, sich so häufig zu sehen oder zu hören wie andere Familien. Dennoch freute sie sich auf den heutigen Brunch bei Anna; vor allem auf ihre kleine Nichte Lea. Die Vierjährige war ein echter Sonnenschein, wenn auch ziemlich vorlaut und stur. Meli war nach einem Tag mit der Kleinen meist müder als nach einer ganzen Woche im Büro. Sie bewunderte ihre ältere Schwester, die Job und Kind so problemlos unter einen Hut brachte und dabei auch noch eine perfekte Ehefrau für ihren Liebsten Tom war.

Melanie hatte schon immer zu Anna, die fünf Jahre älter war als sie, aufgeschaut. Ihr war immer alles leichtgefallen: die Schule, der Job, die Männer. Nun wohnte sie in einem wunderschönen Haus mit grossem Garten. Meli war nicht eifersüchtig auf ihre Schwester, sondern stolz. Sie wusste, dass Anna für all das gearbeitet und sich ins Zeug gelegt hatte. Und Tom war ein toller Kerl: witzig, höflich und ein liebevoller Vater. Sie gönnte den beiden ihr Glück von ganzem Herzen.

Auch ihre Mutter war zum Brunch eingeladen. Seit Franziska die Scheidung von Melis Vater eingereicht hatte, hatten Mutter und Tochter eine unverkrampfte Beziehung zueinander. Sie telefonierten ab und zu, um sich auf dem Laufenden zu halten und trafen sich alle paar Wochen zum Kaffeeklatsch. Man konnte Franziska nicht als typische Mutter bezeichnen – falls es sowas überhaupt gab: Sie hatte nie versucht, sich in Melis Leben einzumischen, gab selten Ratschläge – ausser wenn sie direkt danach gefragt wurde – und hatte keinen Kontrollwahn wie andere Mütter. Seit der Scheidung war sie aufgeblüht, ständig auf Reisen und viel ausgeglichener als früher.

Als Melanie klein war, wurde Ostern kaum gefeiert – was zum grossen Teil an ihrem Erzeuger lag. Die beiden Schwestern durften zwar Eier suchen, ein spezielles Frühstück oder kleine Geschenke gab es aber keine. Schokolade war sowieso schlecht für Zähne und Gewicht, weshalb ihr Vater ganz darauf verzichtete. Meli bedeutete das Osterfest aus diesem Grund nicht viel; sie verstand aber, dass Anna ihrer kleinen Tochter eine andere Erinnerung mit auf den Weg geben wollte.

Melanie packte das Ostergeschenk für Lea und das selbstgebackene Brot ein und machte sich auf den Weg. Wahrscheinlich waren die Leute entweder in der Ostermesse oder auf Eiersuche, denn die Strassen waren wie leer gefegt. Meli traf daher ein paar Minuten früher als geplant bei ihrer Schwester ein, wo sie von ihrer aufgekratzten Nichte empfangen wurde.

«Taaante, hallo! Komm schnell, du musst dein Osternest suchen. Der Osterhase war schon da. Und wenn du deins hast, musst du mir helfen. Ich suche schon seit zehn Minuten, hab’s aber noch nicht gefunden.»

Meli umarmte die Vierjährige und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. «Wo ist denn die Mama?»

«Im Garten. Sie sucht ihre Eier. Komm schon!»

Der Sprint durch den kurzen Flur sowie das grosse Wohnzimmer, dessen Wände mit Fotos und Kinderzeichnungen dekoriert waren, war für Meli alles andere als angenehm, zog Lea sie doch mit aller Kraft an der Hand gen Garten. Die österliche Dekoration im Esszimmer nahm sie deshalb auch nur am Rande wahr. Man hätte denken können, ein so kleines, erst vierjähriges Persönchen hätte nicht viel Kraft; aber weit gefehlt!

Endlich im Garten angekommen, massierte Meli ihre Schulter, die kurz vor dem Auskugeln zu sein schien.

Das Bild, das sich Meli bot, als sie die mit Bäumen umrandete Grünfläche betrat, war zum Schreien komisch: Anna und Tom waren auf allen Vieren auf der Wiese unterwegs, hoben hier einen Wäschekorb und da eine Giesskanne hoch und fluchten leise vor sich hin.

«Was ist denn hier los?», fragte Melanie lachend.

«Oh, Schwesterherz, da bist du ja. Komm, ich muss dir etwas in der Küche zeigen», sagte Anna, stemmte sich hoch und zog Meli hinter sich her.

«Wundere dich bitte nicht, Schwesterchen», begann sie ihre Erklärung. «Wir müssen in diesem Jahr alle Ostereier suchen. Du inklusive! Ich hatte vor ein paar Tagen ein Gespräch mit Lea. Ich wollte ihr erklären, dass der nette Hase nur Kindern ein Nest bringt, die Erwachsenen hingegen kein eigenes kriegen, damit sie den Kleinen beim Suchen helfen können. Sie hat sich danach echt aufgeregt. Sie wollte kein Nest von einem Hasen, der Mamas und Papas nicht mag. Sie wollte in den Eiersuch-Streik treten. Nun suchen wir also alle unsere Nester. Tom hat meins versteckt, ich alle anderen.»

«Du weisst, dass ich diese Eiersucherei schon als Kind gehasst habe … »

«Ja, ja! Aber heute gibt’s zur Aufmunterung für die Grossen selbstgemachten Eierlikör», erwiderte Anna und sah ihre Schwester flehend an.

«Eierlikör?» fragte Franziska, die sich selbst hereingelassen hatte, lachend. Sie umarmte ihre beiden Töchter, wurde dann aber augenblicklich von Lea in Beschlag genommen. Anna und Meli trotteten Oma und Enkelin in den Garten hinterher.

Nach der erfolgreichen Eiersuche wurde beim Essen ausgiebig geplaudert und gelacht. Meli scherzte ausgelassen mit ihrer kleinen Nichte, die stundenlang erfundene Geschichten als ihre eigenen erzählte. So hatte sie einen Hasen namens Klopfer und ein Reh mit Namen Bambi gesehen, die zusammen über einen zugefrorenen Teich spazierten. Oder sie konnte mit einem Schirm in der Hand aus dem Fenster ihres Kinderzimmers fliegen.

Meli liebte es, der Kleinen zuzuhören und sie im Glauben zu lassen, dass sie nicht merkte, dass die Geschichten eigentlich von Disney stammten. Ausserdem genoss sie es, mit Lea die kleinen Kuchen in Hasenform, die es zum Nachtisch gab, mit Smarties und Zuckerguss zu dekorieren. Auch Anna und Tom waren mit viel Eifer dabei und neckten sich mit der Schokoglasur, indem sie sich die Creme auf die Nasen schmierten.

Nur Franziska verhielt sich plötzlich seltsam. Sie mied Melis Blick und war wortkarg. Als Melanie sie darauf ansprach, reagierte sie wie ein verstörtes Reh und stotterte eine unglaubwürdige Antwort vor sich hin.

Beim Abwasch packte Meli ihre Chance.

«Mom, was ist los? Und sag mir nicht, alles sei okay.»

Ihre Mutter betrachtete ihre Finger, sagte aber nichts.

«Mom! Bist du krank? Sprich mit mir!», bettelte Meli.

«Mir geht es gut, Schätzchen. Ich habe gestern im Theater zufällig eine Person getroffen und weiss nicht, ob ich mit dir darüber reden soll oder nicht.»

Endlich sah Franziska ihre Tochter an, die sich plötzlich unbehaglich fühlte.

«Mäuschen, ich habe Julia gesehen. Silvans Mutter.»

Melanie sah, dass ihre Mutter mit sich kämpfte.

«Sie möchte dich sprechen. Nach all den Jahren möchte sie endlich mit dir über den Tod ihres Sohnes reden.»

Meli musste sich am blitzeblanken Spülbeckenrand festhalten, weil ihre Knie nachzugeben drohten. Sie konnte kaum atmen und sah flackernde Sternchen vor den Augen. Sie hatte Julia eigentlich immer gemocht, hatte sogar mit ihr das Hochzeitskleid ausgesucht. Silvans Mutter hatte sie von Beginn weg in der Familie willkommen geheissen und eingebunden. Sie waren Freundinnen geworden, auch wenn Meli ihr natürlich nicht alles über die Beziehung zu ihrem Sohn anvertraut hatte. Durch regelmässige Shoppingtouren, ein paar Kaffeekränzchen zu zweit und viele Familienfeste waren sie als neue Familie zusammengewachsen. Nach Silvans Tod hatte Meli den Kontakt abgebrochen. Sie war nicht mal zur Beerdigung gefahren, hatte auf keinen Anruf und keinen Brief geantwortet. Sie konnte der Mutter ihres Fast-Ehemann aufgrund ihrer Schuldgefühle nicht in die Augen sehen.

«Hör zu, Melanie. Julia hat mir ihre Nummer mitgegeben. Sie würde sich über deinen Anruf freuen, möchte dich aber nicht drängen. Steck die Nummer ein und lass dir das Ganze durch den Kopf gehen. Vielleicht kannst du so Silvans Tod endlich verarbeiten». Franziska strich Meli sanft über den Rücken und liess sie dann alleine in der Küche zurück.

Melanie war durch diese Neuigkeit so von der Rolle, dass sie sich frühzeitig von ihrer Familie verabschiedete und in ihre Wohnung floh. Anders als ein paar Stunden zuvor kam ihr der Rückweg unglaublich lange vor. Die Unruhe, die sie in ihrem Inneren spürte, schien immer grösser zu werden und unzählige Fragen wirbelten wild in ihrem Kopf durcheinander: Wie sollte sie sich verhalten? Konnte sie Julias Bitte einfach ignorieren? Und was würde passieren, falls sie sich zu einem Treffen durchringen konnte? Weshalb wollte Julia überhaupt genau jetzt mit ihr sprechen? Machte sie Meli Vorwürfe? Wusste sie von dem Streit, der zu Silvans Tod geführt hatte?

Endlich in der Wohnung angekommen, tigerte Melanie stundenlang auf und ab, konnte keine Minute stillsitzen. Normalerweise war die Dreizimmerwohnung für sie alleine mehr als gross genug; heute fühlte sie sich aber eingeengt. Sie spürte ein tonnenschweres Gewicht auf ihrer Brust, als ob ein Lastwagen auf ihren Lungen geparkt hätte. Kalter Schweiss rann ihr über die Stirn und ihre Hände zitterten.

Sie versuchte sich durch Fernsehen und Lesen abzulenken, was aber nicht funktionierte. Die Filme, die jedes Jahr zu Ostern ausgestrahlt wurden, hatte sie alle schon gesehen. Und obwohl der vor kurzem begonnene Roman Das Jahr des Hasen sie bisher gefesselt und zum Lachen gebracht hatte, kam sie dabei nicht auf andere Gedanken.

Sie hatte immer gewusst, dass der Tag irgendwann kommen würde, an dem sie sich mit Silvans Tod intensiv auseinander setzen musste. Nicht still in ihrem Kämmerlein, sondern mit einem wahren Seelenstriptease. Meli wusste, dass sie eigentlich keine Wahl hatte: Früher oder später musste sie Julia anrufen. Das war sie Silvan und seiner Familie schuldig.

Dank zwei vollen Gläsern von Annas selbstgebrautem Eierlikör fiel Meli irgendwann auf dem Sofa in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte von ihrer Suche nach dem Osternest: Sie musste über mehrere Hindernisse klettern, Gegenstände aufheben und durch tiefen Schlamm waten, bis sie ihr Geschenk entdeckte. Im kleinen Korb mit dem grünen Kunstgras steckten aber nur ein kleines Stoffküken mit Leas Gesicht und eine Visitenkarte von Julia.

Und sie träumte vom Osterhasen

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